Loslassen

Hallt der Erfolg der Vergangenheit noch nach, fällt die Neuorientierung schwerer. Das zeigt der Blick auf die deutsche Autoindustrie, die sich der Elektromobilität viel weniger konsequent zuwandte als die lange belächelte Konkurrenz aus China. Wie kann sie jetzt Schritt halten?





• An einem sonnigen Morgen im April 2021 sagte der damalige China-Chef des Volkswagen-Konzerns, Stephan Wöllenstein, einen Satz, der für sich genommen nach einer klaren Neuausrichtung klang, nach Entschlossenheit. Er stand im Modern Art Museum in Schanghai, einem kubistischen Glasbau inmitten des futuristischen Finanzbezirkes der 23-Millionen-Metropole, und sagte: „Unsere Zukunft ist eine elektronische.“ Dann präsentierte er der Weltöffentlichkeit den ID.6: einen fast fünf Meter langen, elektrisch betriebenen SUV.

Jahrzehntelang hatte der deutsche Autobauer mit Verbrennermotoren den chinesischen Markt dominiert. Und jetzt dieses Bekenntnis zu der elektrischen Antriebstechnik, bei der sich nicht nur Elon Musk mit Tesla einen Vorsprung gegenüber VW erarbeitet hatte.

Doch so entschlossen Wöllenstein auch sprach – er tat es aus der Position eines Getriebenen, der zwar verstanden hat, dass das alte Erfolgsmodell am Ende ist, er aber ein neues noch nicht hat.

Bereits während der Präsentation des ID.6 begann die anwesende Presse über den „klobigen Panzer auf vier Rädern“ zu tuscheln: Die chinesische Konkurrenz könne längst mit extravaganteren Designs aufwarten, entwickle langlebigere Batterien und sei zudem deutlich billiger. Welcher Kunde lasse sich da noch von „made in Germany“ überzeugen?

Die Skepsis war berechtigt, wie die Entwicklung des Marktes für E-Autos in China belegt. 2022 wurden knapp 80 Prozent aller E-Autos von einheimischen Herstellern verkauft. Von den restlichen 20 Prozent fallen fast drei Viertel auf Tesla. Die einstigen Kuchenstücke der Deutschen sind zu Krümeln geworden: Volkswagen hält einen Marktanteil von gerade mal 2,4 Prozent; BMW liegt bei 0,8 Prozent, Mercedes bei 0,3 und Audi bei 0,1.

China ist der größte Pkw-Markt der Welt, allein darum sind die dortigen Verhältnisse für die Branche so wichtig. Interessant ist der Blick in das Land aber auch, weil den Chinesen selbst die Wende zur Elektromobilität viel besser gelungen ist als Deutschland und anderen Nationen mit traditionell starker Autoindustrie. Die Folge: China ist still und heimlich zu einem globalen Auto-Exporteur avanciert und wird in der weltweiten Rangliste wohl noch im laufenden Kalenderjahr Deutschland von Platz zwei verdrängen. Allein der in Shenzhen ansässige E-Auto-Produzent BYD (Build Your Dreams) möchte noch in diesem Jahr 800 000 Fahrzeuge ins Ausland liefern.

Im November 2014 trat Chinas Staatschef Xi Jinping bei einem Werksbesuch des Staatsunternehmens SAIC Motor vor die Öffentlichkeit, um die chinesische Wende zur Elektro-Mobilität zu verkünden. „Die Entwicklung von Elektrofahrzeugen ist eine Chance, unsere nationale Kraft zu demonstrieren, und es ist auch ein Bereich, in dem wir eine Führungsrolle spielen müssen, um die nationale Sicherheit zu gewährleisten“, sagte er und ergänzte: „Wir müssen uns bemühen, die gesamte Wertschöpfungskette der Elektrofahrzeuge zu beherrschen.“ Er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass es ihm keineswegs nur darum ging, die apokalyptischen Feinstaubwerte aus den Innenstädten zu vertreiben. Xi Jinping wollte eine heimische Automobilindustrie aufbauen, die künftig nicht nur mithalten, sondern der internationalen Konkurrenz einen Schritt voraus sein sollte.

