Falle Vorurteil

Das Klinikum Stuttgart machte korrupte Deals mit Libyen und Kuwait. Ließen sich die Verantwortlichen darauf ein, weil sie meinten, das Bestechung in diesen Ländern üblich sei?




Stuttgart, 5. Dezember 2023. Andreas Braun kommt in den Saal und steuert den Platz vorn rechts vor dem Richtertisch an. Die Kameras richten sich auf ihn, den Mann, der fast alle im Raum überragt. Seine kahle Stirn liegt in Falten. Die Staatsanwaltschaft sitzt ihm gegenüber, hinter ihm vier ehemalige Kolleginnen mit ihren Verteidigern. Fast zweieinhalb Stunden verlesen drei Ankläger die Anklageschrift. Betrug, Untreue, Bestechung und Bestechlichkeit lauten die Vorwürfe. Taten, Termine, Transaktionen minutiös aufgeführt – die Stimme der Oberstaatsanwältin Ulrike Unterlöhner bricht mehrmals ab.

Auslandsgeschäfte mit Libyen und Kuwait sollten dem Klinikum Stuttgart vor rund zehn Jahren aus dem Defizit heraushelfen. Kriegsversehrte Patienten aus Libyen in Deutschland zu behandeln und deutsche Ärzte als Operateure und Berater an das Al-Razi-Krankenhaus in Kuwait zu entsenden, das passte zum Zeitgeist. Seit Ende der Neunzigerjahre bauten führende deutsche Kliniken das internationale Geschäft aus und versprachen sich davon einen Geldregen. Bis ins Jahr 2015 schien die Rechnung in Stuttgart aufzugehen. Die 2008 gegründete Abteilung International Unit galt als Cashcow des städtischen Klinikums. Doch dann ging das Geschäft nach hinten los.

Am Landgericht Stuttgart geht es nun um mehr als 60 Millionen Euro Auftragsvolumen und insgesamt 15 Beschuldigte (siehe Seite 87). Die Vorwürfe betreffen eine Entourage an Vermittlungsagenturen, pauschale Provisionen, überhöhte, trügerische und fehlende Abrechnungen, Nebenabreden, beschönigte Lebensläufe, Schmiergeldzahlungen in Millionenhöhe und mehr.

Das Klinikum Stuttgart ist mit korrupten Deals in der Gesundheitsbranche nicht allein, dürfte aber das Zeug zu einem Worst-Practice-Beispiel haben. Im Korruptionswahrnehmungsindex 2023 von Transparency International belegt Deutschland Rang 9, Kuwait Rang 63 und Libyen Rang 170 von 180 Ländern. Vor zehn Jahren war es ähnlich. Hat die Erwartung, dass Schmieren bei den Geschäftspartnern an der Tagesordnung sei, die Verantwortlichen in Deutschland bei ihren Entscheidungen beeinflusst?

Andreas Braun, 60, ist kein Mensch, der die Öffentlichkeit scheut, keiner, der betreten nach unten schaut oder andere für sich sprechen lässt. Der ehemalige Leiter der International Unit war von 1999 bis 2006 Landesvorsitzender der Grünen in Baden-Württemberg, ein Teilzeitjob, den er neben anderen machte. Er kommt aus einer Handwerker-Familie, machte Abitur in Göppingen und studierte in den Achtzigern Evangelische Theologie in Tübingen. Dann kam Tschernobyl, und der Wunsch mit den Grünen die Welt zu verändern, war ihm wichtiger, als das Studium zu beenden.

Nach Stationen bei der Gewerkschaft ÖTV, die in Verdi aufging, und dem DGB übernahm Braun 2005 die Stabsstelle Kommunikation und Marketing am Klinikum Stuttgart, von 2008 bis 2016 leitete er die International Unit. Nach Bekanntwerden der Skandale musste er gehen. Im Jahr 2018 saß der dreifache Vater fünf Monate in Untersuchungshaft in Stammheim, jener Justizvollzugsanstalt, die seit der Inhaftierung führender RAF-Mitglieder in den Siebzigern bundesweit bekannt ist. Als die Parteifreunde, ihrerseits regierend in Stadt und Land, ihn dort allein ließen, trat Braun aus der Partei aus.

Vor Gericht sitzt er aufrecht. Sein Blick wandert offen durch den Saal. Während die Staatsanwälte die Anklage verlesen, wird seine Gesichtsfarbe rötlicher. Er möchte zur Sache selbst Stellung nehmen, teilt sein Verteidiger mit – und das wird er am Nachmittag auch tun. „Es geht mir um die Würde“, sagt Braun nach seinem vierten Prozesstag in einem Café in Stuttgart, „ich bin kein Opfer, kein Leiden Christi.“ Er hat sich entschieden, zur Aufklärung beizutragen. Grüne seien nicht besser und nicht schlechter als andere Menschen. Die Moral wie eine Monstranz vor sich herzutragen sei nie sein Stil gewesen.

Was ist passiert? Ein exemplarischer Rückblick auf zwei folgenreiche Tage in Kuwait, mit denen sich das Gericht beschäftigt hat.

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