Franz Waldenberger über Japan

Japan baut seine Infrastruktur immer weiter aus. Und auch Großprojekte gelingen dort. Wie machen die das?




• Vor dem Bahnhof Shinagawa, dem größten Verkehrsknotenpunkt des südlichen Stadtzentrums von Tokio, sind Bagger und Presslufthammer im Einsatz. Trotz der Großbaustelle rauschen die Autos in üblichem Tempo vorbei. Auf Fußgängerbrücken überqueren jede Minute Hunderte Menschen die Straße.

Shinagawa wird der Startbahnhof des Maglev, des bald schnellsten Zugs der Welt. Von 2027 an soll er zwischen den Metropolen Tokio und Nagoya pendeln, später soll auch Osaka angebunden werden. Der Maglev schießt, von Magnetkraft gehalten, reibungslos durch eine Röhre. So erreicht er eine Geschwindigkeit von rund 600 Kilometer pro Stunde. Für die 286 Kilometer lange Strecke von Tokio bis Nagoya soll der Zug dann nur noch 40 Minuten benötigen.

Es ist eines der größten Infrastrukturprojekte der japanischen Geschichte, mit einem Investitionsvolumen von rund 60 Milliarden Euro. Nicht nur wegen der hohen Kosten haben Beobachter aus dem Ausland dieses Vorhaben immer wieder als Gigantomanie kritisiert. Denn braucht Japan, wo bereits die schnellsten Züge der Welt fahren, noch schnellere? Der 1964 eingeweihte Shinkansen erreicht die sagenhafte Geschwindigkeit von 500 Stundenkilometern. Von Tokio kommt man bisher in anderthalb Stunden nach Nagoya. Reicht das nicht?

In Japan ist die Rechnung eine andere: Von den 123 Millionen Menschen im Land lebt die Hälfte in einem der drei Ballungszentren rund um Tokio, Nagoya und Osaka. Eine zusätzliche Verbindung zwischen diesen verteilt das hohe Verkehrsaufkommen besser. Zudem erhofft man sich einen Beitrag zum Klimaschutz. Eine schnellere Zugverbindung könnte dazu beitragen, dass weniger Menschen als bisher für die kurze Strecke zwischen Tokio und Osaka das Flugzeug nehmen.

In Deutschland dagegen stocken Investitionen in die öffentliche Infrastruktur seit Jahren. Zu den offenkundigsten Folgen gehören Ausfälle und Verspätungen der Bahn. Dabei ist Deutschland ähnlich wohlhabend wie Japan. Doch während hierzulande selbst dringend notwendige Projekte brachliegen, investiert Japan weiter. Die Infrastruktur, besonders der Verkehrssektor, soll dort nicht nur auf dem hohen Niveau gehalten, sondern verbessert werden. So kommt es in Japan kaum vor, dass ein Zug ausfällt oder eine Rolltreppe nicht fährt.

Nach Angaben der OECD gibt Japan pro Jahr mehr als ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes für seine Infrastruktur aus. Deutschland liegt mit 0,8 Prozent deutlich dahinter.

Das Prinzip Kaizen

Eine Ursache dafür liegt in der japanischen Wirtschaftsgeschichte – und etwas anderen Konsequenzen aus dem verlorenen Zweiten Weltkrieg. Hier wie dort waren im Land fast alle Großstädte zerstört. Aus der Not heraus investierte Japan viel in neue Infrastruktur – und führte so eine ökonomische Boom-Periode herbei, die rund vier Jahrzehnte andauern und das Land reich machen sollte. Die bald üppigen Steuereinnahmen reinvestierte der Staat ins Stromnetz, in Krankenhäuser, Schulen, Schnellstraßen, Bahntrassen und jüngst in ein 5G-Mobilfunknetz.

Dass Projekte sowohl im zeitlichen als auch budgetären Rahmen bleiben, liegt an der japanischen Mentalität und einer lang verfolgten Nullzinspolitik der Zentralbank: Kapital für die Infrastruktur ist billig – und wird, anders als in anderen Ländern, auch gern dafür genutzt.

In Japan glaubt man an die Notwendigkeit laufender Verbesserung. Das Prinzip Kaizen ist längst in jedem Management-Handbuch zu finden. Nicht nur beim Autokonzern Toyota, wo die ständige Verbesserung ihren Ursprung haben soll, setzen viele auf das Prinzip – selbst in der öffentlichen Verwaltung beherzigt man es.

Wie sehr sich diese Haltung auf Bauprojekte auswirkt, wird im Gespräch mit Shunichi Iihashi deutlich. Er leitet bei der Tokioter Metropolregierung die Abteilung für Stadtentwicklung und koordiniert das Großprojekt um den Bahnhof Tokio-Shinagawa.

Bisher laufe alles dort nach Plan, sagt er. Aber pünktlich und innerhalb des Budgets fertig zu werden reiche nicht aus. Man müsse auch die Wege kurz halten für alle, die jeden Tag an dem Bahnhof ein-, aus- oder umsteigen – täglich schätzungsweise eine Million Menschen. „Sonst käme es angesichts der großen Menschenmengen, die sich täglich durch Tokio bewegen, anderswo zu Störungen“, sagt der Bauleiter. Deshalb lege man unter anderem Gänge mit präzisen Ausschilderungen an und werte den Menschenfluss über Kameras aus.

„In Tokio sind in den vergangenen Jahrzehnten ständig neue Verkehrsnetze gebaut worden“, sagt Franz Waldenberger, Professor für die Wirtschaft Japans an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio und ein Bewunderer japanischer Infrastrukturpolitik. „Es ist Wahnsinn, welche Großbauprojekte mitten in Tokio stattfinden“, sagt er. Zwischen den zentralen Stadtteilen Azabu-Juban und Kamiacho werde derzeit ein neues Viertel gebaut, in dem künftig 3.500 Menschen wohnen und 20.000 arbeiten sollen. „Auch da funktioniert drum herum alles ganz normal weiter.“

Für Deutschland kann sich Waldenberger derart geschmeidige Abläufe momentan schwer vorstellen. Man denke nur an den Bau einer zweiten Stammstrecke der Münchner S-Bahn, den Bahnhof Stuttgart 21 oder den Berliner Flughafen. Deutliche Verzögerungen oder enorm gestiegene Budgets wie bei jenen Projekten kommen in Japan selten vor.

Auch das hängt mit der Mentalität zusammen: Budget und Zeitrahmen zu überziehen gilt als peinlich. Und Reputation ist entscheidend, weil Japans Wirtschaftskultur auf langfristige Geschäftsbeziehungen ausgelegt ist. „Deshalb werden alle Eventualitäten berücksichtigt“, sagt Waldenberger.

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