Da geht noch was

Es gibt Menschen, die in einer Woche so viele Termine haben wie andere im Vierteljahr. Warum tun sie sich das an? Vier persönliche Antworten.





• Viele Berufstätige haben das Gefühl, in einem Hamsterrad gefangen zu sein. 56 Prozent klagen über Leistungsdruck, 43 Prozent über zu wenig Zeit und 41 Prozent über zu viel Arbeit. Deutschland ist erschöpft.

Ganz Deutschland? Nein! Eine unbeugsame Minderheit von Zeitjongleuren quetscht so viele Jobs, Aufgaben und Termine in ihr Leben, dass es für drei andere reichen würde. Keiner zwingt sie dazu. Sie tun es freiwillig. Warum nur? Wir haben nachgefragt.


Foto: © ZDH / Henning Schacht

„Ich möchte Neues verstehen“

Sechs Kinder, fünf Betriebe, drei Präsidentenämter – der Dachdeckermeister Jörg Dittrich, 54, aus Dresden hat von allem lieber mehr als weniger. In seinen Bauunternehmen beschäftigt er 100 Leute und macht 15 Millionen Euro Umsatz. Außerdem ist er Präsident der Handwerkskammer Dresden, des Sächsischen Handwerktages und seit Jahresbeginn auch noch des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZdH). Dittrich ist nonstop zwischen seinen fünf Betrieben in Ostdeutschland und Polen, der Familie in Dresden und dem ZdH in Berlin unterwegs. Zu Jubiläen, Ehrungen und Treffen mit Politikern in ganz Deutschland fährt er auch noch.

Herr Dittrich, wann bleibt Ihnen bei Ihrem Pensum noch Zeit für die Familie?

Diese Frage macht mir manchmal ein schlechtes Gewissen. Es wäre unredlich zu behaupten, das lasse sich alles problemlos unter einen Hut bekommen. Was mich umtreibt: Meine Kinder haben sich nicht aussuchen können, was ich tue, aber mein Handeln hat Einfluss auf sie und auf die gemeinsame Zeit. Werden die Kinder irgendwann sagen, dass wir das als Eltern verkehrt gemacht haben?

Werden sie das?

Ich hoffe nicht. Wann immer es möglich ist, fahre ich daher nachts noch nach Hause zurück, damit ich meine Kinder morgens sehen kann.

Sie könnten weniger machen, dann hätten Sie mehr Zeit.

Kommt nicht infrage. Erstens wegen meiner Überzeugung, mitmachen und sich beteiligen zu müssen. Das resultiert aus meiner Sozialisierung. Ich bin in der DDR geboren und habe eine Diktatur miterlebt. Jetzt in der parlamentarischen Demokratie kann ich daran mitwirken, gute Lösungen für das Handwerk und sogar darüber hinaus für die Gesellschaft mitzugestalten. Zweitens wegen meiner Neugier. Ich möchte Neues entdecken und verstehen. Das treibt mich an.

Unternehmer, Lobbyist, Vater, Ehemann – fühlen Sie sich manchmal überfordert?

Natürlich gibt es solche Momente. Aber trotzdem bin ich überzeugt, dass es richtig und wichtig ist, die eigenen Talente einzubringen. Manchmal denke ich, wenn der eine oder andere mehr zum Gemeinwohl beitragen würde oder so viele Kinder hätte wie ich, gäbe es weniger Zeit, verbittert zu werden oder wütend zu sein.

Wissen Sie, wie viele Termine diese Woche in Ihrem Kalender stehen?

Nein, die Zahl der Termine interessiert mich nicht. Mich interessiert, was für Termine es sind, welche Menschen ich dort treffe, welche Themen besprochen werden. Als Vorbereitungsfetischist stelle ich mich darauf ein. Die Terminkoordination und Kalenderführung machen andere. Vollgepackt ist er jedenfalls immer.


