Start-ups: Tobias Hertfelder

Tobias Hertfelder war mal Metzger und hat nun eine IT-Firma mit ambitioniertem Plan. Er will den Austausch von Belegen vereinfachen. Und so ein großes Problem vieler Unternehmen lösen.





• Tobias Hertfelder war Metzger, Motocross-Champion und Berater mit gutem Gehalt. Jetzt sitzt er in seinem schwarzen Mercedes-Benz-Van, auf dessen Rückbank sich Kinderkleidung stapelt, und hält am Ende eines Feldwegs mit Blick auf die Autobahn, mitten in der Baden-Württemberger Provinz. Dort öffnet der schlaksige Mann die Tür, steigt aus und geht ein paar Schritte in den strömenden Regen hinaus, die Hände in den Taschen. Mit einem Lächeln auf den Lippen deutet er auf die Solarmodule, die sich hier in Schnelldorf, an der Autobahn A6 zwischen Aurach und Wolpertshausen, aneinanderreihen und sagt: „Hier produzieren wir den grünen Strom, den wir für unsere deutsche Cloud brauchen.“

Dieser Satz ist aus mehreren Gründen bemerkenswert.

Zum einen hat Hertfelder da als Privatmann einfach mal eine Fotovoltaikanlage hingestellt, auf das Grundstück seiner Frau und zweier Landwirte. Laut Prognose soll die Anlage zwei Millionen Kilowattstunden an Strom pro Jahr erzeugen – etwa so viel, wie rund 1000 Haushalte im selben Zeitraum verbrauchen. Zum anderen ist die Cloud, für die all der Strom erzeugt werden soll, noch ziemlich klein – denn von der Software, für die er die Cloud braucht, gibt es erst eine Testversion. Doch Hertfelder hat da eine Chance gesehen. „Das ist super faszinierend, was die Fintech-Jungs in Berlin machen, aber ich wollte immer ein reales Problem lösen“, sagt der 41-Jährige.

In mancher Hinsicht passt Tobias Hertfelder ganz gut in die Berliner Szene. Er bewundert Elon Musk und Mark Zuckerberg, heißt bei Whatsapp „Inspiration 4“ (nach dem ersten privatfinanzierten Weltraumflug – er liebt Geschichten über Menschen, die Dinge tun, die andere für verrückt halten), hat ein Selbstbewusstsein, das an Größenwahn grenzt, und will ständig „skalieren“.

Allerdings arbeitet er an der Lösung eines Problems, das die Juroren der TV-Sendung „Höhle der Löwen“ wohl todlangweilig fänden.


In der Werkstatt auf dem Hof von Hertfelders Eltern schraubten Vater und Sohn an den Crossmaschinen


„Hier produzieren wir den grünen Strom, den wir für unsere deutsche Cloud brauchen.“


Rechte Seite: Eine Pflanze hat den Weg durch die Solarpaneele bei Schnelldorf gefunden. Hier produziert Hertfelder grünen Strom

Seine große Mission

Hertfelder kann ununterbrochen über dieses Problem reden, er arbeitet seit drei Jahren unermüdlich daran. Es ist aber nicht einfach seiner IT-Fachsprache zu folgen. Plug and Play, ERP, EDI, das ist seine Welt. Was er meint: Täglich tauschen deutsche Unternehmen unzählige Belege aus. Zum Beispiel Bestellbestätigungen oder Rechnungen. Oft müssen die Beschäftigten das händisch erledigen – in vielen Fällen werden die Belege sogar noch per Post verschickt. Das kostet enorm viel Zeit und Geld. Die Würth-Gruppe etwa, Weltmarktführer für Montage- und Befestigungsmaterial, bezeichnet das als „eines der größten Probleme, mit dem sich die Einkaufs- und die Finanzabteilungen auseinandersetzen müssen“.

Gerade Industrieunternehmen leiden unter der fehlenden Automatisierung des Belegaustausches, da sie besonders viele Rechnungen und Bestellbestätigungen erhalten und versenden. Ein Auto beispielsweise besteht heute durchschnittlich aus 10 000 Einzelteilen verschiedener Zulieferer. Man kann sich vorstellen, was da an Belegen zusammenkommt.

