Was Menschen bewegt

Der Umzugsunternehmer

Holger Seidemann quartiert Zauneidechsen um – und hat daraus ein Geschäft gemacht, von und mit dem er gut leben kann.





Selten findet Holger Seidemann auch rotbraune oder schwarze Zauneidechsen – wie auf dem Foto des Tagesfangs (oben). 


Gewöhnlich haben sie eine bräunliche Grundfarbe

• Holger Seidemann ist gut vorbereitet auf seine heutige Mission. Zu braunen Wanderschuhen trägt er ein langärmeliges Hemd und eine weiße Kappe, um sich vor der Sonne zu schützen. „Immer, wenn ich unter der Schiebermütze anfange zu schwitzen, kommen die Eidechsen“, sagt er, während sein Blick über die verdorrte Landschaft streicht. Hier, rund 100 Kilometer östlich von Leipzig, sollen bald Solarpaneele Sonnenlicht in dringend benötigte grüne Energie umwandeln. Doch bislang tummeln sich auf der 15 Hektar großen Fläche Zauneidechsen. Weil die in der EU zu den streng geschützten Arten zählen, müssen sie umquartiert werden. „Evakuieren“, nennt Seidemann das.

Der 53-Jährige kann stundenlang über Zauneidechsen reden. Bereits auf der Hinfahrt von Leipzig sprudelte ein Detail nach dem anderen aus ihm heraus. Was sie gerne fressen: Heuschrecken und Spinnen. Wer sie gerne frisst: Katzen und Falken. Was sie Besonderes können: schwimmen. Wie viele Monate sie pro Jahr aktiv sind: etwa sechs. Warum sie gefährdet sind: Weil der Mensch viele ihrer Lebensräume, etwa natürliche Flussufer, zerstört. Und wo der Schutz dieser Reptilien geregelt ist: in der europäischen Fauna-Flora-Habitat-(FFH)-Richtlinie von 1992.

Seidemann ist kein Träumer, der in seiner Freizeit Wiesen nach Echsen absucht. Er hat den Artenschutz zu seinem Business gemacht. Viele Jahre hat er damit verbracht, Gesetzestexte zu studieren, um Straßenerweiterungen, Schweinemastanlagen oder Baumfällungen zu verhindern. Er hat gegen den Freistaat Sachsen und das Luftfahrt-Bundesamt geklagt. Heute bietet er Firmen eine Art All-Inclusive-Service an: Er untersucht, ob schützenswerte Arten in einem Gebiet vorkommen, schreibt Gutachten für die Auftraggeber zur Einreichung bei der Naturschutzbehörde, baut Ersatzhabitate für die Tiere, fängt sie und beobachtet, wie die Population sich nach dem Umzug entwickelt. Er setzt also auf Kooperation. Das war früher anders.

Auf der Pirsch

Ankunft in der sächsischen Gemeinde Zeithain. Auf dem Gelände eines ehemaligen Truppenübungsplatzes wächst ein Solarpark von mehr als 90 Hektar heran, für dessen Betreiber Enerparc Seidemann schon diverse Echsen-Umzüge organisiert hat. In der Regel werden die Tiere auf eine angrenzende Fläche umquartiert und können in ihr altes Zuhause zurückkehren, wenn die Solarpaneele stehen. Aber erst müssen sie umziehen: „Ich weiß schon, wo ich hingehe – ich habe eine Lieblingsstelle“, sagt Seidemann und stapft los durch das trockene Gras. In der linken Hand trägt er zwei Kescher, in der rechten einen Eimer. Die Sonne drückt bereits, obwohl es erst kurz nach zehn Uhr morgens ist. Seidemann bewegt sich langsam, den Oberkörper nach vorne gebeugt sucht er den grün-bräunlichen Boden ab. Wie soll man da eine gleichfarbige Echse erkennen? Während man selbst noch angestrengt versucht, eine zu erspähen, hat er bereits mehrere Tiere eingesammelt. Sie sehen aus wie kleine Krokodile mit glänzenden Schuppen. „Das sind richtige schöne Reptilien“, sagt Seidemann. „Und bei uns heimisch!“

