Jetzt mach was aus dir!

Eingewanderte Eltern geben oft alles für ihre Kinder – und erwarten im Gegenzug Bilderbuchkarrieren von ihnen. Hier berichten zwei, wie sie mit solchen Ansprüchen umgegangen sind.





• „In meiner Familie geht es nicht nach unten. Es gibt nur eine Richtung: nach oben. Wir sind Leistungsträger“, so beschreibt Emilia Smechowski das Selbstverständnis ihrer Eltern, die vor 35 Jahren aus Polen nach Deutschland kamen. Was das für sie bedeutete, beschreibt die Journalistin in ihrem Buch „Wir Strebermigranten“. Es hat einen Nerv getroffen. Denn den Druck, es weiter bringen zu müssen als die Eltern, kennen viele Menschen ausländischer Herkunft.

Zwei Erfahrungsberichte.

B1 08-23 migrantenkinder 2

Hazel Nguyen
Content Creatorin, 29

Hazel ist fünf, als sie im Jahr 1999 gemeinsam mit ihrer Mutter, ihrem Zwillingsbruder und der älteren Schwester von Vietnam nach Berlin reist. Ihr Vater ist schon seit elf Jahren als Gastarbeiter dort und darf endlich seine Familie nachholen. Von da an verschenken die Eltern keine Zeit, um den Aufstieg ihrer Kinder zu fördern: Bereits einen Tag nach der Ankunft in Deutschland besuchen die Kinder die Kita. Mit sechs Jahren werden sie eingeschult, dann geht es weiter aufs Gymnasium. Mit 15 Jahren jobbt Hazel neben der Schule in einem Steuerbüro. Nach dem Abitur studiert sie Betriebswirtschaftslehre. So weit läuft alles nach Plan der Eltern. Doch aus ihr wird kein Zahlenmensch, sondern eine Youtuberin.

Eine Frage, erzählt Hazel Nguyen, stellte ihr Vater immer wieder: „Und, wann gehst du endlich zurück ins Steuerbüro?“ Er hielt lange an seinem Traum für die Tochter fest. „Mein Vater hatte sich ausgemalt, wie ich gemeinsam mit meinem Zwillingsbruder ein Steuerbüro eröffne, und alles dafür in die Wege geleitet.“ Doch Hazel Nguyen macht heute etwas ganz anderes. Sie dreht Videos für Youtube und Tiktok, zeigt ihr Leben auf Instagram und macht Werbung für Produkte. Eine Influencerin also, sie bevorzugt Content Creatorin. Ihre Eltern können mit beiden Begriffen wenig anfangen – und so ganz verstehen sie bis heute nicht, was ihre Tochter wirklich macht, sagt sie.

Mit dem, was sie tut, ist Nguyen sehr erfolgreich. Fast eine halbe Million Menschen folgen der 29-Jährigen auf Youtube, wo sie sich „Pocket Hazel“ nennt. Sie schauen ihr zu, wie sie vietnamesische Gerichte zubereitet, durch die Welt reist und über ihr Leben spricht. Ihren Zuschauerinnen und Zuschauern gegenüber gibt sie sich ehrlich und offen, teilt aber auch zu ihrem eigenen Schutz keine Details aus ihrem Privatleben. Auf Instagram zeigt sie sich öfter mal ungeschminkt, verrät, wieso sie kein zweites Kind möchte, und spricht über rassistische Anfeindungen.

Auch während des Video-Interviews sitzt sie ungeschminkt und entspannt auf ihrem Bett. Ein paar Stunden später ist im Netz eine andere Hazel Nguyen zu sehen: Auf Instagram teilt sie ein Selfie mit Bluse, Minirock und Sonnenbrille. So gestylt, geht es zum nächsten Event.

Ein solches Leben war für sie nicht vorgesehen. „Für meine Eltern war klar: Hazel geht studieren.“ Die Eltern wollen für ihre Tochter einen Job, mit dem man viel Geld verdient, aber nicht hart körperlich arbeiten muss. Um der Tochter das zu ermöglichen, macht das Ehepaar es umgekehrt: Die Nguyens arbeiten besonders hart in ihrem Blumenladen. Der Arbeitstag beginnt um fünf Uhr früh auf dem Großmarkt und endet um sechs Uhr abends, wenn der Laden schließt. Die Kinder sollen dort nicht mitarbeiten, sondern es später mal besser haben. Aus diesem Grund besorgt der Vater der erst 15-jährigen Tochter einen Nebenjob in einem Steuerbüro, um sie auf den richtigen Weg zu bringen. Nine to five am Schreibtisch – ein absoluter Traum für die Eltern, sagt Hazel Nguyen lachend. Sie geben alles dafür, dass für die drei Kinder der Traum vom sicheren und bequemen Bürojob in Erfüllung geht.

