Hans Rusinek im Interview

Der Arbeitsforscher Hans Rusinek sieht einen Zusammenhang zwischen unserem Umgang mit Zeit und der Zukunft der Arbeit.



Hans rusinek web


brand eins: Herr Rusinek, Sie sagen, dass es der Klimakrise auf unseren Umgang mit Zeit ankommt. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?

Hans Rusinek: Ich bin an Orten unterwegs, wo viele Menschen das Thema sehr ernst nehmen, im Think Tank 30 des Club of Rome, auch in der Beratung von Organisationen. Dabei spüre ich oft eine Krisengehetztheit: Wir hätten keine Zeit mehr, wir sollten nicht länger über die Klimakrise nachdenken, sondern müssten handeln. Ich befürchte, wenn wir vor dem Handeln nicht erst nachdenken, müssen wir es morgen nochmal versuchen.

Das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben, erscheint doch naheliegend angesichts der jüngsten Wetterkatastrophen oder des Verschwindens der Gletscher.

Es geht uns die Zeit aus, das stimmt. Umso bewusster sollten wir mit der uns noch verfügbaren Zeit umgehen, die richtigen Entscheidungen treffen, um die Arbeitswelt besonnen enkeltauglich umzubauen.

Sie sagen, unser Umgang mit der Zeit vergrößert die Umweltprobleme. Wie meinen Sie das?

Damit bin ich nicht allein: Auch der kürzlich verstorbene Zeitforscher Karlheinz Geißler und sein Sohn Jonas haben darauf hingewiesen, dass unsere Umweltkrisen eigentlich Zeitkrisen sind.

Können Sie das erläutern?

Es geht um unser lineares, maschinelles Zeitverständnis, das auch unsere Arbeitswelt dominiert. Im Takt des Sekundenzeigers verbrauchen wir unentwegt Ressourcen. Mit dieser Logik strebt jedes Wachstum ins Unendliche, und so zerarbeiten wir auch uns selbst. Zeitnot und Gehetze sind selbst- und weltzerstörerisch.

Daneben existiert eine zyklische Zeit, wie wir sie aus der Natur kennen. Ein Rhythmus wie Ebbe und Flut, Tag und Nacht, die Jahreszeiten, der weibliche Zyklus, ein zeitweises Wachsen und Vergehen von Ökosystemen, ein Wechsel von Anspannung und Entspannung.

Der Mensch ist ein biologisches Wesen – auch bei der Arbeit. Rhythmen prägen uns, ermöglichen Regeneration, Kreativität und Verantwortung. Wie wir als Individuum und als Gesellschaft bei der Arbeit mit Zeit umgehen, ist daher entscheidend für die Frage, wie es uns, der Gesellschaft und dem Klima geht.

Und was folgt daraus?

Wir sollten uns die Zeit nehmen für die Überwindung schädlicher Routinen. Veränderung ist zeitintensiv.

Kennen Sie die Studie über richterliche Entscheidungen in Israel und die Frage, was diese Urteile am meisten beeinflusst?

Nein, da Sie es aber ansprechen, hat es sicher mit Zeit zu tun?

Richter fällen umso mildere Urteile, je mehr Zeit sie für einen Fall haben. Anders gesprochen: Je gehetzter wir sind, desto radikaler entscheiden und handeln wir.

Braucht es für die Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht radikale Entscheidungen und strengere Gesetze?

Die sind in einer liberalen Demokratie gar nicht so mächtig wie viele glauben: Gesetze sind auf Zustimmung angewiesen, zumindest dann, wenn man nicht die Mittel eines totalitären Polizeistaats zur Verfügung hat. Und selbst wenn Gesetze perfekt umsetzbar wären: Zwangsmittel würden unser Verhältnis zum Staat massiv beschädigen. Das sieht man schon an der Aufregung, die in Teilen unserer Gesellschaft herrscht, wenn dem Auto in Städten weniger Raum gegeben werden soll.

Wenn wir also sagen, dass wir die Klimakrise freiwillig, gemeinsam und vor allem erfolgreich angehen wollen, sollten wir die Arbeitswelt zu einem Reallabor für bessere Praktiken machen. Die Zukunft der Arbeit wird die Arbeit an der Zukunft.

Geht das etwas konkreter?

Organisationen sind keine Maschinen, die alle nach der gleichen Logik funktionieren, sondern soziale Gefüge. Es gibt nicht die eine Lösung für alle und auch keinen ultimativen Ratgeber. Das muss jeder Mensch und jede Organisation für sich selbst aushandeln. Und dabei die Arbeit als entscheidenden Ort des Umlernens begreifen.

Viele Menschen machen sich für die ökologische Transformation stark, nur schieben sie das Problem am eigenen Arbeitsplatz beiseite. Da geht es dann darum zu hetzen, den Job zu erledigen und Umsätze zu erzielen. Wir nehmen uns nicht die Zeit, darüber nachzudenken, wie bestimmte Arbeitsprozesse ressourcenschonender vonstatten gehen könnten. Aber wir brauchen diese Veränderung in den Köpfen. Das Bewusstsein dafür, dass die Transformation auch am eigenen Schreibtisch oder in der eigenen Produktionshalle stattfinden muss.

Wie kann dieses Bewusstsein entstehen angesichts der wirtschaftlichen Zwänge in den Betrieben?

Eine Arbeitswelt, in der alle nur gehetzt sind, ist in transformationsreichen Zeiten auch schlecht für den wirtschaftlichen Erfolg. Wir brauchen mehr Zeitdiversität: reflektionsarme Phasen des Abarbeitens und reflektionsreiche Zeiten, in denen wir Lösungen erarbeiten.

Mehr Work-Life-Balance?

Dieser Begriff hat mich schon immer irritiert. Er suggeriert, dass das Leben außerhalb der Arbeit stattfindet. Wir brauchen aber innerhalb der Arbeit eine neue Balance: aus Ökonomie und Ökologie.

Mit Ihren Forderungen sind Sie mitten in der Diskussion um Arbeitszeit: Die einen wollen sie reduzieren, die anderen verlängern.

Das Problem ist auch hier unser lineares Verständnis von Zeit. Nehmen Sie die Vier-Tage-Woche, die scheint in bestimmten Bereichen der Wissensgesellschaft gut zu funktionieren, weil wir unsere Pufferzeiten an der Kaffeemaschine, beim kleinen Spaziergang, in der Raucherpause minimieren. Wir pressen unser Pensum von bisher fünf Tagen in vier Tage, erleiden keine Produktivitätsverluste – aber da wird es dann schon wieder paradox.

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