Du bist hier der Chef!

Sind Menschen bereit, mehr für Lebensmittel zu zahlen, wenn sie die Produkte mitgestalten können? Die Erfahrungen einer Initiative sprechen dafür.





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• Weidehaltung: kostet sechs Cent. Regional hergestelltes Futter: plus vier Cent. Die Landwirte bekommen so viel Geld, dass sie in ihren Hof investieren können: verteuert den Liter Milch um 27 Cent.

Die Internetseite der Initiative „Du bist hier der Chef!“ legt dar, was beim Einkaufen normalerweise im Verborgenen bleibt: warum das Produkt so teuer ist, wie es ist und wie viel der Landwirt daran verdient.

Nicolas Barthelmé, 49, Gründer der Initiative, möchte Kunden mehr Kontrolle über ihre Ernährung ermöglichen. Zu diesem Zweck bietet er nicht nur Preistransparenz, sondern vermarktet außerdem eigene Produkte, über deren Herstellung die Verbraucher mittels Abstimmung entscheiden.

Dieses Prinzip könnte im Lebensmittelmarkt viel verändern, gäbe es nicht einige große Hindernisse.


Der Initiator: Nicolas Barthelmé bringt Kunden, Hersteller und Handel zusammen

Die Geschichte von „Du bist hier der Chef!“ beginnt im französischen Ort Jurançon. Nicolas Barthelmé ist damals Marketingchef beim Käsehersteller Savencia in Wiesbaden. Eines Tages besucht er seine Eltern und entdeckt im Kühlschrank eine blaue Milchtüte mit der Aufschrift: „Diese Milch sichert den Landwirten einen fairen Preis.“ Seine Mutter erzählt ihm, dass sie die Milch im Supermarktregal gesehen und sich bewusst dafür entschieden hat, weil sie eine auskömmliche Bezahlung der Landwirte wichtig finde.

Die Marke heißt „C’est qui le patron?!“, auf Deutsch „Wer ist der Chef?“. Der Name wirft eine Grundsatzfrage auf: Wer sollte eigentlich darüber entscheiden, welche Lebensmittel im Regal stehen, wie sie produziert werden und wie viel sie kosten? Industrie und Handel, die daran verdienen, oder die Menschen, die sie konsumieren?

Nicolas Barthelmé ist ein in Deutschland lebender Franzose, der seit 20 Jahren in verschiedenen Nahrungsmittelunternehmen tätig ist. Die Entdeckung im Kühlschrank seiner Mutter macht ihn neugierig. Er nimmt Kontakt zu „C’est qui le patron?!“ auf.

Im Juni 2019 gründet er im hessischen Geisenheim mit acht Gleichgesinnten den deutschen Ableger. „Du bist hier der Chef!“ besteht aus zwei Teilen: einem gemeinnützigen Verein und einer Unternehmergesellschaft. Der Verein bindet Kundinnen und Kunden ein, kontrolliert die Produkte und ist das Sprachrohr der Initiative. Die Unternehmergesellschaft entwickelt Fragebögen, schließt die Verträge mit den Geschäftspartnern ab und koordiniert die Vermarktung. Dafür behält sie fünf Prozent des Verkaufspreises von jedem Produkt. Barthelmé führt beide Einheiten, drei Mitarbeiterinnen kümmern sich um Produktentwicklung, die Community und den Vertrieb. Die gemeinnützige Famtastisch Stiftung fördert die Initiative.

Im Dezember 2019 stellt „Du bist hier der Chef!“ den Milch-Fragebogen ins Internet. Der Basispreis ist fix, alle Extras wie Bio oder Weidehaltung führen zu Aufschlägen. Die Mehrheit aller, die den Fragebogen ausfüllen, entscheidet, welche Anforderungen gelten sollen. „Nur beim fairen Preis für die Landwirte behalten wir uns ein Vetorecht vor. Denn: Milch zu schlechten Preisen gibt es schon, dafür braucht es uns nicht“, sagt Barthelmé.

