Digitale Verwaltung in Estland

Estland ist weltweit Vorreiter bei der Digitalisierung der Verwaltung. Wie es dazu kam, und was wir davon lernen können?





• Am Anfang dieser Erfolgsgeschichte stand eine Notlage. Als Estland im Jahr 1991, nach dem Zerfall der Sowjetunion, unabhängig wurde, fehlte es dort an allem – an Kapital, an einer wirtschaftlichen Perspektive und an einer modernen Verwaltung. Es stellte sich daher die Frage, wie sich das Land so kostengünstig wie möglich aufbauen ließ.

Die kurze Antwort lautete: digital. Die Protagonisten jener Zeit waren meist junge technikbegeisterte Menschen und Politiker neuen Typs wie Siim Sikkut, später Chief Information Officer (CIO) der Regierung. Er trug entscheidend dazu bei, dass die Welt heute auf Estland schaut, wenn es um digitale Verwaltung geht.

Die Grundidee war, Dienstleistungen über das Internet einfach nutzbar und sicher zu machen. Der estnische digitale Personalausweis, 2002 eingeführt, ist heute der Schlüssel zu diesem System. Er dient als Identifikationsnachweis, Krankenkassenkarte oder Fahrkarte für den Nahverkehr. Man kann mit seiner Hilfe bei Wahlen abstimmen, Rechnungen und Steuererklärungen einreichen, Gesundheitsdaten abrufen oder Schulnoten der Kinder. Die ID-Karte, die im Smartphone hinterlegt werden kann, macht insgesamt rund 4.000 private und öffentliche Services zugänglich.

Technisch möglich ist das dank des sogenannten X-Road-Systems, das mehr als 900 öffentliche und private Datenbanken und Informationssysteme miteinander vernetzt. Es sorgt für einen reibungslosen und sicheren Datenaustausch bei strengen Zugangskontrollen. Die OECD schätzt, dass die Verwaltung des kleinen Landes mit 1,3 Millionen Einwohnern dank der Software pro Jahr mehr als 800 Arbeitsplätze in der Verwaltung einspart.

Eine wichtige Regel: In dem System soll es keine doppelt gespeicherten Datensätze geben, das ist per Gesetz ausgeschlossen. Sie werden nur einmal abgelegt, wodurch Missbrauch schneller auffällt, als wenn sie an verschiedenen Stellen vorhanden wären. Diese Verknappung der Informationen reduziert das Risiko versehentlicher Verbreitung oder unberechtigter Zugriffe. Für die Menschen ist zudem transparent, wer ihre Daten wofür nutzt, und sie müssen diese auch nur einmal herausgeben, was ihnen Zeit und Mühe spart.

Dank des sogenannten E-Resident-Programms können auch Ausländer die digitale Infrastruktur nutzen – ohne jemals in Estland gewesen zu sein. Nach der Registrierung bekommen sie eine E-Resident-Karte und können dort beispielsweise eine Firma gründen. Nach dem Brexit nutzten viele Unternehmer aus Großbritannien diese Option, um weiterhin ein Standbein in der Europäischen Union zu haben. Mittlerweile gibt es mehr als 100.000 E-Residents aus 176 Ländern in Estland, darunter ist auch der Autor.

Mit Netz und doppeltem Boden

Estland ist ungefähr so groß wie Niedersachsen und hat eine 300 Kilometer lange Grenze zum nicht freundlich gesinnten Russland. Auch angesichts dieser Nachbarschaft gehen die Esten auf Nummer sicher und unterhalten seit 2017 eine E-Botschaft in Luxemburg mit einem Back-up aller Informationen über ihre Staatsbürger auf hochgesicherten Servern. Beide Länder haben ein bilaterales Abkommen unterzeichnet, das Estland die Unverletzlichkeit der E-Botschaft und die dortige Rechtshoheit garantiert – diese hat also den gleichen Status wie eine gewöhnliche Botschaft. In einer extremen Notsituation könnte die gesamte digitale Infrastruktur von Estland von Luxemburg aus betrieben werden.

