Der Klang der Stille

Ein Talschluss in den österreichischen Alpen an der Grenze zwischen Salzburg und Kärnten. Dort stapfe ich stundenlang durch den Schnee, rieche die Waldluft, lausche. Und höre: nichts. Bis sich meine innere Stimme zu Wort meldet und mir sagt, wo es langgeht.




• Ich weiß nicht, wann genau die Wanderung ein fixer Bestandteil meines ausklingenden Jahres wurde. Vor fünf oder sechs Jahren vielleicht. Meist zur Wintersonnenwende, am 21. oder 22. Dezember, zieht es mich dorthin.

Für zwei, drei Tage reise ich mit dem Zug von Wien ins Gasteinertal. Um mich zu erinnern. An meine erste Skiabfahrt. Ausflüge mit dem Pferdeschlitten. Oder die „Dallas“-Folgen vor dem Fernseher meiner Großeltern, die hier in den Siebzigerjahren ein kleines Apartment gekauft hatten.

Den Weg Richtung Talende gingen wir unzählige Male gemeinsam, zwischen den schroff aufragenden Felswänden, an denen im Winter Wasserfälle zu Eiszapfen erstarren, umrahmt von Fichten, die sich Hunderte Meter weiter oben am Abgrund drängen. Wenn der Sturm wütet, knickt er sie im Dutzend und wirft sie krachend hinunter. Ins hintere Kötschachtal, das nur zu Fuß (wenn man Glück hat, während der Winterferien auch mit Pferdeschlitten) erreichbar ist, am nordöstlichen Ende von Bad Gastein.

Hier breitet sich die Stille wie eine Wolldecke über die Landschaft. Zwischen meinen Schritten höre ich nur den eigenen Atem und meinen Herzschlag. Keine Autos. Kein Handygebimmel, keine Supermarkt-Scannerkassen, keine schreienden Kinder und kein „Last Christmas“ aus dem Radio. Kein Flugzeug und keine Shopping-Mall-Durchsagen. In mir atmet etwas auf. Als würde eine Tür aufgehen, in eine Welt von Stille und Zeitlosigkeit. Wo es kein Davor gibt und kein Danach. Nur den Moment, in dem alles zusammenfließt.

Die Gegend ist für mich voller Erinnerungen. Auch das langsam dahinsiechende Hoteldorf Grüner Baum, das wie ein letzter Posten der Zivilisation am Eingang des Tales liegt und vor neun Jahren Konkurs anmelden musste. Hier feierten wir mit der Familie Silvester im Ganghofer-Stüberl, kannten die Kellner mit Namen und durften uns im Zentrum der High Society fühlen, weil mein Großvater, der „Herr Diplomkaufmann“ – so begrüßte man ihn – nicht nur Unternehmer war, sondern auch ein großzügiger Mensch mit verschmitztem Lächeln, der gern zum Essen einlud.

Sie haben bereits ein brand eins Konto? Melden Sie sich hier an.

Wir freuen uns, dass Ihnen dieser Artikel gefällt.
Er ist Teil unserer Ausgabe Kommunikation in Zeiten von Fake News

Jetzt wird zurück gelogen!
Zum Weiterlesen wählen Sie eine dieser Optionen

brand eins 02/2024 (Digital)

6,30 € / einmalig
Meistgewählt

brand eins Abonnement

108,00 € / Jährlich

✓ Print-Ausgabe nach Hause geliefert
✓ Digital-Ausgabe, PDF und E-Book
✓ Zugriff auf das gesamte brandeins-Archiv inkl. Kollektionen
✓ Jederzeit kündbar

Sicher bezahlen mit
Weitere Abos, Schüler- & Studentenrabatte