Die Reporterin versucht ihr Glück weiter: „Da ist eine“ – aber es ist eine Maus. Seidemann lacht und gibt Tipps: Man müsse sich bei der Jagd auf sein Gehör verlassen. Und am besten funktioniere es, wenn man nicht versuche, die Tiere zu fangen, sondern sie sanft in den Kescher zu lenken. Er demonstriert es, in dem er einen positioniert und mit dem anderen Kescher eine Echse dort hineinleitet. Ein bisschen so, wie Hütehunde es mit einem Schaf tun.

Tatkräftigere Unterstützung haben Seidemann und sein Mitarbeiter Frank Eichhorn heute von einer Praktikantin und drei Honorarkräften. Die Pause verbringen sie auf Campingstühlen. Sie trinken Limos, fachsimpeln über Fangtechniken und tauschen sich über Ecken aus, an denen sie noch Echsen vermuten („da hinten, über dem Hügel“). Sie wirken nicht wie Mitarbeiter von Seidemann, eher wie alte Freunde. Während der Rest sitzt, raucht er, an eines der Autos gelehnt, eine selbstgedrehte Zigarette.

Artenschutz finden viele Menschen wichtig, aber nur wenige tun etwas dafür. Die Arbeit hier ist schweißtreibend: Es dauert oft Monate, Echsen in einem Gebiet einzufangen. Aber Seidemann wirkt, als könnte er sich nichts Entspannenderes vorstellen. Was treibt ihn an? „Ich möchte, dass meine Kinder und Kindeskinder weiterhin alle Tiere und Pflanzen sehen können.“ Außerdem wolle er „nicht mehr wie früher das ganze Leben im Büro verbringen. Es ist sehr wichtig für mich, draußen zu sein.“ Beim Fangen verfalle er oft in einen fast meditativen Zustand, sagt er. „Währenddessen vergisst man alles.“

Seidemann wächst in den Siebzigern mit einem älteren Bruder in Leipzig auf, der Vater ist Forschungsingenieur, die Mutter Verwaltungsleiterin in einem Lehrlingswohnheim. Mit ihren Söhnen gehen sie oft wandern. Abends bestimmen sie die Arten, die ihnen begegnet sind. Seidemann interessiert sich vor allem für Pflanzen, in seinem Kinderzimmer züchtet er Zitronenbäume, Kartoffel- und Kaffeepflanzen, als Jugendlicher ist er fasziniert von englischen Landschaftsparks und unternimmt mit dem Rad mehrtägige Touren in die Oberlausitz, wo sich einer der größten Parks dieser Art befindet.

Nach der Schule macht er eine Ausbildung zum Modelltischler und dient als sogenannter Bausoldat, die DDR-Variante für Wehrdienst-Verweigerer. Damit habe man dem Staat zeigen können, „dass man keine Lust auf ihn hat“. Der rächt sich meist, indem er Bausoldaten ein Studium verwehrt. „Damals war ich natürlich jung und naiv“, sagt Seidemann, „gut, dass dann die Wende kam“. Auch wenn er sich ein anderes geeintes Deutschland gewünscht hätte, eines ohne „Kapitalmaximierung als Leitbild“. Bei der Wiedervereinigung ist er 20 Jahre alt. Danach studiert er Kulturwissenschaft und wird zum Hausbesetzer, um zu verhindern, dass marode Gründerzeitgebäude im Leipziger Stadtteil Connewitz abgerissen werden. Mit seinen Mitbewohnern begrünt er Dächer und Fassaden und organisiert einen Bioladen mit Gemeinschaftskasse.