Chinas Lektion

In Ingolstadt, Stuttgart und Wolfsburg wurden diese Ambitionen lange Zeit belächelt, schließlich galten chinesische Verbrenner-Autos als Ladenhüter. Schon seit den Fünfzigerjahren, also noch zu Zeiten von Staatsgründer Mao Tsetung, hatte die Parteiführung versucht, wettbewerbsfähige Fahrzeuge zu produzieren. Doch das misslang trotz hoher Subventionen. Später, ab den Neunzigerjahren, warb man, im Bewusstsein der eigenen technischen Rückständigkeit, um ausländische Direktinvestitionen. China holte sich unter anderem Autobauer aus Deutschland ins Land und verpflichtete sie zu lokalen Joint Ventures. Die Chinesen tauschten somit den Zugang zu ihrem riesigen Markt gegen Know-how. Ihr Ziel, mit der deutschen Konkurrenz gleichzuziehen, wurde aber nicht erreicht. Deren Vorsprung auf dem Gebiet hochkomplexer Verbrennungsmotoren war zu groß.

In China galt die Rückständigkeit der eigenen Autoindustrie als nationale Schande. Die Parteiführung setzte alles daran, die Branche voranzubringen. Weder an Wahlzyklen noch an rechtsstaatliche Gesetze gebunden, plant sie langfristig. Früher als andere erkannte sie, dass der globale Automarkt sich radikal verändern würde: Da alle Hersteller die Motoren der Zukunft von Grund auf entwickeln müssten, hätten auch alle die gleichen Chancen. Man beschloss, nicht länger die Entwicklung von Verbrennermotoren voranzutreiben, sondern setzte konsequent auf die neue Antriebstechnik.

2009 definierte die Zentralregierung erstmals New Energy Vehicles (NEV) als eine von sieben strategischen Zukunftsindustrien. In den kommenden Jahren installierte der Staat mehr öffentliche Ladestationen als der gesamte Rest der Welt zusammen, derzeit sind es bereits rund 1,8 Millionen. Sämtliche Autobauer müssen sich zudem seit 2018 dazu verpflichten, den Anteil von E-Autos innerhalb der Gesamtproduktion gemäß einer festgelegten Quote zu steigern. Gleichzeitig wurde die Vergabe von Nummernschildern für neue Benzin- und Dieselautos in den großen Städten massiv gedrosselt, während der Kauf von E-Autos durch Subventionen gefördert wurde.

Dieser Plan ging auf: Der chinesische Markt für E-Autos hat seitdem eine beeindruckende Dominanz entwickelt. 2021 wurden dort rund 3,5 Millionen E-Autos verkauft, 2022 bereits 6,5 Millionen. 2023 könnten es Prognosen zufolge mehr als 10 Millionen sein. Sieben von zehn E-Autos weltweit werden derzeit im Reich der Mitte verkauft.

Viele ausländische Unternehmen werden im Zuge dieser Transformation aus dem Markt gedrängt. Hyundai aus Südkorea hat seine Präsenz in China bereits deutlich verringert, die Japaner, wie etwa Toyota, spielen im Elektro-Segment kaum eine Rolle.

Weltweiter Marktführer bei Elektroautos ist das US-Unternehmen Tesla. Dessen Chef Elon Musk sieht die erfolgsverwöhnten deutschen Konzerne nicht als seine schärfsten Konkurrenten an. „Wenn ich raten müsste, dann wird wahrscheinlich ein Unternehmen aus China am ehesten den zweiten Platz hinter Tesla einnehmen“, sagte er Anfang 2023 bei der Präsentation der Unternehmenszahlen.

Tu Le, Chef der auf Mobilität spezialisierten Pekinger Beratungsfirma Sino Auto Insights, sieht es ähnlich: „Die Deutschen leugnen weiterhin, was vor sich geht. Die breite Belegschaft unterhalb der Geschäftsführung hat von E-Mobilität nach wie vor keine Ahnung“, sagt der chinesischstämmige Amerikaner. Die altgedienten Ingenieure aus Wolfsburg, Stuttgart und Ingolstadt hätten eine regelrechte Angst vor Software und seien nicht bereit, sich umzuorientieren. „Sie müssen einfach schneller agieren und höhere Risiken eingehen.“


„Mein Tipp wäre, die Entwicklungsabteilung nach China zu verlegen.“

Unbedarfte Newcomer

Es ist kein Zufall, dass die Entwicklung von E-Autos von Außenseitern vorangetrieben wird. Der vom US-Investor Warren Buffett unterstützte chinesische Hersteller BYD war ursprünglich ein Batterie-Produzent, Xiaomi und Baidu sind agile Tech-Unternehmen, vollkommen unerfahren auf dem Gebiet der Serienfertigung von Automobilen. Beide entwickeln gerade E-Modelle, die mit reichlich smarter Technik ausgestattet sein sollen. Ihr Vorteil gegenüber traditionellen Herstellern ist, dass sie das Auto der Zukunft neu denken können, ohne sich erst schmerzhaft und gegen Widerstände von bewährten Strukturen und Prozessen lösen zu müssen.