Foto: © Holger Talinski / laif

„Ich lebe meinen Traum“

Tijen Onaran, 38, ist Moderatorin, Rednerin, Kolumnistin, Podcasterin, Coach, Autorin („Be Your Own F*cking Hero“), Investorin (TV-Show „Die Höhle der Löwen“) und Unternehmerin. Ihre drei Firmen haben mit ihrem Lieblingsthema Female Empowerment zu tun. Die Global Digital Women GmbH in Berlin unterstützt Frauen in der Digitalbranche mit Workshops und Mentoring-Programmen. Die ACI Consulting GmbH in München ist eine Beratungsfirma für Vielfalt, Gerechtigkeit und Inklusion. Die TOC The Onaran Company GmbH in Berlin vermarktet nur eine einzige Person, die aber richtig: Tijen Onaran. Insgesamt beschäftigt Onaran 16 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Über den Umsatz gibt sie keine Auskunft, aber über die von ihr bislang in Start-ups getätigten Investitionen: 750.000 Euro.

„Ja, ich arbeite viel. Das hat mit meiner Geschichte zu tun. Es ist die Geschichte eines sozialen Aufstiegs. Ich stamme nicht aus einer privilegierten deutschen Familie, sondern bin die Tochter türkischer Eltern, Arbeiterklasse, musste mir alles selbst erarbeiten. Du kommst nicht weiter, ohne dich richtig reinzuhängen. Ich wollte immer weiterkommen. Die Diskussion um weniger Arbeit finde ich ziemlich elitär. Viele Menschen müssen zwei Jobs machen, um ihre Familie zu ernähren.

Zeit ist eine knappe Ressource in meinem Leben. Pro Jahr habe ich etwa 3000 Termine, das sind ungefähr zwölf pro Arbeitstag. Um das durchzustehen, lege ich immer mal wieder eine Me-Time-Woche ein, in der ich keinen einzigen Termin wahrnehme. In meinen drei Firmen muss ich nicht operativ tätig sein. Dafür gibt es Mitarbeitende und eine Geschäftsführung. Ich bin die Außenministerin.
Mein Rezept, wie ich die hohe Arbeitsbelastung schaffe?

Salopp gesagt: Gassi gehen. Weniger salopp gesagt: Struktur und Rituale. Meine zwei Hunde strukturieren den Tag. Sie müssen raus. Morgens geht es erst mal mit den beiden in den Wald. Danach laufe ich eine Runde, ohne Hund. Vor zehn Uhr arbeite ich nie. Aber manchmal dafür bis ein Uhr nachts. Wenn ich weg bin, kümmern sich mein Mann, Freunde oder mein Bruder um die Hunde.

Ich lebe meinen Traum, habe ein großartiges Netzwerk aufgebaut, bin sichtbar, habe Einfluss. Ich verdiene gern Geld, aber was mich wirklich antreibt, ist, dass ich Menschen motivieren kann, dass ich Dinge verändern kann, dass ich Frauen empowern kann. Neulich, bei der Präsentation meines neuen Buches, kam ein Mädchen zu mir und sagte: ,Seit Sie in Höhle der Löwen sind, weiß ich, dass ich alles schaffen kann, was ich will.‘ Das ist es, wofür ich meine Zeit opfere.“


Foto: © picture alliance / Wolfgang Wolak / picturedesk.com

„Ich tue, was mir Spaß macht“

Vor zehn Jahren war sie unter dem Namen Dariadaria eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Lifestyle- und Fashion-Bloggerinnen. 2017 wechselte die Wienerin die Fronten und produziert nun selbst nachhaltige Mode in Portugal, Serbien und in der Türkei. Madeleine Darya Alizadeh, 34, ist allerdings nicht nur Unternehmerin und Content Creator mit 336.000 Followern auf Instagram, sondern auch Autorin („Starkes weiches Herz“) und grüne Aktivistin. 2022 machte ihre Firma Dariadéh GmbH mit acht Mitarbeitenden mehr als drei Millionen Euro Umsatz. In diesem Jahr fiel er um 30 Prozent – Kriege, Inflation und politische Unwägbarkeiten setzen dem Einzel- und Onlinehandel zu.

Frau Alizadeh, bedeuten 30 Prozent weniger Umsatz auch 30 Prozent weniger Arbeit und mehr Freizeit?

Das wäre schön. Aber leider ist das Gegenteil der Fall. Die Arbeit bleibt gleich, aber die Herausforderungen werden größer. Wir wollen schließlich 2024 weiter stabil wirtschaften.

Was schätzen Sie: Wie viele Arbeitsstunden hat Ihre Woche?

In schlimmen Wochen sind es 70 bis 80.

Wie kommen Sie da zur Ruhe?

