Bildung
„Aktuell erleben wir eine Überforderung des Systems“
Seit dem Pisa-Schock im Jahr 2000 wird in deutschen Schulen so viel gemessen wie nie zuvor – trotzdem sind die Leistungen schlechter geworden. Woran liegt das? Zwei Bildungsforscher geben Antworten.
• Hans Anand Pant, 61, ist Professor für Erziehungswissenschaftliche Methodenlehre an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet die Abteilung Fachbezogener Erkenntnistransfer am Leibniz-Institut für Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik. Er ist ein Verfechter sogenannter Vergleichstests wie Pisa oder Vera.
Bei diesen Tests geht es nicht darum, die Schülerinnen und Schüler zu benoten, sondern darum, Erkenntnisse über das Bildungsniveau bestimmter Altersstufen im nationalen und internationalen Vergleich zu gewinnen.
brand eins: Herr Pant, beim ersten Pisa-Test im Jahr 2000 waren die Schülerinnen und Schüler in Deutschland im europäischen Vergleich allenfalls Mittelmaß. Der jüngste Test im Jahr 2022 fiel hierzulande noch schlechter aus, vor allem in den Naturwissenschaften. Was bringen solche Vergleichstests, wenn daraus offenbar keine Lehren gezogen werden?
Hans Anand Pant: Ich beschäftige mich schon seit Jahrzehnten mit standardisierten Bildungstests, habe auch zahlreiche mitentwickelt – und bin überzeugt: Sie sind das Beste, das wir haben. Wir verdanken ihnen Erkenntnisse über die Qualität unseres Bildungssystems, die wir ohne die Tests nicht hätten. Viel zu lange schaute man nur auf das Geld, das man in das System steckte. Wurde das mehr, ging man davon aus, dass sich die Bildung hierzulande auf einem hohen Niveau befindet.
Als Studien in den Sechzigerjahren darauf hinwiesen, dass das nicht der Fall ist, hat dies niemand ernst genommen – die Wissenschaft nicht, die Politik nicht und auch nicht die breite Öffentlichkeit. Die Stunde null ist der Pisa-Test 2000. Seitdem beurteilen wir Bildung nicht mehr allein nach dem In-, sondern auch nach dem Output – also danach, ob konkrete Lernziele auch erreicht werden.
Welche Erkenntnisse verdanken wir den Pisa-Tests?
Es gibt drei Hauptbefunde: Erstens ist das allgemeine Bildungsniveau für eine Industrienation wie Deutschland in allen Fächern zu niedrig. Zweitens ist der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft zu groß. Drittens ist die Leistungsspitze im Vergleich mit anderen Ländern wenig ausgeprägt.
Warum ist in den zwei Jahrzehnten seit dem ersten Pisa-Test so wenig erreicht worden?
Wenn Sie im Bildungsbereich Veränderung wollen, müssen Sie diese in Deutschland an mehr als 30.000 allgemeinbildenden Schulen umsetzen. Das ist wahnsinnig komplex. Es geht nicht um die einzelne Schülerleistung, es geht um das System. Aktuell erleben wir eine Überforderung des Systems. Wir müssen Basisqualifikationen sichern, etwa beim Spracherwerb. Da verfügen wir über viele gut evaluierte Modelle, nur kennt die niemand an den Schulen.
Woran liegt das?
Der Transfer von Forschungsergebnissen hin zur Anwendung in den Schulen ist bislang nicht gelungen. Wir müssten allgemein die Frage, warum die jüngsten Pisa-Ergebnisse so schlecht waren, genauer analysieren und konkrete Maßnahmen diskutieren. Andere Länder haben dafür Gremien oder Thinktanks geschaffen. In Deutschland ist die Analyse schon deshalb schwierig, weil sich kaum ein Berufsstand so sehr gegen Kritik wehrt wie Lehrerinnen und Lehrer.
Will man auf nationaler oder internationaler Ebene die Leistungen von Schülerinnen und Schülern vergleichen, setzt das voraus, dass alle den gleichen Stoff durchnehmen. Das wiederum erfordert, dass die Lehrkräfte in ihren Klassen ein vorgegebenes Programm abspulen. Nicht wenige beklagen, dass sie zu wenig Zeit haben, um individuell auf Probleme einzugehen. Sind die Vergleichstests insofern nicht selbst ein Grund für die schlechten Ergebnisse?