Wie wichtig Cybersicherheit ist, wissen die Esten spätestens seit 2007. Damals wurden sie Opfer einer der größten koordinierten Cyberattacken. Als Reaktion gründete die Nato in der Hauptstadt Tallinn ein Abwehrzentrum gegen solche Angriffe. Eine vergleichbare Cyberattacke im vergangenen Jahr richtete kaum Schaden an. Mittlerweile gibt es rund 1.000 staatliche Cybersecurity-Fachleute im Land, die die IT-Infrastruktur schützen.

Immer erreichbar: virtuelle Beamte

Der neueste, in Entwicklung befindliche digitale Baustein heißt Bürokratt und hat es auf die Unesco-Liste der globalen Top-KI-Projekte geschafft: Künstliche Intelligenz soll den Service der Verwaltung weiter verbessern. Der Name leitet sich von einer magischen Kreatur namens Kratt aus der Mythologie des Landes ab. Der Kratt wird dank eines Paktes zwischen seinem Herrn und dem Teufel lebendig und erledigt dann alle Arbeiten, die ihm befohlen werden. So ähnlich soll auch Bürokratt funktionieren: ein virtueller Assistent, der einem jederzeit zur Verfügung steht – und der einen auch selbstständig zum Beispiel an Termine wie die Verlängerung des Ausweises erinnert.

Der größte Vorteil der Technik ist laut Siim Sikkut, dass sie keine besonderen Fähigkeiten voraussetzt, da sie „im intuitivsten Kommunikationsmodus funktionieren wird, der Sprache nämlich“. Künftig soll der Bürokratt als einzige Anlaufstelle fungieren, unabhängig von den verschiedenen beteiligten Behörden, so Sikkut. „Künstliche Intelligenz kann die Dienstleistungen persönlicher gestalten, indem sie die Bedürfnisse und Vorlieben der Bürgerinnen und Bürger versteht.“

Die Voraussetzung für all diese digitalen Services ist das Vertrauen der Bürger in den Staat als Hüter ihrer Daten. Gestärkt werden soll es durch Transparenz: So können Beamte nur auf Informationen zugreifen, die für sie bestimmt sind, und die Bürger im Gegenzug jede Abfrage – zum Beispiel des Kfz-Kennzeichens durch die Polizei – einsehen und nachverfolgen. Missbräuchliche Zugriffe werden geahndet und können sogar zu Berufsverboten führen.

Daten aus der Intimsphäre wie etwa solche in der Krankenakte können von den Menschen selbst gesperrt werden. Das gesamte System funktioniert nach dem Grundsatz der Datensparsamkeit. Das heißt, dass bei behördlichen Anfragen nur unbedingt notwendige personenbezogene Daten offenbart werden müssen und eine Datenbank zum Beispiel auf die Frage, ob jemand verheiratet ist, nur mit Ja oder Nein antworten kann – nicht aber den Namen des Ehepartners nennt.

Dass die Esten diesem System vertrauen, zeigt sich unter anderem daran, dass bereits mehr als 200.000 von ihnen ihre DNA für eine Bio-Datenbank zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt haben. Außerdem sollen Bürgerinnen und Bürger mehr als 350.000 Einwilligungen dafür erteilt haben, dass der Staat ihre Daten zur Entwicklung privater Dienstleistungen weitergeben darf.

Die Digitalisierung ist zu einem Markenzeichen und einer bedeutenden Einnahmequelle des Landes geworden, das außer über viel Wald und Ölschiefer über keine bedeutenden Rohstoffvorkommen verfügt. „Wenn Estland eine Chance in der Welt hat“, so Sikkut, „dann in der digitalen Welt.“ Die hat man genutzt. Mit knapp 1.500 Start-ups gibt es dort mittlerweile die meisten pro Einwohner in Europa. Und auch mit seinen zehn Einhörnern – junge Unternehmen, die mit mehr als einer Milliarde Euro bewertet werden – liegt Estland pro Kopf auf Platz eins weltweit.

