Markus Rieger-Ladich im Interview

Wissenschaft braucht den freien Austausch der Argumente. Das wird bei zu viel politischer Korrektheit schwierig, sagt der Erziehungswissenschaftler Markus Rieger-Ladich.





Markus Rieger-Ladich,

Jahrgang 1967, hat an der Universität Tübingen einen Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaft. Er ist Mitglied des Netzwerks „Theoretische Forschung in der Erziehungswissenschaft“. Zuletzt hat er das Buch „Das Privileg. Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument“ (Reclam Verlag) veröffentlicht.

brand eins: Konservative Wissenschaftler wie der Historiker und CDU-Politiker Andreas Rödder beklagen, dass eine linke Cancel Culture die wissenschaftliche Debatte an den Universitäten gefährde. Stimmen Sie zu?

Markus Rieger-Ladich: Nein, diese Einschätzung teile ich nicht. Solche Abwehrreflexe wirken eher wie eine gekränkte Reaktion von Professoren, die nicht damit zurechtkommen, dass ihre Definitionshoheit infrage gestellt wird. Dabei gibt es doch gute Gründe dafür, diese Debatte endlich zu führen. Kritik etwa an rassistischem oder sexistischem Sprachgebrauch ist nicht nur legitim, sondern notwendig. Es ist daher nicht sehr klug, das reflexhaft als Cancel Culture zu diskreditieren. Aber ich stimme der Beobachtung zu, dass man heute als Professor oder als Professorin in Lehrveranstaltungen häufiger mit Kritik und Gegenpositionen rechnen muss. Das erlebe ich selbst auch.

Wo ist das Problem?

Kritik sollte grundsätzlich kein Problem sein, schon gar nicht in der Universität. Schwierig wird es, wenn die Kategorien durcheinandergeraten, wenn also nicht Argumente und Gegenargumente ausgetauscht, sondern Diskursteilnehmer als Personen infrage gestellt werden. Dann bezweifelt man etwa ihre Legitimation, sich zu bestimmten Fragen zu äußern, weil sie zu einer privilegierten Schicht gehören. Oder man stellt ihre moralische Integrität generell infrage. Das kann die Diskussion vergiften.

Haben Sie ein Beispiel?

In meiner Vorlesung zur Einführung in die Erziehungswissenschaft habe ich einen Text der politischen Theoretikerin Hannah Arendt vorgestellt: „Die Krise in der Erziehung“. Im Hörsaal fragte dann jemand, ob es nicht Rassismusvorwürfe gegenüber Arendt gebe. Ihr Aufsatz zur amerikanischen Bürgerrechtsbewegung enthält aus heutiger Sicht tatsächlich problematische Passagen. Man kann diese Äußerungen Arendts kritisieren, man sollte das sogar, aber das desavouiert nicht ihr gesamtes Werk – und besagter Aufsatz hatte nichts mit den Thesen meiner Vorlesung zu tun.

Der Kritiker im Hörsaal wollte sich nicht auf Arendts Argumente einlassen, sondern stellte sie unter Generalverdacht?

So scharf würde ich das nicht formulieren. Aber der Student hatte einen gewissen Vorbehalt formuliert. Und: Er lag in der Sache nicht falsch. Problematisch wird das, was Sie einen Generalverdacht nennen, wenn es die wissenschaftliche Debatte zu blockieren droht. Dieses Muster des moralisierenden Verdachts kann man leider immer häufiger beobachten, besonders stark im kulturellen Feld, aber auch an Universitäten. Bei vielen Studierenden, aber nicht nur bei ihnen, gibt es offenbar ein starkes Bedürfnis nach makellosen Lichtgestalten. Es genügt dann nicht, dass ein Argument schlüssig ist, es soll auch durch die Person beglaubigt werden, die es vorbringt. Das geht meist mit überzogenen Ansprüchen an die Person einher, an ihre Biografie und an ihre Lebensführung, die in jedem Detail moralisch einwandfrei sein sollen.

Und wenn jemand solchen Ansprüchen nicht genügen kann?

Das kann kein Mensch! Dieser Rigorismus übersieht nicht nur, dass Menschen nicht frei von Fehlern sind, sondern auch, dass wir uns alle in Lernprozessen befinden: Wir sehen heute vieles anders als vor zehn oder zwanzig Jahren. Das Bedürfnis nach moralischer Reinheit hat bisweilen fast etwas Religiöses.

Dient es dazu, unliebsame Personen aus dem Diskurs auszuschließen?