Selbstverständlich müssen die individuellen Lernvoraussetzungen in der pädagogischen Praxis leitend sein, um Kinder und Jugendliche optimal zu fördern. Dazu bedarf es professioneller diagnostischer Kompetenzen der Lehrkraft. Sie muss erkennen, wo der oder die Einzelne steht, und entsprechende Lernangebote machen. Hier brauchen wir Flexibilität bei der Verteilung von Ressourcen und der Zeit, in der die Lernziele individuell erreichbar sind. Trotzdem sollte es eine klare Vorstellung davon geben, welche einheitlichen Lernergebnisse erreicht werden sollen und am Ende der Schulzeit Voraussetzung sind, um die nächste Bildungsetappe erfolgreich zu beginnen.
In der Schule dienen neben standardisierten Vergleichstests die klassischen Zensuren als Instrument zur Leistungsmessung. Taugen sie dazu?
Zensuren sind in erster Linie ungerecht. In zahllosen Untersuchungen wurden Aufsätze verschiedenen Lehrkräften einer Schule vorgelegt, die diese ganz unterschiedlich bewerteten. Noch größer werden die Unterschiede, wenn es Lehrer anderer Schulen oder gar Bundesländer sind. Und ein und dieselbe Lehrkraft verteilt für ein und denselben Aufsatz eine andere Zensur, wenn sie diesen zu einem anderen Zeitpunkt noch mal bewertet.
Was folgt daraus?
Wir verteilen die Lebenschancen junger Menschen auf Basis von ungerechten Zensuren. Würde Deutschland von heute auf morgen bundesweit einen einheitlichen, nicht auf Noten basierenden Mechanismus der Hochschulzugangsberechtigung einführen, könnten aus einigen Bundesländern kaum noch Abiturientinnen und Abiturienten studieren, weil die in den Schulen erworbenen Kompetenzen einfach zu unterschiedlich sind.
Wir stecken in einem Gerechtigkeitsdilemma: Was kann ein junger Mensch, der im Land Bremen zur Schule gegangen ist, dafür, dass das Schulsystem den Kompetenzaufbau nicht so fördert wie in Hamburg oder in Bayern? Genauso ungerecht ist es allerdings, dass zwei Schüler mit messbar gleichen Kompetenzen je nach Bundesland sehr unterschiedliche Abi-Durchschnittsnoten erzielen, weil der Maßstab der Benotung uneinheitlich ist.
Sollten wir die Zensuren also abschaffen?
Darauf möchte ich zweimal mit Ja und einmal mit Nein antworten. Ja, denn unter pädagogischen Gesichtspunkten sind Zensuren verzichtbar. Die gesamte professionelle Kompetenz und Energie von Lehrkräften, die im Notenritual gebunden und gefangen ist, sollte in bessere förderorientierte Diagnostik und inhaltliche Rückmeldeformate für alle Schülerinnen und Schüler gesteckt werden. Das zweite Ja hat kulturelle Gründe: Ich fände es wunderbar, wenn das eingefahrene Machtgefüge zwischen Lernenden und Lehrenden gründlich durchgerüttelt würde. Ohne das disziplinarische Instrument der Notengebung ergäben sich Chancen für ein stärker gleichberechtigtes Miteinander von Schülerinnen und Schülern mit Lehrerinnen und Lehrern, wenn es um das Erreichen und Beurteilen von Leistungen geht.
Und das eine Nein?
Zielt darauf ab, dass die abrupte und vollständige Abschaffung von Noten zunächst ein Vakuum, zumindest eine starke Verunsicherung erzeugen würde. Wie sollen Berechtigungen für begehrte Ausbildungsplätze oder den Hochschulzugang sonst fair geregelt werden? Es fehlt ein ernsthafter Dialog zwischen der Schulseite und den Abnehmersystemen, also den Unternehmen, Handwerkskammern und Hochschulen darüber, wie das schulische Notensystem langfristig seine Bedeutung für Selektion und Zuweisung verringern oder abgeben kann.
Wenke Mückel, 51, ist Professorin an der Universität Rostock und leitet dort das Institut für Grundschulpädagogik. Sie lehrt Didaktik der deutschen Sprache und Literatur im Primarbereich.
Ihrer Meinung nach wird zu viel Zeit dafür aufgewendet, mit einer überbordenden Zahl an Leistungstests den Bildungsstand der Schülerinnen und Schüler in Deutschland zu ermitteln.
brand eins: Frau Mückel, in Deutschland nehmen alle Kinder in der dritten Klasse am sogenannten Vera-Test teil. Was halten Sie davon?
Wenke Mückel: Grundsätzlich liefern diese großen Vergleichsstudien wichtige, vertrauenswürdige und leider auch bedenkliche Ergebnisse. Jedes vierte Kind in Deutschland kann demnach am Ende der Grundschule nicht ausreichend gut lesen. Die Daten sind gut interpretiert, die Situation ist in alle Richtungen gut ausgeleuchtet.