Holger Seidemann kümmert sich auch um andere geschützte Arten – etwa Blindschleichen

Wo alles begann

Ein regnerischer Herbsttag im Leipziger Auwald. Die rund 2500-Hektar große Naturlandschaft zieht sich quer durch die Stadt und nimmt rund zehn Prozent der Fläche ein. Ein idyllischer Ort, abgesehen vom Rauschen der vorbeifahrenden Autos. „Noch so ’ne DDR-Sünde, dass man hier eine Bundesstraße durchgejagt hat“, sagt Seidemann. Seine Schirmmütze und Stoffjacke sind völlig durchnässt, aber das scheint ihn nicht zu stören. Er mag den Auwald bei jedem Wetter, es ist ein wichtiger Ort für ihn. Hier begann seine erste Karriere: als Umweltkläger.

Seidemann hat drei Kinder, bei der Geburt des ersten war er 28 Jahre alt und studierte noch. Wenn die Kinder schlecht schliefen, wickelte er sie in ein Tragetuch und spazierte mit ihnen durch den Auwald. „Wenn man so viel Zeit in der Natur hat, fällt einem vieles auf“, sagt er. „Nach der Wende sah man viele gefällte Bäume. Das nahm so zu, dass es das Ortsbild verändert hat. Das hat mich sehr unzufrieden gemacht.“ Er habe damals angefangen, beim Amt anzurufen: Gab es eine Fällgenehmigung? Oft gab es keine.

Seidemann hat kein Problem damit, Leuten für das, was ihm wichtig ist, auf den Zeiger zu gehen. Sein späterer Klage-Kompagnon Wolfram Günther, Rechtsanwalt und mittlerweile sächsischer Umweltminister, sagt: Seidemann habe schon damals klar gesehen, wie man Dinge in geregelte Bahnen bringt, „ganz anders als bei anderen aus der Szene“. Das zeigt sich auch nach dem Studium, als Seidemann beim Leipziger Umweltschutzverein Ökolöwe anheuert.

In der DDR wurde die Umweltbewegung unterdrückt, weil die von der Industrie verursachten ökologischen Probleme nicht ins Bild eines besseren Deutschlands passten: der Smog, die sterbenden Wälder und die verseuchten Gewässer. Nach der friedlichen Revolution, die die Umweltschützer mit vorangetrieben hatten, stießen sie ein Nationalpark-Programm an: Zwölf Prozent der DDR-Fläche wurden noch vor der Wiedervereinigung unter Schutz gestellt.

Damals entstand aus der Bewegung auch der Ökolöwe als einer der ersten unabhängigen Vereine Leipzigs. Peter Hartelt, 58, war schon bei der Gründungsversammlung dabei, inzwischen sitzt er im Vorstand. Im Jahr 2000 warb er Seidemann für die Öffentlichkeitsarbeit an. „Holger war der Meinung, dass wir professioneller werden mussten“, sagt Hartelt am Telefon, „und das stimmte auch“. Seidemanns Argument: Um etwas zu bewegen, brauche es nicht nur Protest, sondern auch Fachwissen und juristischen Druck. „Das war ein ganz neues Denken, unsere – ich sach’ jetzt mal – Sponti-Aktionen zu erweitern, so dass man in einer rechtlichen Auseinandersetzung erfolgreich sein kann.“ Für den Verein sei das eine Bereicherung gewesen.

Seidemann arbeitet sich damals ins Naturschutzrecht ein. Als der Freistaat Sachsen 2002 die Deiche im Auwald roden will – die Argumentation lautet, die Bäume gefährdeten den Hochwasserschutz – verfasst er handschriftlich seine erste Klage, die er mit dem Fahrrad zum Gericht bringt. Der erste Anlauf geht daneben, beim zweiten Mal gewinnt der Ökolöwe. Die Bäume bleiben stehen. Seidemann sagt, damals habe er die Kraft des Gesetzes entdeckt.