Man immunisiert sich mit moralischen Unterstellungen gegen Positionen, die einem nicht behagen – statt zu unterscheiden, wo jemand stringent und überzeugend argumentiert und wo nicht. Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist Judith Butler, die ich für eine der wichtigsten zeitgenössischen Philosophinnen halte. Aber schon lange vor dem Massaker der Hamas am 7. Oktober in Israel hat sie diese terroristische Vereinigung als Teil einer Befreiungsbewegung bezeichnet. Ich halte das für eine eklatante Fehleinschätzung, für einen haarsträubenden Irrtum, der einen sprachlos macht. Das ändert aber nichts daran, dass Butler wichtige Beiträge zur Geschlechterforschung und zur Politischen Theorie geleistet hat. Wichtig ist hier zu unterscheiden: Was ist das Argument eines wissenschaftlichen Textes und wie überzeugend ist es? Und welcher Logik folgt eine politische Positionierung des Autors oder der Autorin?

Man könnte Butlers Äußerungen zur Hamas auch als intellektuelle Bankrotterklärung beschreiben, die zumindest ein ungutes Licht auf ihr wissenschaftliches Werk wirft.

So weit würde ich nicht gehen, denn das folgt wieder der Logik, zwischen Person und Argument nicht zu trennen. Was ich aber zugestehen würde, ist, dass auf manche ihrer Bücher nun ein etwas anderer Blick fällt. Sie werden neu kontextualisiert, das lässt sich nicht leugnen.

Der französische Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline war ein hasserfüllter Antisemit, trotzdem hat er mit „Reise ans Ende der Nacht“ einen der großen Romane der Moderne geschrieben. Brechts Umgang mit seinen Geliebten war auch nicht immer anständig, trotzdem bleibt er ein wichtiger Dramatiker. Welche Folgen hätte es, wenn man die moralische Bewertung der Person nicht mehr, wie von Ihnen gefordert, von ihrem Werk trennte?

Es würde immer schwieriger, in universitären Kontexten eine möglichst differenzierte Position zu entwickeln. Ich will aber komplizierte Sachverhalte in der akademischen Lehre nicht trivialisieren, sondern sie mit Komplexität noch weiter anreichern. Und mir liegt daran, die Universität als einen Ort zu betrachten, an dem die brisanten Fragen der Gegenwart verhandelt werden.

Sie schreiben in Ihrem Buch „Das Privileg“ von der Beobachtung einer zunehmenden „Hemmung, sich in Seminarsitzungen auf angreifbare Weise zu äußern und zu positionieren“. Woran zeigt sich das?

Man neigt dazu, solche Positionen zu vertreten, von denen man annimmt, dass sie konsensfähig sind. Die Ansprüche an die Beiträge, mit denen man sich an Seminaren beteiligt, sind in den vergangenen Jahren ungleich höher geworden – nicht unbedingt fachlich, aber in der Beherrschung sprachlicher Codes und moralischer Standards. Man möchte unbedingt vermeiden, andere auszugrenzen oder vor den Kopf zu stoßen. Die eigenen Wortbeiträge sollen Achtsamkeit und Sensibilität demonstrieren.

Was spricht gegen einen vorsichtigen Umgang miteinander?

Nichts. Aber von den Anforderungen an möglichst sensible Umgangsformen kann eine Diskussion, eine intensive Auseinandersetzung blockiert werden. Zu dieser geforderten Achtsamkeit gehört neuerdings auch der bewusste Umgang mit Privilegien. Viele Studierende reflektieren nun auch ihre eigene gesellschaftliche Position. Das ist uneingeschränkt zu begrüßen. Ein echter Fortschritt, wenn ich etwa an mein eigenes Studium zurückdenke. Die Studierenden unseres Masterstudiengangs sprechen ungleich reflektierter über Machtverhältnisse und zugleich auch sehr viel vorsichtiger über Ungerechtigkeiten, die unsere Gesellschaft prägen – auch deshalb, weil sie ein Teil dessen sind, was sie kritisieren. Sie wissen, dass sie als angehende Akademiker, Männer oder Bundesbürger privilegiert sind.

Wo ist der Haken?

Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass solche Diskussionen inzwischen in der Gefahr stehen, zu einem Elitenprojekt zu werden. Das zeigt sich besonders in den USA. Die Studierenden der renommiertesten Universitäten sind am cleversten darin, nicht nur die eigene Position, die eigene Situiertheit zu reflektieren, sondern dies auch eloquent zu artikulieren. Das kann bei der Konkurrenz um attraktive Jobs zum Wettbewerbsvorteil werden. Wer diese Codes nicht richtig bedient, riskiert den sozialen Ausschluss. Es etabliert sich unversehens eine Hermeneutik des Verdachtes, bei der man einander daraufhin beobachtet, wer sich nicht hinreichend sensibel, selbstkritisch und privilegien-bewusst gibt.

Kann diese Haltung nicht auch produktiv sein?

Nehmen wir die Lektürepraktiken, etwa in der feministischen Theologie. Da stellt sich etwa die Frage, ob im „Neuen Testament“ auch deshalb so wenige Frauen auftauchen, weil der Text von Männern und für Männer geschrieben ist. Vielleicht sind die Frauen viel bedeutsamer und wichtiger als in diesem Text, womöglich erzählt er nur vom Selbstbild der Männer? Man liest die Geschichte gegen den Strich und entwickelt ein gewisses Misstrauen gegenüber der Intention des Erzählers. Das kann sehr erhellend sein.