Anfang 2020 wurde Hertfelder, der zwei Jahre zuvor eine IT-Firma gegründet hatte, um Apps für Mittelständler zu entwickeln, vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau angesprochen. Ob er für dieses Problem nicht auch eine Lösung entwickeln könne? Inzwischen hat er dafür Millionen von einem Investor erhalten, 20 Leute eingestellt und vor einigen Monaten eine Anwendung vorgestellt, die den Belegaustausch erleichtern soll. Zwei große deutsche Unternehmen testen nun, ob das funktioniert.

Wie kommt ein gelernter Metzger zu so einem Thema?

Tobias Hertfelders Geschichte beginnt dort, wo der schwarze Van an diesem Frühlingstag das erste Mal hält: auf dem Bauernhof seiner Eltern in Kreßberg, in der Nähe von Crailsheim. Links neben der Einfahrt steht das Einfamilienhaus, dahinter ein großer Stall, die Familie züchtet heute Angusrinder. Gegenüber ein Schuppen, der seinem Vater und ihm während seiner Motocross-Karriere als Werkstatt diente. „Wir haben 30 Einwohner, 28 davon fahren Motocross, es war klar, dass ich das auch mal machen werde“, sagt Hertfelder. Er holte viele Pokale, wurde deutscher Amateurmeister. Erst als er wegen der Arbeit nicht mehr so viel Zeit hatte, gab er den Sport auf. Gerade fährt er viel Fahrrad, hat auch schon für einen Triathlon trainiert. Er ist in allem ziemlich ehrgeizig.

Hertfelder wuchs bodenständig auf, half jeden Tag auf dem Hof mit. „Nichts gesagt, ist genug gelobt“, sei das Motto gewesen, sagen seine Eltern. Seine Mutter ergänzt, einer mit so verrückten Ideen und so einem Tatendrang, könne schon mal anstrengend sein. Einmal wollte ihr Sohn den Wald der Familie abholzen, weil die Holzpreise gut waren, ein anderes Mal Wagyu-Rinder halten, das sei lukrativer. „Aber Tobias war halt immer ein Macher, der hat sich voll reingehängt“, sagt sie. So wie damals, als er gemeinsam mit seinem Großvater einen Hofladen eröffnen wollte und dafür sogar Metzger lernte. Aus der Idee wurde nichts. Hertfelder beendete die Ausbildung trotzdem.

Ein Projekt einfach abbrechen? Das ist für ihn keine Option. Ebenso wenig, ein Vorhaben unversucht zu lassen. Das Einfamilienhaus bei Crailsheim für seine Frau und die zwei Kinder zum Beispiel mauerte er mithilfe einiger Youtube-Tutorials selbst.

Metzger wollte er nicht bleiben, also holte er sein Abitur nach, studierte in Stuttgart Betriebswirtschaftslehre und Maschinenbau und arbeitete für Mercedes-Benz. Abends kutschierte er Manager in schicken Limousinen hin und her, ein Aushilfsjob, den er wegen der Autos mochte und weil ihn interessierte, was die Führungskräfte so besprachen.

2008 bot ihm die Firma Pall Corporation, ein amerikanischer Hersteller von Filteranlagen, einen Job in Crailsheim an. 80 000 Euro Gehalt soll er bekommen haben. Hertfelder: „Das war astronomisch viel Geld für mich.“ Er ist keiner, der viel lacht oder Witze macht, er bleibt immer bei der Sache. Sein damaliger Chef Stephan Cohen ist voll des Lobes über ihn.

Hertfelder war Einkäufer, machte aber ungefragt noch Budgetplanung, Projektübersichten und erstellte zu jedem eingekauften Teil ein 3-D-Modell. Sein Chef fand das super, die anderen in der Abteilung nahmen ihn, den übereifrigen Kollegen, trotzdem noch auf Festivals mit.