Von bürokratischen Hürden und Diskriminierung lassen sie sich nicht aufhalten. Ein Beispiel: Mit sechs Jahren steht für die meisten Kinder in Deutschland die Einschulung an. Die Kita beschließt jedoch: Nein, Hazel und ihr Bruder sind noch nicht so weit. „Dabei konnten wir bereits fließend Deutsch. Ich war eine richtige Quasselstrippe.“ Ihr Vater nimmt die Absage nicht hin. Er bringt die Kinder zu einem Psychologen. Dieser führt einen Sprach- und Intelligenztest mit den Kindern durch und attestiert, dass beide bereit sind für die Schule.

„Wie viel dieser Triumph wert war, haben wir erst verstanden, als wir unsere Mitschüler gesehen haben. Viele kamen aus dem Ausland und waren schon acht oder älter. Ihre Eltern haben sich an die Kita-Empfehlung gehalten.“ Für Hazel ging es ab dem ersten Schultag los mit dem Leistungsdruck. „Bei Elternabenden hat mein Vater immer gefragt, wer aktuell der oder die Klassenbeste ist. Und wenn nicht mein Name gefallen ist, dann hat er mich danach gefragt, warum. Aber was soll man da denn als Grund nennen?“

Auch in den Sommerferien geht der Stress weiter: Die Geschwister müssen Stoff fürs nächste Schuljahr vorarbeiten – während ihre Freunde es sich gut gehen lassen. „Für meine Eltern war das nicht verhandelbar. Wir sollten die Besten in der Schule sein und jede Chance nutzen, die wir hatten“, sagt Hazel Nguyen. Am schlimmsten für sie: der letzte Schultag. „Alle haben sich auf die Ferien gefreut, und ich hatte nur Angst vor dem Zeugnis. Habe ich doch in einem Fach eine Drei? Sind es genug Einsen? Wie ist mein Notendurchschnitt? Sind meine Eltern zufrieden?“

Die Angst vor schlechten Noten begleitete sie bis ins Studium. Wenn ihre Eltern fragen, wie es in der Uni läuft, sagt sie nur: Ich habe die Klausuren bestanden. Über Noten spricht sie nicht mehr. Den Abschluss schafft sie mit einem Durchschnitt von 2,7. Auch während des Studiums arbeitet sie stets im Steuerbüro, irgendwann steigt sie dort voll ein. Ihre Eltern sind zufrieden, und die Tochter denkt damals nicht über andere Berufswege nach. „Irgendwie schien mir schon alles besiegelt.“

Allerdings hat Hazel Nguyen neben dem Studium mit ihrem heutigen Ehemann schon ab und zu Videos für Youtube gedreht. „Rein aus Spaß, wir hatten nie ernsthaft daran gedacht, dass wir damit Geld verdienen könnten.“ Dass ausgerechnet ihr Wissen über Steuern den Ausschlag für eine Karriere in den sozialen Medien geben wird, ahnt sie nicht.

0823 banner

Kaufen

2018 reagiert sie auf ein Video des bekannten Youtubers Julien Bam. Dieser rechnete vor, dass er gar nicht so viel Geld verdiene, weil der Staat ihm einen Batzen davon wegnehme. Hazel Nguyen zeigt in einem Video: Stimmt nicht. Bis heute wurde das Video fast drei Millionen Mal geschaut.

Dank ihres Fachwissens bekommt sie 2019 ein eigenes Format beim öffentlich-rechtlichen Jugendsender Funk, sie gibt dort Finanztipps. Und traut sich, ihren Job im Steuerbüro zu kündigen – kurz bevor sie sich zur Steuerberater-Prüfung hätte anmelden können. „Das war echt keine leichte Entscheidung. Meine Eltern waren auch etwas enttäuscht. Aber ich habe es ihnen so verkauft, dass ich jetzt ja für eine staatliche Institution arbeite, etwas wofür sie auch quartalsweise Geld bezahlen, und dass das ja ein sehr guter Job ist.“

Das funktioniert, am Ende sind die Eltern einverstanden. Heute arbeitetet Hazel Nguyen selbstständig, stemmt alle Projekte mit ihrem Mann, einem Management und zeitweise mithilfe von Praktikanten und Aushilfen. Und weil ihr Business so erfolgreich läuft, ist es jetzt auch schon länger her, dass ihr Vater gefragt hat, wann sie denn zurück ins Steuerbüro geht.