1 Politischer Wille und politische Führung
2 Nutzerorientierung und Anwenderfreundlichkeit
3 Starke digitale Identität
4 Zusammenarbeit des öffentlichen und des privaten Sektors
5 Daten werden nur einmal staatlich abgefragt und gespeichert
6 Schnelles, flächendeckendes Internet
7 Kein Digitalzwang: Alle Verwaltungsdienstleistungen können weiterhin analog genutzt werden

Warum kompliziert, wenn es einfach geht?

Die Bundesrepublik unterscheidet sich in Größe, Geschichte, Kultur und föderaler Struktur stark von Estland. Dennoch können die Verantwortlichen hierzulande von den Erfahrungen bei der dortigen Verwaltungsdigitalisierung lernen. Zumal beide Staaten als EU-Mitglieder demselben Rechtsrahmen unterliegen, zum Beispiel beim Datenschutz.

Die wichtigsten Lehren aus Estland: Es braucht ein klares Gesamtkonzept, schnelles Internet und eine einheitliche technische Infrastruktur. In Deutschland sind im Laufe der Jahre in den Behörden viele unterschiedliche IT-Systeme mit entsprechenden Datensilos entstanden, die nicht miteinander verknüpft sind.

Beispielhaft für die Misere ist die Finanzverwaltung, die ihre Dienste schon weitgehend digitalisiert, dabei aber grundlegende und typisch deutsche Fehler gemacht hat. Erstens war die sogenannte Elster-Plattform weniger an den Bedürfnissen der Bürger als an denen der Verwaltung orientiert. Zweitens wurde die Chance zum Bürokratie-Abbau vertan, da die Verwaltungsprozesse zwar digitalisiert, aber zuvor nicht neu gedacht und entschlackt wurden. Drittens lässt sich diese Insellösung nur sehr schwer auf andere Teile des öffentlichen Dienstes übertragen, was derzeit aber dennoch versucht wird.

Die Alternative wäre, Verwaltungs-Software zu kaufen, zum Beispiel in Estland, und an die hiesigen Verhältnisse anzupassen. Die IT-Infrastruktur X-Road gibt es mittlerweile als Open-Source-Software, sie wird unter anderem von Finnland, Japan, Island, Mexiko und Argentinien genutzt. Ole Behrens-Carlsson, Vorstandsvorsitzender von der Nortal AG, einem Unternehmen, das auf diesem Gebiet tätig ist, sagt: „Man kann sich das föderale Deutschland vorstellen wie viele kleine Estlands. Theoretisch könnten Hunderte X-Roads zusammenarbeiten.“

Deutsche Regierungen setzen jedoch lieber auf Großprojekte, die bekanntermaßen des Öfteren scheitern – nach mehreren Milliarden Euro an verbrannten Entwicklungs- und Einführungskosten. Man denke nur an das gescheiterte Maut-Projekt in Deutschland, die elektronische Gesundheitskarte, den eingestellten E-Brief, das E-Rezept oder den elektronischen Einkommensnachweis. Zum Vergleich: Die Entwicklung des Systems der X-Road im Jahr 2001 kostete schätzungsweise 360.000 Euro, die geplatzte Pkw-Maut dagegen mehr als 240 Millionen Euro.

Technik allein löst allerdings kein Problem – sie muss von den Bürgerinnen und Bürgern auch akzeptiert werden. So gibt es hierzulande zwar eine Online-Ausweisfunktion, allerdings wird die kaum genutzt. Das könnte sich ändern, wenn die E-Identität echte Vorteile brächte, weil sie Zeit und Wege spart – und wenn die Menschen mit einer Werbekampagne darauf aufmerksam gemacht würden. Ein persönlicher Behördenbesuch dauert laut dem Branchenverband Bitkom im Schnitt 2,5 Stunden. Eine weitere Lehre aus Estland: Digitale Zugänge sollten nicht verpflichtend sein, sondern es sollten zumindest für eine Übergangszeit auch die analogen Wege offen gehalten werden. Das trägt zur Akzeptanz der neuen Technik bei.