Auf dem Milchmarkt herrscht ein harter Preiskampf. Zwischen 2010 und 2023 haben in Deutschland knapp 42.000 Betriebe aufgegeben, Jahr für Jahr sinkt die Zahl der milchproduzierenden Höfe um vier Prozent. Wer überleben will, muss in aller Regel auf Masse setzen.

Anders als in üblichen Geschäftsbeziehungen weiß ein Milchbauer bei Lieferung seines Produktes nicht, wie viel er dafür bekommt. Die Molkerei garantiert ihm zwar die Abnahme – was sie für die Milch zahlt, erfährt der Landwirt jedoch erst Wochen später. Die Preise werden von den internationalen Märkten bestimmt. Die Molkereien versuchen, ihre Ware möglichst teuer zu verkaufen. Läuft das gut, verdienen auch die Landwirte ordentlich. Oft läuft es allerdings nicht gut.

Barthelmé trommelt Ende 2019 im Internet für seine Idee, und binnen drei Monaten stimmen 9.300 Menschen über ihre Wunschmilch ab. Ergebnis: Die Mehrheit will Frischmilch, die von Weidekühen kommt, die mit regionalem Futter gefüttert werden. Außerdem soll der Landwirt einen Teil des Einkommens in seinen Hof investieren können. Dafür ist man bereit, 1,45 Euro für den Liter zu zahlen – ein Preis am oberen Ende des üblichen Spektrums.

Die Folge: Der Landwirt Sven Lorenz muss Land dazupachten, um die geforderten 1.000 Quadratmeter Weidefläche pro Tier gewährleisten zu können. Er betreibt einen Bio-Milchhof im hessischen Vöhl und ist von der ersten Stunde Mitglied der Initiative. „Mich reizt die Transparenz“, erklärt er. „Wir brauchen den direkten Kontakt zwischen Erzeugern und Kunden. Nur so entstehen Vertrauen und das Verständnis dafür, was die Herstellung unseres Produktes kostet.“

Die Initiative findet mit der Upländer Bauernmolkerei in Hessen und der Meierei Horst in Schleswig-Holstein Partner, die bereit sind, die Milch nach ihren Wünschen zu produzieren. Rewe, Hit, einige Edeka-Einzelhändler und Bioläden nehmen sie ins Sortiment. Später folgen Abstimmungen über Eier und Kartoffeln, aktuell geht es bei der Initiative um Äpfel. Insgesamt 38.500 Stimmen wurden bislang abgegeben.

Aus den Eiern wurde nichts, Milch und Kartoffeln der Chef-Initiative gibt es heute in rund 400 Supermärkten.

Wer möchte, kann für einen Euro Beitrag Mitglied im Verein werden und bei der Entwicklung der Produkte oder den regelmäßigen Qualitätskontrollen auf den Höfen teilnehmen. Rund 1.200 Leute nutzen diese Möglichkeit. Barthelmé nimmt einzelne Vereinsmitglieder sogar zu Gesprächen mit Partnern aus dem Handel mit: „Es macht einen Unterschied, ob ich erzähle, was Verbraucher haben wollen, oder ob ein Einkäufer seine eigenen Kunden mit am Tisch sitzen hat“, sagt er.

Der Handel – das ist die harte Nuss, die es zu knacken gilt. In Deutschland dominieren die vier Konzerne Edeka, Rewe, Aldi und die Schwarz-Gruppe mit Lidl den Lebensmitteleinzelhandel; sie teilen sich, gemessen am Absatz, mehr als 85 Prozent des Marktes und bestimmen maßgeblich Angebot und Preise. Die Hersteller zahlen viel Geld, damit ihre Produkte gelistet werden, sie beteiligen sich an Werbekosten und Sonderaktionen der Händler. „Du bist hier der Chef!“ macht da nicht mit – und hat es daher schwer, in die Supermärkte zu kommen.

