Lothar Seiwert & Teresa Bücker
Das Zeit-Paradox
Die Arbeitszeiten sind kurz wie nie, viele müssen nur noch selten ins Büro und haben intelligente Maschinen, die ihnen bei vielen Tätigkeiten helfen. Warum nur sind alle immer so gehetzt?
• Der Ökonom John Maynard Keynes blickte 1928, kurz vor der Weltwirtschaftskrise, weit in die Zukunft. In hundert Jahren werde unser Lebensstandard dank des technischen Fortschritts „vier- bis achtmal so hoch sein“, prophezeite er in einem Vortrag. Und sobald die materiellen Bedürfnisse befriedigt seien, könnten die Menschen frei von Zeitdruck leben: Statt wie damals üblich rund 50 Stunden an sechs Tagen die Woche zu schuften, würden 15 Wochenstunden genügen. Und statt nach Besitz und Reichtum zu streben, würden die Menschen sich dann vor allem damit beschäftigen, wie sie ihre Freizeit gestalten.
Fast ein Jahrhundert später ist der Lebensstandard tatsächlich um ein Vielfaches gestiegen. Und zugleich ist die wöchentliche Arbeitszeit gesunken, auf durchschnittlich 35 Stunden. Doch Zeitwohlstand ist nach wie vor eine Utopie: Jeder Vierte hierzulande ist laut Umfragen häufig gestresst. Rund ein Drittel hat das Gefühl, zu wenig Zeit für Familie und Freunde zu haben. Das gilt nicht nur für Deutschland: Fast die Hälfte der Beschäftigten in der EU gibt an, extremem Zeitdruck ausgesetzt oder überlastet zu sein.
Wie kann das sein, obwohl heute viele im bequemen Homeoffice sitzen, statt in der Fabrik zu schuften? Die Mehrheit am Wochenende frei hat? Und ein Mensch in Deutschland im Wochenschnitt über fast sechs Stunden Freizeit pro Tag verfügt?
Darauf gibt es verschiedene Antworten. Ein Experte für Zeitmanagement sieht das Thema anders als eine Rechtsanwältin, bei der alles zusammenkam: die Selbstständigkeit, drei kleine Kinder und ein Buchauftrag. Was sagt die Wissenschaft zu wahrer und wahrgenommener Zeitarmut? Und was ein Mensch, der durch einen schweren Motorradunfall zur Entschleunigung gezwungen wurde?
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