Sie ist ihren Eltern trotz allem sehr dankbar und möchte ihnen etwas zurückgeben. Im Sommer 2022 spendiert sie ihnen mit ihren Geschwistern einen großen Familienurlaub in der Türkei. Und muss dazu deren Widerstand überwinden, denn: „Meine Eltern haben ihren Blumenladen seit der Eröffnung nie geschlossen. Sie sind immer getrennt voneinander in die Heimat zum Familienbesuch geflogen. Die Arbeit stand an erster Stelle. Also gab es nur einen Weg: Wir haben die Reise einfach gebucht und sie vor vollendete Tatsachen gestellt.“

Früher sorgten sich die Eltern um die Tochter, mittlerweile ist es umgekehrt: „Sie haben alles für uns gegeben und immer Geld an die Verwandtschaft in Vietnam gesendet. Sie haben nie die Chance gehabt, eine Geldreserve aufzubauen oder sich mal etwas zu gönnen.“ Das will Nguyen ändern: „Ich hoffe, dass ich meinen Eltern bald den Umzug in eine Eigentumswohnung ermöglich kann, damit sie eine Sorge weniger haben.“

Umeswaran Arunagirinathan
Herzchirurg, 45

Der Bürgerkrieg in Sri Lanka prägt die Kindheit von Umeswaran Arunagirinathan und seiner Familie. Die Mutter schickt den damals Zwölfjährigen 1991 allein mit Schleppern auf die Reise nach Deutschland, um ihn in Sicherheit zu bringen und ein besseres Leben zu ermöglichen. Es dauert acht Monate, bis Umes bei seinem Onkel in Hamburg ankommt. Er besucht dort erst die Realschule, schafft es dann ans Gymnasium, studiert nach dem Abitur Medizin und ist heute Herzchirurg und Autor mehrerer Bücher.

Drei Dinge muss Umeswaran Arunagirinathan seiner Mutter vor der Flucht versprechen. Erstens: nicht rauchen. Zweitens: kein Alkohol. Drittens: Arzt werden. Eine weitere Verpflichtung bleibt unausgesprochen. Der Junge muss die Schulden abbezahlen, die seine Familie für ihn aufgenommen hat. Sein Onkel in Hamburg hat der Familie 15 000 D-Mark für die Schlepper gegeben. Die Mutter sichert ihm am Telefon zu: „Umes wird dir keine Probleme machen und alles zurückzahlen.“

Die Bürde damals war groß, heute kann der Arzt locker darüber sprechen. Er hat gerade eine 24-Stunden-Schicht im Krankenhaus in Bremen hinter sich, ist direkt danach noch zu einer Veranstaltung für geflüchtete Jungen und Mädchen gegangen, denen er Mut zugesprochen hat. Jetzt gibt er noch das Interview und wirkt ausgeschlafener als so mancher nach acht Stunden Schlaf. Wenn er an seine Anfangszeit in Deutschland denkt, lächelt er. „Es war so schön, endlich wieder zur Schule gehen zu können.“ Auch für seine Familie ist der Schulbeginn im fernen Deutschland ein besonderes Ereignis. „Für meine Eltern gab es nur einen Weg zu einem besseren Leben: Bildung.“ Die Familie Arunagirinathan gehört zur Minderheit der Tamilen in Sri Lanka. Ihr Credo: „Wer sozial aufsteigen wollte, musste studieren und einen guten Job ergattern.“ In der Heimat stehen die Chancen dafür schlecht, in Deutschland soll der Junge es schaffen.

Und deswegen gilt: Gut ist nicht gut genug. Umes soll der Beste sein. Schon in Sri Lanka hatten sie ihn zur Nachhilfe geschickt: Bildung wurde fast zum Vollzeitjob des kleinen Jungen. 6 Uhr: Englisch-Nachhilfe. 7 Uhr: Frühstück zu Hause. 8 bis 13 Uhr: Schule. Mittagessen. 14 Uhr: wieder Nachhilfe. Ab 16 Uhr: Holz sammeln und den Eltern in der Landwirtschaft helfen.