Zentimeter für Zentimeter sucht Seidemann (Mitte) die Fläche nach Eidechsen ab. Die Reptilien wohnen meist in Bodenlöchern

Zwei Überzeugungstäter

Im Jahr 2004 macht er sich selbstständig und schließt sich mit dem Verwaltungsrechtler Wolfram Günther zusammen. Nicht offiziell, da Seidemann kein Jurist ist – aber sie beziehen zwei Büros nebeneinander, schreiben gemeinsam Gutachten und lancieren Klagen. Kann man damit allein Geld verdienen? „Nee“, sagt Seidemann und lacht. Anfangs hätten sie sich mit Aufträgen von Mandanten über Wasser gehalten – etwa Landwirten, die Straßen weichen sollten. Der Neubau von Straßen ist für Seidemann ein rotes Tuch, es gebe bereits mehr als genug. Aber bedroht die intensive Landwirtschaft nicht auch die Artenvielfalt? „Ein Acker ist immer wertvoller als eine versiegelte Straße“, entgegnet er. Den könne man auf Öko-Landwirtschaft umstellen, „bei einer Straße ist es so: Wenn sie einmal da ist, bleibt sie“.

Dass die beiden anfangs nicht viel Geld verdienten, habe sie nicht gestört, sagt Seidemann. „Uns waren die Sachen ja wichtig“, sagt er und blickt in den Wald, der auch dank seiner Hartnäckigkeit gut dasteht. „Dafür haben wir die finanzielle Situation in Kauf genommen. Wir haben gemerkt: Wenn wir ein Verfahren gewinnen, kann das deutschlandweit Ausstrahlungen haben.“

Anfang der Nullerjahre waren einige EU-Naturschutzrichtlinien noch nicht in deutsches Recht übertragen worden. Seidemann und Günther versuchten, diese Regelungen dennoch durchzusetzen. 2005 sei ihnen das etwa gelungen, sagt Seidemann. Damals unterstützten sie die Klage des Naturschutzbunds Sachsen gegen den Bau einer Ortsumgehung. Günther und Seidemann erzielten damals einen Vergleich, durch den ein Abschnitt verhindert wurde, der ein Waldgebiet zerschnitten hätte. Die Begründung: mehrere dort lebende Fledermausarten, die laut EU-Recht geschützt werden müssen. „Dadurch wurde das zurückhängende Bundesnaturschutzgesetz modernisiert“, sagt Seidemann. Denn: Urteile haben oft eine Signalwirkung für künftige Verfahren. „Wir waren dabei aber nur ein Rädchen – es gab eine ganze Reihe von Anwälten, die über den Klageweg mehr Artenschutz einforderten.“

Die Umweltkläger knüpften damals auch Kontakte in die Landespolitik, sie arbeiteten für die Grünen an kleinen Anfragen mit oder traten als Sachverständige auf. 2014 ging Günther in die Politik: Er kandidierte für die Grünen und zog in den Sächsischen Landtag ein. Nach zehn Jahren der Zusammenarbeit läutete die beginnende politische Karriere des Juristen das Ende der gemeinsamen Klagen ein. Aber Seidemann wirkt aufrichtig, als er sagt: „Ich hab’ mich gefreut, dass der Wolfram den Schneid hatte, diesen Weg zu gehen. Da sah ich unsere Ideen sehr gut vertreten.“ Für ihn habe sich dadurch die Chance ergeben, weniger Zeit im Büro zu verbringen: „Irgendwann saß ich nur noch am Rechner und habe versucht, die Natur zu schützen, die ich nicht mehr erleben konnte.“

Anruf bei Wolfram Günther. Wenn der Minister über Seidemann spricht, klingt Wertschätzung durch. Der 50-Jährige ist bis heute mit ihm befreundet, kennengelernt haben sie sich in der Studienzeit. Sie hatten gemeinsam, dass sie nicht nur über Naturschutz reden, „sondern einen Hebel finden wollten, wie man ihn auch umsetzt“. Anfangs hätten ihre Gegner vor Gericht sie oft nicht ernst genommen, sagt Günther – „die dachten, da kommen bloß irgendwelche aufgeregten Naturschützer. Wir sind dann bewusst im feinen Anzug gekommen“. Ihren Respekt, sagt er in schönstem Juristen-Deutsch, hätten sie sich durch das „konsequente Begehen des Rechtswegs“ erarbeitet.

