Reden ohne Ton

Das Portal Krisenchat berät Kinder und Jugendliche in Not. Die Mitgründerin Melanie Eckert erzählt, wie man eine Verbindung aufbaut, wenn man einander weder sieht noch hört.






„Wenn der Täter nebenan sitzt, nimmt man nicht den Hörer in die Hand und ruft irgendwo an.“
Melanie Eckert

Aber eine Chat-Nachricht zu schreiben geht oft selbst dann.

• 15 Gehminuten vom Berliner Alexanderplatz entfernt, Altbauten reihen sich aneinander, dazwischen rattert die Straßenbahn. Es sprühregnet. Draußen zeigt sich der Berliner Winter von seiner hässlichen Seite, drinnen führt Melanie Eckert durch eine Altbauwohnung. Stuckbehangene Decke, eifriges Tastaturklackern, in der Ecke steht ein Keyboard. Das Büro von Krisenchat.

Eckert ist Co-Geschäftsführerin und Mitgründerin des gemeinnützigen Unternehmens, das psychosoziale Unterstützung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis zu 25 Jahren bietet – per Chat.

Der Krieg in der Ukraine, der Terror der Hamas, die Klimakrise. Die Welt ist aus den Fugen. Dazu kommen Leistungsdruck in der Schule, Stress mit den Freunden und bei manchen Gewalt in der Familie.

Das hat Folgen für Kinder und Jugendliche. Bei den meisten, die im Jahr 2021 stationär ins Krankenhaus kamen, gab es laut Statistischem Bundesamt eine psychische Ursache. Essstörungen, Depressionen oder Suizidgedanken kommen bei jungen Men- schen immer häufiger vor.

Vielen fehle eine Person, mit der sie über Probleme sprechen können, sagt Melanie Eckert. Und die Schwelle, sich an eine Beratungsstelle zu wenden, erscheine oft hoch. Online-Angebote gab es 2020, im ersten Corona-Lockdown, erst wenige. Die sechs Gründerinnen von Krisenchat sahen die Lücke, entwickelten die Plattform im Homeoffice und machten sie über Whatsapp-Gruppen bekannt. Melanie Eckert beantwortete Chat-Anfragen vom heimischen Küchentisch aus.

Die erste Anfrage kam eine Viertelstunde nach dem Start.

Krisenchat ist jeden Tag rund um die Uhr erreichbar, kostenlos und anonym. Weder Account noch Krankenkassenkarte sind nötig. Die Firma hat mittlerweile 110 Festangestellte und mehr als 400 vorwiegend ehrenamtliche Beraterinnen und Berater. Seit der Gründung haben sie mehr als 120.000 Beratungen durchgeführt. Neben der deutschen gibt es seit 2022 auch eine ukrainische Plattform, die sowohl Kindern als auch Erwachsenen inner- und außerhalb des Kriegsgebietes offensteht.

Melanie Eckert setzt sich an einen runden Tisch, vor sich Notebook und Limo. Sie ist Psychologin, 35 Jahre alt und promoviert zu innovativen Versorgungsangeboten für Kinder und Jugendliche mit mentalen Belastungen.

brand eins: Wie chattet man mit einem jungen Menschen in einer Krise?

Melanie Eckert: Was zählt, ist die Beziehung. Es ist wichtig, zwischen einer helfenden Person und einer Hilfe suchenden Person eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen und sich aufeinander zu beziehen. Dafür braucht es Transparenz. Wir benennen im Chat immer wieder, was wir machen. Wenn ein Berater einen Kollegen um Unterstützung bitten möchte, dann schreiben wir: Ich bin mir nicht sicher, wie wir am besten vorgehen. Ich nehme eine Kollegin dazu, ist das okay für dich? Das stiftet Vertrauen.

Sie hören kein Zittern in der Stimme, kein Schlucken, um das Weinen zu unterdrücken, Sie haben nur kurze Texte und Emojis. Wie erkennen Sie, wie es um jemanden steht?

Wir müssen unheimlich viel nachfragen. Wenn jemand schreibt: „Gestern Abend ging es mir total blöd, die anderen waren wieder gemein zu mir“, dann wird unsere Beraterin fragen, was genau gemeint ist. Verstehe ich das richtig, dass du belastet bist aufgrund einer Situation, die gestern auf dem Schulhof passiert ist? Oder: Ich kann mir vorstellen, dass sich das so und so für dich anfühlt. Das ist eine Technik, bei der man sich manchmal fragt, warum das so oft wiederholt wird. Dadurch signalisiert man aber, dass man nicht einfach darüber hinweggeht. Weil jedes zustimmende akustische Signal fehlt, sollte man der Nutzerin das Gefühl geben: Ich bin da. Käme direkt eine Antwort, entstünde der Eindruck, dass man nicht zuhört.