Nach ein paar Jahren wurden am Standort in Crailsheim Stellen gestrichen, Hertfelder erhielt eine Abfindung, das gesamte Team verließ das Unternehmen. Für ihn sei es eine lehrreiche Zeit gewesen, sagt er, denn er habe schon immer für eine US- Firma arbeiten wollen. Er ist ja auch Fan von Firmen wie Amazon, Facebook oder Tesla, weil er selbst so hoch hinauswill.

Das ging nicht immer gut.

Da war zum Beispiel ein Job bei einem örtlichen Mittelständler vor ein paar Jahren. Dort wollte er in kurzer Zeit so viel ändern, dass sie ihn vor die Tür setzten. Oder die Metallbaufirma, zu deren Kauf ihm ein Bekannter riet. „Ich dachte, ich kann doch keine Metallbaufirma kaufen“, sagt Hertfelder. Als er sich dann doch dafür entschied, ließ der Verkäufer den Deal platzen, weil er die Pläne für überambitioniert hielt. „Für mich waren das die bittersten Niederlagen“, sagt Hertfelder.

2016 machte er sich als ERP-Berater selbstständig. Mit einer Enterprise-Resource-Planning-Software wie SAP können Unternehmen Abläufe und Prozesse planen und steuern. Nach eigenen Angaben buchte ihn ein Stuttgarter Unternehmer für ein Jahr, für 300 000 Euro. Hertfelder fühlte sich jedoch schnell wie in einem goldenen Käfig. „Ich habe Bombe verdient, aber war der unglücklichste Mensch, ich sah meine Family nicht, meine Kinder nicht aufwachsen.“

Hertfelder hielt das eine Jahr durch, nahm danach aber keine Jobs mehr an, die weiter weg waren. Er hängt an seiner Familie, sogar an den Rindern auf dem Hof der Eltern. Und er hängt an seiner Heimat, der fränkischen Provinz. Den Dialekt wird er vermutlich auch nicht ablegen können.


Tobias Hertfelders Eltern züchten auf ihrem Bauernhof Angusrinder. Ihr Sohn arbeitet inzwischen im nahe gelegenen Städtchen Crailsheim und wohnt auch nicht weit entfernt von dort

Aus der Tiefe der Provinz

2018 lernte er den IT- und ERP-Spezialisten Philipp Futterknecht kennen, mit dem er in Crailsheim das Unternehmen H&F Solutions gründete. Crailsheim, etwa 36 000 Einwohner, ist für Hefegebäck bekannt, nicht für Start-ups. Die Firma der beiden entwickelte erst Apps, dann Software zur Vernetzung von Unternehmen – darunter nun auch die, die den Austausch von Belegen vereinfachen soll.

Das ist so kompliziert, weil Firmen unterschiedliche ERP-Systeme nutzen. Wollen sie Dokumente austauschen, müssen sie sich auf einen gemeinsamen Standard, eine gemeinsame Struktur und Datenpunkte einigen. Etwa, dass in Zeile 56 immer die Farbe eines Produktes steht. Einheitliche Standards gibt es aber nicht – industrieübergreifende schon gar nicht. Einer Studie des Marktforschungsunternehmens ECC zufolge, eine Tochterfirma des Instituts für Handelsforschung, laufen nicht einmal zehn Prozent der Umsätze zwischen Industrieunternehmen digital ab. Beim Thema Belegaustausch wäre Automatisierung „ein Traum“, sagt Michael Mertens vom ECC. „Aber bisher ist der vollautomatisierte Austausch nur bei einzelnen großen Unternehmen zu finden.“

Bisherige Automatisierungsversuche liefen stets über die sogenannte Electronic Data Interchange (EDI), ein Standard für den Dokumentenaustausch. Unternehmen sind dort über individuelle Schnittstellen miteinander verbunden und können, wenn sie dieselben Standards nutzen, Belege hin- und herschicken. „Diese EDI-Schnittstellen haben das Problem, dass sie nicht besonders user-freundlich sind“, sagt Mertens, der Aufwand sei auf beiden Seiten hoch. Nils Britze, Bereichsleiter Digitale Geschäftsprozesse beim Digitalverband Bitkom, sagt: „Das lohnt sich bei 10 000 bestellten Produkten im Monat, aber nicht bei 100.“ Hinzu komme: Wer viel Marktmacht habe, könne das Format und die Struktur von Belegen vorgeben – die Kleinen müssten sich meist anpassen.