Verständigung ist ein konflikthafter Prozess, kein harmonischer Zustand. Dazu gehört die Bereitschaft, die andere Position nicht nur auszuhalten, sondern im besten Fall für überzeugende Argumente empfänglich zu bleiben.

Wo liegen die Risiken dieser Hermeneutik des Verdachtes?
Problematisch wird es, wenn wir einander ständig mit Misstrauen begegnen. Im geschützten Raum einer Universität sollten wir wohlwollend miteinander umgehen und einander nicht unterstellen, Rassisten, Sexisten oder Antisemiten zu sein. Wenn sich die Sorge verfestigt, dass man von anderen mit dieser Hermeneutik des Verdachtes beobachtet wird, kann das zu einer Atmosphäre der Unfreiheit führen. Nicht nur an Universitäten.

Verlieren wir die Fähigkeit zum produktiven Streit?
Zumindest ist das eine Gefahr. Der erste Schritt wäre, inhaltlichen Dissens und Streit nicht länger als Fehler oder als eine Zumutung zu verstehen, sondern als potenziell wertvolle Form der Kommunikation. In der gesellschaftlichen Debatte können Auseinandersetzungen produktiv ausgetragen werden. Erst das ermöglicht Verständigung, Kompromisse, vielleicht sogar einen temporären Konsens.

Verständigung ist ein konflikthafter Prozess. Dazu gehört die Bereitschaft, die andere Position nicht nur auszuhalten, sondern im besten Fall für überzeugende Argumente empfänglich zu bleiben. Das aber geht verloren, wenn man den anderen als Person fast reflexhaft moralisch diskreditiert. Deshalb geht es darum, den Streit fair auszutragen und dadurch produktiv zu machen. Nicht zufällig ist eine Voraussetzung der Diskursethik von Jürgen Habermas, dass man auch im Konflikt das Gegenüber respektiert.

Die Kategorien dürfen nicht durcheinandergeraten, wie Sie am Anfang unseres Gesprächs sagten.
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat das einmal sehr anschaulich erläutert: Wenn die These eines Mathematikers bei einer wissenschaftlichen Tagung von einer Mathematikerin widerlegt wird, wäre es ein Kategorienfehler, den Hörsaal zu verlassen und beim Auto der betreffenden Kollegin die Reifen platt zu stechen. Stattdessen müsste der Ehrgeiz des widerlegten Wissenschaftlers darin bestehen, beim nächsten Vortrag die Einwände der Kollegin zu berücksichtigen. Auf diese Weise wird der Streit erkenntnisstiftend. Der Mathematiker könnte sich bei der Kollegin sogar dafür bedanken, dass sie seinen Fehler aufgedeckt hat.

Aber auch unter Akademikern gehören Konkurrenzkämpfe doch zum Tagesgeschäft.
Wissenschaftliche Arbeit ist nie frei von Kränkungen. Das hat vielleicht niemand so deutlich herausgearbeitet wie der Soziologe Max Weber. In seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ erläutert er das, indem er die Wissenschaft mit der Kunst kontrastiert.

In der Musik etwa gilt, dass wir auch heute noch Johann Sebastian Bach hören können – oder die Band Wilco aus Chicago. Gute Platten altern nicht! In der Wissenschaft ist das anders – besonders in den Naturwissenschaften. Unsere Forschungsergebnisse werden benutzt und widerlegt von denen, die nach uns kommen. Der Wissenschaftsbetrieb gleicht daher, so die These von Weber, einer umkämpften Arena, deren Akteure ein ausgeprägtes Konkurrenzbewusstsein besitzen.

Was wäre eine Alternative?
Überzeugende Gegenentwürfe sind von Vertreterinnen der feministischen Erkenntniskritik entwickelt worden. Und, schon etwas früher, von Ludwik Fleck, Verfasser einer brillanten Studie zur Syphilis und Überlebender der Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald. In seinen Augen war das heroische Modell der Wissenschaft ein Selbstbetrug. Als Mikrobiologe arbeitete er mit seinem Team intensiv im Labor. Wissenschaft funktioniert – so seine Beobachtung – über das Einüben von bestimmten, mit anderen geteilten Beobachtungsmustern. Deshalb spricht er von einem Denkkollektiv.

Das gilt auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Wenn Sie etwa Philosophie studieren und in eine Gruppe von Hegel-Spezialistinnen geraten, üben Sie in diesem Denkkollektiv eine ganz bestimmte Lektürepraxis ein, einen spezifischen Argumentationsstil. Diese gemeinsame Praxis prägt das Denken. Es wird dann mitunter schwer, zu sagen, welcher Gedanke von wem formuliert wurde. Gedanken und Argumente entwickeln sich am besten im regen Austausch, und das möglichst angstfrei, ohne falschen Respekt – und idealerweise ohne Rücksicht auf akademische Titel. --