In Deutschland angekommen, hat Umes zwar mehr Freizeit, aber der Leistungsdruck seiner Eltern erreicht ihn auch hier. Er schreibt ihnen regelmäßig Briefe, berichtet von seinem Leben und wie es in Deutschland läuft. Die Briefe seiner Eltern lauten fast immer gleich. Die erste Frage: Wie geht es dir? Die zweite Frage: Wie läuft es in der Schule? Seine Mutter schreibt ihm einmal: „Ich habe es nicht geschafft zu studieren. Ich habe geheiratet und Kinder bekommen. Deshalb will ich, dass du studieren gehst.“

Ihm sei schon klar gewesen, sagt Umes Arunagirinathan heute, „dass ich als ältester Sohn eine besondere Rolle in der Familie habe. Dass meine Eltern viel von mir erwarten. Schließlich haben sie und mein Onkel viel riskiert für mich. Der Erwartungsdruck war riesig.“ Er hat gelernt, mit dem Druck umzugehen – und die Ansprüche seiner Eltern zu seinen eigenen gemacht. „Mein Leben hat mich gelehrt, dass es immer einen Weg gibt, solange man sich nur genug anstrengt. Klingt kitschig, aber es stimmt zumindest bei mir.“

Also erarbeitet er sich ein Einser-Abitur, um einen Platz für Medizin an der Universität zu ergattern. Doch das Geld reicht nicht, Bafög bekommt er nicht, weil seine Eltern nicht in Deutschland leben. Also spült er Teller und arbeitet zusätzlich bei einer Fastfood-Kette. „Weil ich so wenig Zeit zum Lernen hatte, bin ich zweimal am Staatsexamen gescheitert. Alles drohte zusammenzubrechen.“ Seine Rettung: Ein paar Lehrkräfte sammeln für ihn so viel Geld, dass er zwei Monate Zeit zum Lernen hat. Und er besteht.

Seine Eltern in Sri Lanka bekommen von seinen finanziellen Nöten nichts mit. Denn der Sohn sendet jeden Monat Geld nach Hause. „So wurde es von mir erwartet. Schließlich war ich in Deutschland, einem reichen Land.“ Während des Studiums spart er jeden Monat 100 Euro, später sind es 200 Euro für die Krankenhausbesuche seines Vaters. Als er Assistenzarzt ist, schickt er monatlich 700 Euro, damit sein Vater zur Dialyse gehen kann. Und wenn die Geschwister heiraten, überweist er bis zu 3000 Euro. „Das hat immer ein großes Loch in meine Kasse gerissen. Aber das war der erwartete Dank an die Familie. So ist das in Sri Lanka eben.“

Als er sein Studium erfolgreich abgeschlossen hat, ruft er seinen Vater an. „Nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich jetzt Arzt bin, hat er mir das erste Mal in meinem Leben gesagt, dass er stolz auf mich ist.“ Und seine Mutter? Sie konnte sich gar nicht mehr an die Ansagen erinnern, die sie ihrem Sohn mit auf den Weg nach Deutschland gegeben hatte. „Dabei habe ich mich an alles gehalten. Ich habe nie geraucht, keinen Alkohol getrunken und bin Arzt geworden.“

Hatte seine Mutter es gar nicht so ernst gemeint mit der Verpflichtung?

„Ich glaube schon, dass es ihr sehr ernst war. Meine Schwester war kurz vor meiner Flucht gestorben, ein Arzt hätte sie vielleicht retten können. Aber am Ende zählte für meine Mutter dann einfach, dass etwas aus ihrem Sohn geworden ist. Und das erzählt sie auch jedem – ob er es hören will oder nicht.“

Umes Arunagirinathan hat seinen Job als Herzchirurg in Bremen gerade gekündigt. Er sieht dort keine Aufstiegschancen, deshalb hat er einen Schlussstrich gezogen. Halbe Sachen macht er nicht. Es muss immer weiter nach oben gehen. Deshalb stehen hinter ihm im Arbeitszimmer auch schon allerlei gepackte Umzugskartons. Dabei weiß er noch gar nicht, wo es hingeht. Noch hat er keine Zusage aus einer anderen Klinik, und in einer Woche ist er offiziell arbeitslos. Aber das stresst ihn nicht. „Sorgen mache ich mir gar keine. Als Herzchirurg bekommt man immer einen Job – und eine Wohnung im Wunschort.“

Wenn man sich anstrengt, kann man alles schaffen – das ist für ihn mittlerweile auch ein Ausdruck von Zuversicht, die ihm seine Mutter mit auf den Weg gegeben hat. „Sie ist so eine starke Frau, hat alles für uns Kinder getan und vieles aufgegeben. Ich hätte es deshalb nie ertragen, meine Mutter zu enttäuschen. Deshalb war für mich klar: Ich werde Arzt, wie sie es immer wollte, und sage ihr damit danke für alles.“ ---

Bildschirmfoto 2023-07-26 um 11.25.08

Die Statistik zeigt: Menschen mit Migrationshintergrund schaffen es häufiger an Hochschulen, wenn ihre Eltern weder einen Schulabschluss noch eine Berufsausbildung haben; Quelle für die Grafik: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)