Was er an der Kooperation mit Seidemann besonders geschätzt hat? „Holger geht gern unkonventionelle Wege“, weshalb es Spaß mache, mit ihm zu arbeiten. Und: „Wenn der sich ein Thema vornimmt, dann auf allerhöchstem Niveau. Er hat sich damals in Tier- und Pflanzenarten reingearbeitet, über die es kaum Publikationen gab.“ Dieses Fachwissen zu nutzen, um etwas zu bewegen, habe ihn stets angetrieben. „Mittlerweile verdient er damit sein Geld“, sagt Günther.


Holger Seidemann (Mitte hinten) mit Honorarkräften, die ihn bei der Arbeit unterstützen

Kompromiss statt Konfrontation

Neun Jahre ist es her, dass Seidemanns zweite Karriere begann. Heute organisiert er bis zu acht Echsen-Umzüge pro Jahr. Sein Planungsbüro macht einen sechsstelligen Umsatz, gut ein Drittel davon mit Aufträgen von Solarparks. Seidemann kümmert sich auch um andere Arten, etwa Wechselkröten, aber seine Lieblinge sind die Zauneidechsen.

Das zeigt sich auch in seinem Büro im Leipziger Westen. Im Sommer ist er wenig hier, meist, wenn das Wetter schlecht ist. In dem großzügigen Raum mit alten Dielen fühlt man sich fast, als sei man draußen. Es gibt viele Fenster, eine Palme, an den Wänden hängen Malereien des Auwalds und die anatomische Zeichnung einer Eidechse. Im Regal stehen eng gedrängt Fachwerke, in einer Ecke befindet sich ein Terrarium, darin päppelt er hin und wieder verletzte Echsen auf.

Seidemann sagt über sich selbst: „Früher war ich sicher etwas heißsporniger. Dass man sich nicht konfrontativ aufeinander zu bewegen muss, sondern auch eine Einigung anstreben kann – die Idee kriegt man vielleicht erst, wenn man etwas älter ist.“ Und einen Kompromiss zu finden, mit dem alle glücklich sind, das mache schon zufrieden.

Allerdings hat sich auch die Lage verändert. Es gibt unter anderem Druck von der EU, mit dem Naturschutz in Deutschland Ernst zu machen (siehe Kasten unten). Und die gesellschaftliche Stimmung hat sich gedreht. „Als wir anfingen, galten wir Ökos oft als die völligen Spinner: Tiere? Deshalb sollen wir jetzt ein Bauprojekt verschieben?“ Heute gebe es einen Konsens darüber, dass Artenschutz wichtig sei – auch bei den meisten Unternehmern. „Die haben verstanden: Ist Gesetz, und wenn ich’s ordentlich mache, habe ich keine Verzögerung.“ Es gebe allerdings immer noch welche, die sparen wollten und versuchten, etwa die Zahl der Fangtage zu drücken. Bei solchen Anfragen winke er ab, sagt Seidemann. „Da bin ich schmerzfrei: Wenn’s nicht passt, passt’s nicht.“ Er habe genug Anfragen, um auswählen zu können.

Könnte nicht auch ein Interessenkonflikt entstehen, wenn man Artenschutz wirtschaftlich betreiben will? „Das könnte passieren. Aber wenn jemand schlampig arbeitet, rächt sich das und verzögert das Projekt.“ Zudem gebe es mit den Naturschutzbehörden eine Kontrollinstanz. Für die verfasst Seidemann unter anderem ein Konzept, das freigegeben werden muss, und ein Abschlussgutachten, das die Arbeit schriftlich und fotografisch dokumentiert.