Gar nicht. Ein Rezept, wie man sich völlig auspowern und trotzdem gesund und glücklich sein kann, das gibt es nicht. Wenn ich es hätte, wäre ich schon längst Millionärin. Aber ich mache mindestens jeden zweiten Tag Sport (Pilates, Yoga, Spinning, Boxen) und blocke die Termine dafür schon Wochen vorher im Kalender. Das hilft ein wenig.

Sind Sie im Moment zufrieden mit Ihrem Leben?

Einerseits bin ich sehr glücklich, weil ich tue, was mir Spaß macht und was ich für richtig und wichtig halte. Ich habe tolle Produkte, ein tolles Team, tolle Follower auf Instagram und einen tollen Lebenspartner. Außerdem bin ich finanziell so sicher und frei, wie es noch keine Frau in meiner Familie je war. Andererseits arbeite ich mehr, als ich will, erlebe Terminstress, Hass im Netz, zu viel Workload und Druck durch die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit. Langfristig will ich ein Leben, das eine bessere Balance erlaubt.

Was wollen Sie dafür tun?

Jetzt vor Weihnachten ist jeder Tag übersät mit Terminen und Deadlines. Im Februar dagegen kann ich remote aus Südspanien arbeiten, weil ich da gar keine Termine habe. Ich versuche, solche Schwankungen nicht zu extrem werden zu lassen und über das Jahr hinweg eine kontinuierliche, bewältigbare Arbeitsbelastung zu erreichen.


Foto: © Herzflimmern – von Nadine Keilhofer

„Ich will raus aus der Bubble“

Der Diakon Rainer Fuchs, 50, aus Nürnberg sieht nicht so aus, wie man sich einen Kirchenmann vorstellt. Und sein Nebenjob ist genauso ungewöhnlich wie seine flächendeckenden Tattoos. Als Studienleiter an der Gemeindeakademie Rummelsberg der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) ist er zuständig für die Beratung von Gemeinden und Dekanaten sowie für Personal- und Organisationsentwicklung. Nebenbei reist er mit einem Trupp von Steilwandfahrern durch Deutschland. Auf seiner Homepage Bruderfuchs.de bezeichnet sich Fuchs als Diakon, Coach, Supervisor, Mediator, Studienleiter und Autor („Gott geht unter die Haut“).

Herr Fuchs, arbeiten Sie als Studienleiter der ELKB 40 Stunden die Woche?

Offiziell sind es 42 Stunden, aber ich fahre im Jahr mindestens 25 000 Kilometer durch Bayern und halte zusätzlich Gottesdienste in ganz Deutschland. Wahrscheinlich habe ich eine 60-Stunden-Woche.

Und trotzdem einen Nebenjob, einen ziemlich krassen sogar.

Ja, ich begleite die Steilwandfahrer des Motodroms mit ihrer hundert Jahre alten Wall of Death durch Deutschland.

Wall of Death?

Die Jungs rasen mit ihren Mopeds an einer senkrechten Holzwand im Kreis herum. Das ist waghalsig und sehr gefährlich. Die haben sich alle fast schon alles gebrochen.

Und Sie?

Ich mache da alles, außer Motorrad fahren. Ich bin ja nicht lebensmüde. Ich bin der Kaffeekocher, Kassierer, Publikumsschubser, Aufräumer. Und manchmal der Seelsorger.

Warum tun Sie das?

Ich will raus aus der Bubble der Kirche. Die Tage mit den Steilwandfahrern auf dem Oktoberfest in München oder auf dem Spielbudenplatz in Hamburg geben mir die Bodenhaftung zurück. Das ist das echte Leben.

Wie in der Bahnhofsmission. Da arbeiten Sie ja auch.

Das mache ich aber ehrenamtlich, zweimal im Monat. Da bin ich Teekocher, Brotschmierer und Zum-Zug-Begleiter.

Wie kriegen Sie das alles hin?

Ich bin ein Zeitjongleur. Ich habe jeden Tag ein halbes Dutzend Termine in der Luft und muss sehen, dass nichts crasht. Das kann ich ziemlich gut.

Woran merken Sie, dass es zu viel wird?

Wenn meine Tochter verstärkt darauf Wert legt, dass ich sie ins Bett bringen soll. Das ist ein Warnzeichen, dass ich vom Gas gehen muss.

Und was tun Sie dann?

Sie ins Bett bringen und beten. ---

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