Editorial

Was tun? Was tun.

• Dass die Zeiten verwirrend sind, muss ich vermutlich nicht betonen. Aber ich will erzählen, wie sich diese Verwirrung auf unseren Schwerpunkt ausgewirkt hat.

Foto: André Hemstedt & Tine Reimer


Die schlechte Stimmung und die multiplen Krisen haben auch uns aufs Gemüt geschlagen, und wir haben überlegt, was man dagegensetzen kann. Unsere Antwort: Engagement. Und zwar dort, wohin wir vor lauter Homeoffice und Videokonferenzen kaum noch kommen: vor der Tür. Dort warten nicht nur echte Menschen, sondern auch gute Gelegenheiten. Und beides hilft gegen das Gefühl, ohnmächtig und ausgeliefert zu sein.

Nur den übergeordneten Begriff haben wir nicht gleich gefunden und den Schwerpunkt deshalb „Nähe“ genannt – eine Entscheidung mit Folgen. Nähe, so stellten wir fest, ist ein Begriff, der Assoziationen auslöst. Und weil wir gern hin- und herdenken, waren wir schnell beim Thema Einsamkeit, bei der Frage, was sie in der Single-Nation Japan oder im (vermeintlich) familienorientierten Griechenland bewirkt. Oder bei Menschen, die sich Nähe wünschen, sie aber nur schwer finden, weil sie nicht hier geboren sind. Daraus sind so wichtige Geschichten entstanden, dass wir unsere ursprüngliche Idee erweitert haben. Denn im Grunde gehört es sowieso zusammen: Um vor der Tür zu finden, wofür man sich einsetzen will, darf man keine Angst vor der Begegnung mit anderen haben.

Stefano Caccavari hat noch nicht einmal Angst vor der Mafia, die in seiner Heimat Kalabrien den Ton angibt. Tatsächlich träumte er von einer Karriere im Silicon Valley, aber die Kämpfe gegen eine Mülldeponie und um einen Freund hielten ihn in der Heimat, und er fand seine eigentliche Bestimmung. Mit einer Mühle plus Bäckerei zeigt er heute, wie Wirtschaft eine Region verändern kann. Und auch wenn der Betrieb noch klein ist – die Signalwirkung ist groß.

Das gilt auch für die Initiative von Nicolas Barthelmé. Der fand vor ein paar Jahren im Kühlschrank seiner Mutter in Frankreich eine Milchtüte mit der Aufschrift: „C’est qui le patron?!“ Dahinter wiederum steht Nicolas Chabanne, der seit 2016 den französischen Milchbauern zu einem besseren Preis verhelfen will. Barthelmé übernahm die Idee für Deutschland, „Du bist hier der Chef!“ wächst und gedeiht, dem Widerstand der großen Lebensmittelkonzerne zum Trotz.

Zusammenzurücken und sich für andere einzusetzen hilft, wenn die Welt aus den Fugen gerät. Das zeigt der Erfolg des französischen Mecanic Vallée, dafür stehen aber auch Ben Luca Mäder, der ein Freiwilligenjahr im Kindergarten verbringt, und die spät berufene Unternehmerin Gisela-Elisabeth Winkler. Distanz ist vor allem dann ein Geschäft, wenn man wie der Telemedizin-Pionier Medgate eine Idee hat, sie zu überwinden.

In jedem Fall lohnt es sich, vor die Tür zu gehen. Dort ist erstaunlich viel los. Und es gibt viel zu tun. ---

Gabriele Fischer, Chefredakteurin