Das Problem ist, dass die Vergleichstests keine Aussagen zu Lernentwicklungen und zu notwendigen Unterrichtshandlungen liefern. Sie geben auch keine Auskunft über die Motivation, Lernumgebung oder Interessenlage der einzelnen Kinder, sondern liefern nur Ist-Stände zum jeweiligen Messzeitpunkt. Nach dem Test arbeiten die Lehrkräfte dann oftmals bis zum nächsten Test wie gehabt weiter.
Ihnen fehlen konkrete Ratschläge, was getan werden muss?
Mich stört der Fokus auf dem Testen. Neben den Vergleichstests gibt es ja unzählige weitere. Einige geben als Ergebnis Zahlenwerte mit zwei Stellen hinter dem Komma aus. Dann erreichen Schülerinnen und Schüler in der Lesekompetenz beispielsweise eine 4,13 – ich frage mich, wie hilfreich ist das nun? Inzwischen gibt es sogar Firmen, die Schulen Trainingsaufgaben für diese Tests anbieten. Aber es kann doch nicht das Ziel sein, den Unterricht auf die Art der in den Tests abgefragten Aufgaben auszurichten.
Ich stelle im Referendariat und bei Lehramtsstudierenden generell eine überzogene Datengläubigkeit fest. Viele hätten gerne für jede Unterrichtsstunde einen Erfassungsbogen, mit dem sie den Lernerfolg der Kinder abfragen können. Das ist auch einfacher, als sich mit jedem einzelnen Kind auseinanderzusetzen und es fachlich fundiert so einzuschätzen, dass der nächste passende Schritt in seinem Lernprozess erfolgen kann.
Haben Pisa, Vera und Co. dazu geführt, dass die Lehrkräfte schematisch auf Schulleistungen schauen?
Wenn ich in meinen Hospitationen in Schulen Kinder beobachte, nehme ich diese meist als ausgesprochen pfiffig und neugierig wahr, die Ergebnisse der Vergleichstests sagen dann aber etwas ganz anderes aus. Das liegt daran, dass zum Beispiel die Leseleistungen eines Grundschülers von vielen Faktoren abhängen, etwa der Frage, ob sich das Kind für das Thema des Textes interessiert und wie viel Vorwissen es bei der Lektüre einbringen kann.
Was muss sich ändern, damit die schulischen Leistungen besser werden?
Schule sollte Problemlösungs- und Handlungsfähigkeit trainieren, nicht standardisierte Testaufgaben. Aber dafür braucht es solide fachliche und vor allem fachdidaktische Grundlagen. Die aber fehlen unseren Lehrkräften zunehmend.
Liegt es nicht in der Verantwortung der Universitäten und speziell von Didaktik-Professorinnen wie Ihnen, das zu ändern?
Richtig, aber wenn wir das Bewerberprofil, die Schulrealität und die Zugangsvoraussetzungen zur Profession „Fachlehrkraft“ betrachten, dann hat sich hier aufgrund des Lehrkräftemangels vieles verändert. Sie können sich ausmalen, mit welcher Qualität von Lehrkräften wir künftig umgehen müssen, wenn der jetzige Trend anhält. Statt auf die ausufernden Tests – und damit meine ich nicht die großen und wichtigen Vergleichsstudien – sollten wir uns wieder auf die fachlich fundierte Lehramtsausbildung konzentrieren. --
Die wichtigsten Messinstrumente im Bildungssystem
Zensuren
Funktion: Berechtigungen zum Übergang in die nächste Klassenstufe, eine weiterführende Schule oder eine Hochschule zu regeln
Wer wird bewertet: alle Schülerinnen und Schüler
Adressaten der Ergebnisse: Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern
Konsequenzen für Schülerinnen und Schüler: große
Jährliche zentrale Vergleichsarbeiten (Vera)
Funktion: Hinweise zu gewinnen, wie der Unterricht oder eine Schule weiterentwickelt werden soll
Wer wird getestet: Schülerinnen und Schüler der 3. und 8. Klassen in den Fächern Mathematik, Deutsch und Fremdsprache (8. Klasse)
Adressaten der Ergebnisse: Lehrkräfte und Schulleitung (in manchen Bundesländern auch die Schulverwaltung)
Konsequenzen für Schülerinnen und Schüler: keine
Nationale und internationale Vergleichsstudien (IQB-Bildungstrend, Pisa, Timss, Iglu)
Funktion: die Leistungsfähigkeit des Schulsystems auf Länder- und Bundesebene zu überprüfen
Wer wird getestet: Schülerinnen und Schüler aller Schularten
Adressaten der Ergebnisse: Bildungspolitik und -verwaltung, Öffentlichkeit
Konsequenzen für Schülerinnen und Schüler: keine