Sie wollen jungen Menschen auf Augenhöhe begegnen. Was heißt das?

Augenhöhe bedeutet, dass wir die Person ernst nehmen, dass wir nie so etwas sagen wie: „Ach komm, das ist doch nicht so schlimm.“

Chatnachrichten sind oft Gedankenfetzen, ohne Punkt und Komma, dafür mit Abkürzungen und Emojis. Wie finden Sie die richtige Sprache?

Es gibt Chatter, die schreiben uns, als wären wir ihre Kumpels. Unsere Sprache ist professionell und trotzdem niedrigschwellig. Es sollte nicht kumpelhaft sein, wir schreiben nicht: „Was für ein Mist ist dir denn passiert?“ Wir haben uns viel mit einfacher Sprache beschäftigt, weil wir nicht wissen, welchen Bildungsstand eine Person hat oder welchen kulturellen Background. Nachrichten von Kindern haben häufig Rechtschreibfehler, manchmal muss man dann raten.

Wann bekommen Sie die meisten Anfragen?

Zwischen 18 und 24 Uhr, wenn andere Beratungseinrichtungen geschlossen haben und die Kinder und Jugendlichen mit sich und ihren Sorgen allein sind. In unserem Gesundheitssystem sind die Hemmschwellen für sie extrem hoch. Die, die Hilfe brauchen, bekommen sie oft gar nicht oder erst viel zu spät.

Ihre Beratung läuft über Whatsapp, der Dienst gehört wie Facebook und Instagram zum Konzern Meta. Werden die jungen Menschen darüber aufgeklärt, dass ihre Intimsphäre eventuell nicht geschützt ist?

Wir nehmen Datenschutz sehr ernst. Aber wir wollen auch radikal niedrigschwellig sein. Whatsapp ist Ende zu Ende verschlüsselt, die Inhalte sind daher sicher. Auf unserer Plattform ist Whatsapp Professional integriert, das heißt, wir können nur Text, aber keine Sprach- oder Bildnachrichten empfangen. Auf Whatsapp sind die Kinder und Jugendlichen nun mal, ob uns das gefällt oder nicht.

Haben Sie über Alternativen nachgedacht?

Man kann uns auch mit SMS kontaktieren, und auf der ukrainischen Plattform verwenden wir Telegram. Wir wollen Krisenchat in den nächsten Monaten auf weitere Messenger und eine eigene Web-App ausweiten, um unabhängiger von Drittanbietern zu sein.

Das Handy hat man immer dabei, auch in kritischen Situationen. Was antwortet man, wenn ein Jugendlicher schreibt, er bringe sich jetzt um?

Es ist wichtig zu klären, wo sich die Person befindet und ob sie in einer Gefahrensituation ist. Die Beraterin würde dann fragen: „Bist du gerade in Sicherheit? Wen kannst du anrufen? Wer kann dich unterstützen?“

Die Eskalationsstufen haben wir gemeinsam mit der Polizei entwickelt. Nach dieser Klärung und wenn mehrere Personen, die den Chat gelesen haben, gemeinsam entscheiden, dass ein Leben in Gefahr ist, übergeben wir den Fall an die Polizei. Die kontaktiert die betroffene Person und fährt dann gegebenenfalls zu ihr. Rund 20 Prozent aller Chats drehen sich um das Thema Suizid. Um gut durch das Gespräch zu leiten, haben wir Leitfäden entwickelt, auch zum Thema Kindeswohlgefährdung.

In den ersten anderthalb Jahren bei Krisenchat saßen Sie als Beraterin selbst am Computer. Ist Ihnen ein Fall besonders nah gegangen?

Heftig ist es, wenn jüngere Menschen mit Tätern im selben Haus wohnen und in akuter Gefahr sind. Ich erinnere mich an ein Mädchen, das massive Gewalt erlebt hat. Wir haben sie dabei begleitet, in eine Einrichtung zu ziehen. Von dort aus hat sie uns einen rührenden Dankesbrief geschrieben. Darin stand, dass sie den Schritt ohne uns nie geschafft hätte. Für solche Fälle ist der Chat als Medium ideal. Wenn der Täter nebenan sitzt, nimmt man nicht den Hörer in die Hand und ruft irgendwo an.