Bei den Chinesen kommt ein weiterer Vorteil hinzu: Das Land verfügt über einen Großteil aller weltweit vorhandenen Seltenen Erden, welche für die Produktion von Elektro-Batterien essenziell sind. Die Folge: Seit sechs Jahren ist das im südchinesischen Ningde ansässige Unternehmen CATL Branchenführer bei E-Auto-Batterien, und laut Prognosen des Marktforschungskonzerns Bernstein werden Chinesen die Spitzenposition bis mindestens 2030 halten.

Der Berater Tu Le glaubt, dass deutsche Autobauer Teile ihres Managements austauschen und durch branchenferne Führungskräfte aus dem Silicon Valley oder von chinesischen Internetfirmen ersetzen müssten, um den Anschluss nicht zu verlieren. Einen radikalen Umbau plante laut Medienberichten auch der ehemalige Volkswagen-Chef Herbert Diess. Er soll mit dem Gedanken gespielt haben, 30 000 Stellen zu streichen. Doch wenig überraschend führten seine Pläne in dem Unternehmen mit starkem Betriebsrat und staatlicher Beteiligung zu enormem Widerstand. Im September 2022 musste Diess seinen Platz räumen.

Sein Nachfolger Oliver Blume gilt als eher moderat. Doch auch er hat radikale Schritte angekündigt. Nach langem Zögern ist er zuletzt in einen Preiskampf auf dem chinesischen Markt eingestiegen, den man lange Zeit vermeiden wollte. Volkswagen bietet seit diesem Frühjahr auf seine ID-Modelle Rabatte von bis zu umgerechnet mehr als 5000 Euro an. Zudem kündigte der 54-jährige Manager Mitte März eine Investition an, die angesichts ihrer Dimension von außerordentlicher Dringlichkeit zeugt. In den nächsten fünf Jahren will Volkswagen 180 Milliarden Euro in die Elektro-Verkehrswende stecken, wobei der Großteil in die Batterie-Produktion sowie in die Sicherung kritischer Rohstoffe fließen soll.

Dass die Lage für die deutschen Autobauer ernst ist, steht außer Frage. Ferdinand Dudenhöffer, einer der besten Kenner der Branche, zeigt sich dennoch optimistisch. „Ich glaube, der Aufholprozess wird jetzt schnell gehen“, sagt der Direktor des CAR-Center Automotive Research mit Sitz in Duisburg. Zumindest wenn Volkswagen und andere Unternehmen die richtige Lehre zögen: einen radikalen Willen zur Kooperation. „Man kann die Aufholjagd nur gewinnen, wenn man zu partnerschaftlichen Lösungen bereit ist“, sagt Dudenhöffer. „Mein Tipp wäre, die Entwicklungsabteilung nach China zu verlegen.“

Der Experte sagt, dass die Chinesen bei künstlicher Intelligenz, Software und Big Data einen Vorsprung erreicht hätten, den Europa selbst mittelfristig nicht werde aufholen können. Schon die strengen Regulierungen innerhalb der EU würden dies verhindern. In gewisser Hinsicht ähnelt sein Rat dem Schritt, den die chinesische Staatsführung vor 15 Jahren propagierte: Statt sich auf einen Wettkampf einzulassen, den man nicht gewinnen kann, solle man versuchen, sich die Stärken der Konkurrenz selber zunutze zu machen.

In Wolfsburg scheint man mittlerweile in diese Richtung zu denken. Im Oktober 2022 kündigte Volkswagen an, 2,4 Milliarden Euro in ein Joint Venture mit Horizon Robotics zu investieren, einem der vielversprechendsten chinesischen Start-ups für Computer-Chips, künstliche Intelligenz und autonomes Fahren. Die Entscheidung ist eine Abkehr von der lange vorherrschenden Maxime, alles im Alleingang zu entwickeln. Dass Volkswagen zunächst ein eigenes Betriebssystem für die Fahrzeuge des Konzerns auf den Markt bringen wollte, hatte sich als Fehler herausgestellt.

Ferdinand Dudenhöffer prognostiziert, dass die deutschen Autobauer auf dem chinesischen Markt künftig verstärkt Technik von Huawei und Baidu integrieren werden. Einige Stärken der alten Platzhirsche blieben bestehen: das Fahrgefühl deutscher Fahrzeuge, die hochwertige Verarbeitung und ihre geschichtsträchtigen Marken.

Chinesische Software-Lösungen und Computer-Chips im deutschen Auto der Zukunft – das wäre eine ganz andere Zukunft, als sie der einstige Volkswagen-Chef in China vorhergesagt hat. ---