Ein Erfolgsfaktor in Estland war ein enger Austausch zwischen Staat und Wirtschaft. So war Taavi Kotka, Siim Sikkuts Vorgänger auf dem Posten des Regierungs-CIO, zuvor Mitgründer eines großen IT-Anbieters und Softwareentwicklers – und hat nach seiner politischen Karriere wieder ein Unternehmen gegründet. Diese Durchlässigkeit ist für das junge Land typisch, wenige planen mit einer lebenslangen Beschäftigung beim Staat.

In Estland können Beamte auch von einem Tag auf den anderen entlassen werden. Kein Vergleich zu den Verhältnissen hierzulande mit 1,75 Millionen lebenslang verbeamteten Staatsdienern.

Als großes Entwicklungshemmnis gilt neben diesem Apparat die große Zahl von Vorschriften. Dennoch ist Bürokratie-Abbau kein Allheilmittel. Zu diesem Ergebnis kam das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Entscheidend ist demnach nicht die Zahl der Vorschriften, sondern wie gut öffentliche Verwaltungen diese vor Ort umsetzen.

In EU-Regionen mit sehr gutem öffentlichen Dienst entwickeln sich schnell wachsende Unternehmen trotz hoher Regulierungsdichte positiv, etwa in Schweden. Ineffiziente Verwaltungen hingegen potenzieren die negativen Auswirkungen einer hohen Regulierungsdichte. Es lohnt sich also, daran zu arbeiten.

An sich ist das auch beschlossene Sache. Das Online-Zugangsgesetz von 2017 hat Behörden verpflichtet, 575 Verwaltungsleistungen – vom Elterngeld bis zur Meldebescheinigung – bis Ende vergangenen Jahres zu digitalisieren. Passiert ist bislang wenig. Das liegt an unterschiedlichen Zuständigkeiten, Interessen und IT-Infrastrukturen in Ländern und Kommunen, fehlenden Standards und mangelnden Konsequenzen für Behörden, wenn sie Fristen überschreiten. Letztlich entscheidend ist aber der politische Wille.

Viele Politiker, darunter auch der Bundeskanzler Olaf Scholz, loben Estland als Vorbild für Deutschland in Sachen Digitalisierung. Konsequenzen hat das aber nicht – im Gegenteil. Die Bundesregierung hat angekündigt, das Budget für die Verwaltungsdigitalisierung von 377 Millionen Euro in diesem Jahr auf 3,3 Millionen im kommenden Jahr zu reduzieren.

Die Folgen der über Jahrzehnte verschlafenen Digitalisierung sind mittlerweile offensichtlich, besonders für regelmäßige Besucher aus dem Ausland. Siim Sikkut fühlt sich an ein Museum erinnert. Irritierend sei, „dass vielerorts nur Bargeld akzeptiert wird. Das geringe Vertrauen in den Staat. Die geringe Bereitschaft, Dinge auszuprobieren, einfach irgendwo anzufangen, etwaige Mängel im Betrieb zu beheben, Dinge nicht von vornherein auszuschließen.“

Diese Art zu leben müsse man sich leisten können, sagt er. Das sei „ein Luxus, den Estland nicht hatte“. ---

Jan Schnedler, 46, ist Anwalt und für das Artificial Intelligence Center Hamburg tätig. Dieser im September 2019 gegründete Verein soll das wissenschaftliche und ökonomische Know-how zu KI in der Metropolregion Hamburg bündeln. Jan Schnedler verknüpft mit dem KI-Zentrum Universitäten, Unternehmen und Verwaltungen aus Estland und Deutschland.