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Die Rolle des Preises

Rewe führt die Chef-Milch seit 2020 im Sortiment, sie steht im Regal von rund 250 Supermärkten in Hessen und Hamburg. Der Verkauf liege im Vergleich zu anderen Marken im Mittelfeld. „Das ist ganz ordentlich, wir sind zufrieden“, sagt Daniel Käding, Einkaufsleiter bei Rewe für die Region Mitte. Trotzdem listet das Unternehmen die Chef-Milch nur in ausgewählten Supermärkten. „Produkte, die im Vergleich zu anderen etwas teurer sind, tun sich an manchen Standorten schwerer“, erklärt Käding. „In Deutschland werden Waren stark über den Preis verkauft.“

Es ist eine oft wiederholte Kritik des Handels: Die Leute forderten in Befragungen zwar regelmäßig eine faire Entlohnung der Landwirte und Tierwohl. Am Ende kauften sie aber doch das billige Produkt. Dieser sogenannte Consumer-Citizen-Gap ist in der Wissenschaft vielfach belegt. Allerdings können Kundinnen und Kunden bislang nur selten erkennen, ob der Mehrpreis bei einem Produkt den Landwirten und den Tieren zugutekommt oder ob davon etwa teure Werbung finanziert wird. Barthelmé ist überzeugt: Wenn Menschen wissen, wohin ihr Geld fließt, sind sie bereit, mehr zu zahlen. Manchmal fehlen nur wenige Cent pro Produkteinheit, damit Landwirte von ihrer Arbeit leben könnten.

Als die Energiepreise im Frühjahr 2022 in die Höhe schossen, schlugen die Landwirte Alarm. Unter diesen Bedingungen könnten sie die Chef-Milch nicht mehr in vorgegebener Qualität zum festgelegten Preis produzieren. Sven Lorenz traf sich mit Kunden und listete auf, was die Kostensteigerungen für ihn bedeuten. Die Initiative stellte die Zahlen ins Internet. Anschließend fragte sie die Community: Wollt ihr mehr für die Milch bezahlen oder die Standards senken? Die Mehrheit stimmte für eine Preiserhöhung von 14 Cent, seit September 2022 kostet die Chef-Milch 1,59 Euro. Damit war sie zeitweise die teuerste Milch im Regal. Sie verkaufte sich trotzdem, sogar besser als zuvor – was für Barthelmés These spricht.

Der Wirtschaftswissenschaftler Ignas Bruder sieht weitere Erfolge neben den Verkaufszahlen. Er erforscht an der Hertie School in Berlin, welchen Beitrag soziale Unternehmen zur Stärkung der Demokratie leisten können, und beobachtet aus diesem Blickwinkel Barthelmés Initiative. Bemerkenswert findet er besonders das Verbrauchervotum für Kartoffeln.

Denn die Kunden wählten per Fragebogen eine ungewöhnliche Kombination. Einerseits entschieden sie sich für Bio und regionalen Anbau und damit für das klassische Premium-Segment. Andererseits fand die Mehrheit es völlig in Ordnung, wenn Kartoffeln in einem Sack unterschiedlich groß sind, ungewaschen verkauft werden und kleine Schönheitsfehler haben – im Premium-Segment eigentlich undenkbar. „Ein solches Produkt gäbe es normalerweise nicht im Supermarkt zu kaufen“, sagt Bruder.

Vor allem nicht zu diesem Preis. Üblicherweise schwankt der Kartoffelpreis stark: Frisch nach der Ernte sind Kartoffeln teuer, im Jahresverlauf werden sie billiger. Die Chef-Kartoffeln kosten dagegen immer gleich viel – was den Landwirten entgegenkommt. Kurz nach der Ernte gehören sie damit trotz Bioqualität und fairer Bezahlung zu den billigen Kartoffeln im Supermarkt. Nach einigem Hin und Her ließen sich einzelne Händler darauf ein. „Damit ist es einem kleinen Player gelungen, die Preisbildungslogik zu beeinflussen“, erläutert Ignas Bruder.