„Das Ding wird funktionieren, ganz sicher.“


Hofft auf den großen Durchbruch: Tobias Hertfelder im Kellerbüro seines Wohnhauses

Eine halbautomatische Lösung

Tobias Hertfelder sitzt jetzt eine Etage über einem Café in Crailsheim, im Büro seiner Firma. Lange hat er über sein Leben gesprochen, nun möchte er auf die von ihm entwickelte Lösung kommen: den H&F-Transformer. Dazu zeigt er eine Präsentation auf seinem Rechner.

Man kann sich das Tool vorstellen wie einen Übersetzer, der mit unstrukturierten Daten arbeiten kann. Das bedeutet, dass es dem Algorithmus egal ist, in welcher Zeile Farbcode oder Materialnummer eingetragen sind, er findet die Angaben eigenständig und platziert sie bei den Unternehmen an den jeweils richtigen Stellen. Zudem soll die Anwendung menschliche Fehler korrigieren. Etwa wenn jemand Zahlen in falschen Spalten eingetragen oder Informationen vergessen hat. Die ergänzt die Software selbstständig in den richtigen Kästchen – zum Beispiel die Materialnummer ei- nes Auspuffteils bei BMW. „Der Crawler sucht im Internet, findet den Teilekatalog und trägt das nach“, sagt Hertfelder.

Er spricht von einem lernenden Algorithmus. Programmieren hat er sich selbst beigebracht. Dass ihr Tool jemand nachmacht, hält er für unrealistisch. „Technisch wäre das möglich, aber es interessiert sich kaum einer für das Feld, und falls sich das ändern sollte, sind wir drei bis vier Jahre in der Entwicklung voraus.“

Nils Britze vom Bundesverband Bitkom sagt: „Lösungen, die Belege übersetzen, sind absolut sinnvoll, solange es keinen Standard gibt.“ Auch Michael Mertens vom ECC findet: „Wenn man Belege anders austauschen könnte, beispielsweise ohne strukturiertes Format oder mit einfacherer und nutzerfreundlicherer Einrichtung, wäre das klasse.“

Das Versprechen von Hertfelders Software: Bei mehr als 100 000 Bestellbelegen könne eine Firma 70 Prozent der Kosten sparen. In ihrer derzeitigen Form ist sie vor allem für größere Firmen und ihre Lieferanten gedacht. „Das ist kein Wunderwerk, aber es entlastet die Unternehmen“, sagt Hertfelder.

Automatisieren will er 40 bis 50 Prozent der Belegaustausche. Es sei nicht sinnvoll, alle Fälle abzudecken, der Programmieraufwand wäre immens und größer als der Ertrag, sagt Hertfelder. „Die wahre Kunst ist, imperfekt zu sein. Nur dann kann man skalieren wie Whatsapp oder Amazon.“ Damit meint er, dass auch seine Anwendung irgendwann mehr oder weniger alternativlos sein soll.

Noch ist sie im Testbetrieb bei zwei Firmen. Weil noch keine validen Daten vorliegen, will vorerst keine der beiden darüber sprechen.

Hertfelder glaubt an seine Lösung. Und die beiden Firmen mit Milliardenumsätzen scheinen das auch zu tun. „Das Ding wird funktionieren, ganz sicher, die Tests laufen gut“, sagt er, lächelt, klickt ans Ende der Präsentation – und ist mit dem Kopf schon wieder hundert Schritte weiter.

Vor einigen Wochen war er in New York, plant schon die Expansion. Und was, wenn es doch nichts wird? Hertfelder überlegt nicht lange: „Dann finde ich eine neue Lösung.“

Seine Mission hat kein Glamour. Es geht nicht um die Rettung der Welt. Vielleicht scheitert Hertfelder. Vielleicht ist er, der als Metzger und nicht an einer privaten Business School anfing, aber auch genau der Richtige für diesen Job. ---