Chats tendieren zur Endloskommunikation, viele schreiben oft Stunden, Tage, Wochen mit einer Person. Wo ziehen Sie die Grenze?

Anfangs hatten wir Chats, die sich über Stunden zogen, die Berater sind ja permanent da. Wir haben dann entschieden, die Beratung zeitlich zu begrenzen, wie beim Therapeuten.

Wo enden Ihre Möglichkeiten?

Wir machen Krisenberatung, keine Therapie. Dass sich eine Person Hilfe sucht, sich jemandem anvertraut, das ist wahnsinnig viel wert. Das kann in die Tiefe gehen, aber es ersetzt keine Langzeittherapie. Wir helfen, die passenden Anlaufstellen zu finden.

Wichtig ist, dass die Person sich weiterhin jemandem öffnet, zum Beispiel einem Schulsozialarbeiter. Wir sind nur der Anfang, aber der ist oft das Schwerste. Wenn die erste Erfahrung positiv ist, kann das eine enorme Wirkkraft haben. Schön zu sehen ist, dass sich immer öfter junge Menschen melden, wenn es ihnen noch nicht so schlecht geht. Es gilt immer öfter als okay, darüber zu sprechen, wenn es einem nicht gut geht.

Wünschen Sie sich manchmal mehr Handlungsspielraum als nur kurze Textnachrichten?

Ganz oft, wenn der Kontakt abbricht. Wenn Kinder und Jugendliche nicht mehr antworten, haken wir einmal nach, zweimal, danach nehmen wir uns zurück. Für die Beraterinnen, die viel Zeit investiert haben und sehen, dass es ein schwieriger Fall ist, es aber nicht für eine Gefahrenmeldung bei der Polizei reicht, ist das hart.

Wie hält man das aus?

Man muss einen professionellen Umgang finden, akzeptieren, dass es nicht in der eigenen Hand liegt, wie es mit der Person weitergeht. Wir können sie nur ein Stück begleiten. Aber es ist schwer, gerade wenn einen Fälle berühren oder man dicht dran war.

Im Chat erleben Sie sensible Situationen. Hatten Sie mal Zweifel, richtig reagiert zu haben?

Ich kenne das aus der Anfangszeit, das war viel Trial and Error. Inzwischen sind mehrere Berater gleichzeitig online und während ihrer Schicht über die Plattform Slack verbunden. Da können sie parallel zum Gespräch in einer kurzen Nachricht nach Rat fragen oder eine Kollegin bitten, mit in den Chat zu schauen.

Studien zeigen, dass der Bedarf an Beratung und Therapie für Kinder und Jugendliche während der Pandemie stark gestiegen ist.

Wir müssen immer wieder jungen Menschen sagen, dass sie sich später noch mal melden sollen, rund 30 bis 40 Prozent, das ist extrem viel. Eigentlich müssten wir zehnmal so groß sein, um den Bedarf zu decken.

In dem gestiegenen Bedarf drückt sich vielleicht noch etwas anderes aus. Nehmen wir die Sorgen junger Menschen nicht ernst genug?

Nach zwei Jahren Pandemie wurden endlich die Kinder gefragt: Wie geht es euch eigentlich? Es macht was mit einer Generation, dass sie so wenig beachtet wird. Im vergangenen Jahr haben sich unter 30-Jährige vermehrt krankgemeldet, primär wegen mentaler Probleme. Das sind Warnhinweise. Die Gesellschaft erkennt zu wenig, dass wir miteinander reden müssen und die Meinung von jungen Menschen nicht nur als Feedback brauchen, sondern als Entscheidungsgrundlage. Am Anfang von Krisenchat habe ich mit den Mitgründern, die damals 17 Jahre alt waren, diskutiert, ob wir unsere Beratung wirklich über Whatsapp anbieten wollen. Schließlich habe ich auf ihre Einschätzung gehört. Das war ein wichtiger Einblick in unsere Zielgruppe.

Hätten Sie sich in Ihrer Jugend einen Dienst wie Krisenchat gewünscht?

Auf jeden Fall. Ich denke, ich hätte mir früher Unterstützung in schwierigen Phasen geholt. ---

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