Multijobber

„Ich gehe lieber schaffen“

In Deutschland gibt es rund zwei Millionen Menschen, die mit einem Job allein nicht über die Runden kommen. Klaus Endres ist einer von ihnen.





• „Ich bin Frühaufsteher. Um fünf vor zwei klingelt mein Wecker. Dann ziehe ich mich an, lasse meine Katze Minka ins Haus und gehe mit meinem Wagen zur Ablagestelle. Dort warten die Zeitungen und Briefe auf mich. Ich beginne mit den Zeitungen, rund hundert, und verteile sie im Dorf. Ich weiß bei allen Häusern genau, wo ich sie einwerfen muss: in den Briefkasten, in einen Schlitz in der Haustür oder in ein Rohr. Auf der Hauptstraße ziehe ich meinen Wagen über die Fahrbahn, denn auf dem steinigen Gehweg scheppern die Räder so laut, dass es die Menschen aufweckt. Ich mag die Nacht, da stört mich keiner.

Um kurz nach vier bin ich fertig mit den Zeitungen. Dann wecke ich meine Frau und wir frühstücken zusammen. Wenn ich den Tisch abgewischt habe, breite ich die Briefe aus. Ich zähle sie durch und muss eintragen, ob es wirklich so viele sind, wie auf der Liste stehen. Manchmal fehlen welche. Meist bekomme ich um die 50 Briefe, manchmal auch 100. Einmal musste ich 300 austragen, das hat länger gedauert. Dann ordne ich die Briefe nach den Straßen: Hauptstraße, Hohlweg, Steingässle, Salzhofstraße.

Mit dem Austragen, das ich für einen privaten Dienstleister erledige, warte ich, bis es hell ist, denn die Namen auf den Briefkästen sind oft so klein geschrieben, dass ich sie im Dunkeln nicht erkenne, auch wenn ich eine Taschenlampe dabeihabe. Als ich einmal im Dunkeln Briefe ausgeteilt habe, hat jemand die Polizei gerufen, weil er dachte, ich sei ein Einbrecher. Die Polizisten haben mich dann gefilzt. Ich habe ihnen meine leere Postmappe gezeigt und gesagt: Ich mache nichts Böses.

Manchmal beschweren sich die Leute auch, wenn ich ihnen eine Rechnung bringe. Dann sage ich: Für den Inhalt kann ich nichts, ich teile bloß aus. Nach gut anderthalb Stunden bin ich mit den Briefen fertig. Gegen elf Uhr essen meine Frau und ich eine Kleinigkeit, waschen ab und räumen auf. Dann lege ich mich nochmal hin. Im Winter kann ich mich etwas länger ausruhen, da muss ich erst um 17 Uhr wieder los. Im Sommer fahre ich gegen 13 Uhr mit dem Mofa zum Baggersee in Burkheim. Manchmal nehme ich auch das Fahrrad für die 13 Kilometer lange Strecke. Am See verteile ich Strafzettel für die Gemeinde. Es gibt zwar einen Parkplatz, aber viele stellen ihre Autos einfach an der Straße ab, obwohl dort absolutes Halteverbot ist. Dann ist es so eng, dass Lastwagen nicht mehr zur Kiesgrube kommen – und auch der Krankenwagen käme nicht zum See.

Die Leute sind natürlich sauer, wenn sie einen Strafzettel bekommen. Ich musste mir schon viel anhören: Arschloch, Faulenzer, Arbeitsloser. Aber ich habe ein dickes Fell. Einige denken auch, sie wären besonders schlau. Ein Mann hat sich einmal auf die Motorhaube seines Autos gesetzt und mit den Füßen das Nummernschild verdeckt. Als ob ich nicht wüsste, dass es hinten auch ein Nummernschild gibt.

Am Baggersee begegne ich aber auch vielen netten Leuten. Wir grüßen uns, wenn ich meine Runde drehe. Ich muss auch darauf achten, dass die Hunde angeleint sind. Und dass keiner mit Booten oder Stand-Up-Paddles auf dem See ist, denn das ist verboten.

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