Das neue Zuhause der Zeithainer Echsen grenzt direkt an den Solarpark an. Ein Zaun hindert sie daran, auf die Baufläche zurückzukehren. Weiter weg werden die Tiere nur in Ausnahmefällen gebracht, auch um das Stresslevel so gering wie möglich zu halten. Die Reptilien sind ortstreu und überleben Umzüge an einen neuen Standort teilweise nicht. Solche sogenannten Umsiedlungen unterliegen strengeren Vorschriften und werden in der Fachwelt kritisch gesehen.

Aus eins mach zwei

Für Laien sieht das Ersatzhabitat aus wie eine Ansammlung von Hügeln. Seidemann und seine Leute haben diese aus Sand und Holz errichtet, es wächst Gras auf ihnen. „Da sind Spinnen und Grashüpfer drinnen“, sagt Seidemann. Er deutet auf Steine entlang des Walls: „Darunter können sie ihre Eier ablegen“ und auf ein Haufwerk von Ästen: „Hier können sie sich verstecken, zum Beispiel vor Falken.“

Nach 130 Tagesschichten ist die Arbeit in Zeithain inzwischen getan, laut Seidemann wurden 1200 Tiere gefangen. Zurzeit werden die Paneele errichtet. Sobald die stehen, wird der Zaun entfernt und die Echsen können zurückkehren. In Solarparks werde nur ein, zwei Mal im Jahr gemäht, sagt Seidemann. „Das gefällt ihnen besser als unsere oft zu stark gepflegten Landwirtschaftsflächen.“ Und locke auch andere Arten an, etwa Wildbienen.

Langfristig bewahrt Holger Seidemann also nicht nur das alte Zuhause seiner Echsen, sondern schafft mit dem Ersatzhabitat – das erhalten bleibt – ein zusätzliches. Wahrscheinlich ist das einer der Gründe, warum der Umzugsunternehmer so glücklich ist mit seinem Job. ---

Mit Holger Seidemann stand die Autorin ein Jahr lang in Kontakt. Sie besuchte ihn zwei Mal in Leipzig: Im September 2022 begleitete sie ihn beim Eidechsenfangen, im November liefen sie Stationen seines Lebens ab, von Connewitz im Süden bis Plagwitz im Westen.

Die Zauneidechse ist in Deutschland vor allem im Süden und Osten verbreitet. Ihren Namen verdankt sie der Tatsache, dass sie oft in der Nähe von Zäunen zu finden ist. Die Tiere haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von sechs Jahren. Ihre ursprünglichen Lebensräume (etwa natürliche Flussufer) sind heute kaum noch zu finden, und auch die stattdessen besiedelten Habitate wie die Randbereiche von Bahnstrecken oder Waldrändern sind durch Baumaßnahmen wie Lärmschutzwände oder Aufforstungen gefährdet.

Mit anderen bedrohten Arten ist die Zauneidechse im Anhang IV der europäischen Fauna-Flora-Habitat(FFH)-Richtlinie aufgeführt. Sie schreibt vor, dass EU-Staaten Schutzgebiete ausweisen und sicherstellen müssen, dass geschützte Arten und ihre Habitate erhalten werden. Deshalb müssen Zauneidechsen bei Bauvorhaben umquartiert werden. Um möglichst viele zu retten, ist Holger Seidemann fast die gesamte Aktivitätszeit von April bis Oktober unterwegs. Erst wenn die Fänger tagelang keine Echsen mehr entdecken, beenden sie die Arbeit. Mindestens 80 Prozent würden umgesiedelt.

In Deutschland verlief die Umsetzung europäischer Naturschutzrichtlinien in der Vergangenheit schleppend: Die EU-Kommission hat die Bundesrepublik mehrfach wegen der mangelnden Umsetzung der FFH- Richtlinie ermahnt und um Stellungnahme gebeten. 2021 folgte die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Die Kommission kritisierte unter anderem, dass Deutschland viele Naturschutzgebiete nach wie vor nicht ausgewiesen hat – obwohl dies bereits im Stichjahr 2010 hätte geschehen sollen.