Menschen, die sich Gedanken über die Herkunft der Lebensmittel machen, scheint das Konzept anzusprechen. Den Aufpreis akzeptieren sie. „Sobald die Zusammenhänge transparent sind, gehen die Verbraucher hier teilweise mit“, sagt Holger Thiele, Professor für Agrarökonomie und Statistik an der Fachhochschule Kiel. „Sie wollen sicher sein, dass ihr Geld wirklich beim Landwirt ankommt.“

Diese Transparenz schreckt jedoch viele Handelsunternehmen ab. Der Wettbewerb ist hart, die Unternehmen beäugen einander genau. Senkt ein Händler die Preise, ziehen die anderen mit hoher Wahrscheinlichkeit nach. Milch spielt eine wichtige Rolle. Sie muss regelmäßig nachgekauft werden, zieht die Menschen in die Läden. „Einige Händler sagten uns: Solange die unverbindliche Preisempfehlung auf der Packung steht, nehmen wir die Produkte nicht“, erzählt Barthelmé. Die Chef-Produkte sind daher nur regional in ausgewählten Supermärkten verfügbar.

Will Nicolas Barthelmé wirklich erfolgreich sein, muss es gelingen, viel mehr Produkte in viel größerer Stückzahl zu verkaufen. Darauf zielt die neue Strategie. Künftig will die Initiative Handelsunternehmen anbieten, die Wünsche der Verbraucher zu deren Eigenmarken einzuholen – die Produzenten könnten sie dann entsprechend gestalten. Diese Handelsmarken spielen eine immer wichtigere Rolle für die Unternehmen. Sie versuchen darüber, Kunden an sich zu binden.

Wenn nun die Verbraucher per Fragebogen selbst über die Gestaltung der Produkte bestimmen dürften, kämen sie nicht mehr wegen der billigen Milch in die Läden, sondern wegen des Sortiments, das genau ihren Vorstellungen entspreche – so Barthelmés Kalkül.

Der Agrarökonom Thiele findet den Ansatz charmant. Allerdings sei der Wettbewerb unter den Eigenmarken groß, der Handel werde sich kaum reinreden lassen. „Aber warum nicht eine zusätzliche Reihe etablieren, die von Verbrauchern kreiert wird? Das wäre für die Unternehmen ein enormer Imagevorteil.“ ---


Das Produkt: hier eine Tüte im Riesenformat für Werbezwecke (l.)
Der Produzent: Milchbauer Sven Lorenz aus Vöhl  (r.)

Das französische Vorbild

Die Initiative „C’est qui le patron?!“ gibt es seit 2016. Damals stand in Frankreich eine ganze Milcherzeuger-Gemeinschaft vor der Pleite. In ihrer Verzweiflung bat sie öffentlich um Unterstützung. Nicolas Chabanne, der Kopf hinter der Initiative, fragte die Landwirte, wie viel sie an der gelieferten Milch verdienen müssen, um davon leben zu können. Er recherchierte bei Molkereien und im Handel und entwarf auf Basis dieser Informationen den ersten Fragebogen. Nach zwei Wochen hatten knapp 8.000 Menschen abgestimmt.

Carrefour, einer der führenden Lebensmittelhändler in Frankreich, verpflichtete sich, die Milch unter der Marke „C’est qui le patron?!“ zum festgelegten Preis zu vertreiben. Von da an lagen die schlichten blauen Packungen mit der großen weißen Aufschrift landauf, landab in den Läden.

Die Medien berichteten, die Aufmerksamkeit war riesig, andere Händler wie Leclerc, Auchan und auch Lidl Frankreich zogen nach. Im ersten Jahr verkaufte die Initiative mehr als 30 Millionen Liter Chef-Milch. Inzwischen gibt es 17 Produkte, unter anderem Butter, Eier, Apfelsaft und Schokolade. Die Idee verbreitet sich.

Die Initiative hat Ableger in Belgien, Griechenland, Italien, Marokko, Spanien, Großbritannien, den USA, den Niederlanden und in Deutschland.