Lass dich dezentrieren

Ein Gespräch mit dem Philosophen René Weiland über die Unmöglichkeit, nicht zu denken – und wieso immer etwas passieren muss, damit etwas passiert.




René Weiland, 65,
ist in Berlin geboren und hat dort Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaft studiert. Danach war er als Publizist tätig, als Taxifahrer, Gründer eines Antiquariats und in der Erwachsenenbildung. Sein jüngstes Buch trägt den Titel „Die Unruhe des Denkens und das Versprechen der Philosophie“. Derzeit arbeitet er ein Thema neu auf, über das er bereits 1999 ein Buch veröffentlich hat: „Überfordert uns die Moral?“

brand eins: Herr Weiland, Sie beklagen in einem Essay „die Unsitte, öffentlich zum Umdenken aufzurufen“ – warum?

René Weiland: Weil diejenigen, die mich zum Umdenken auffordern, mir nahetreten, ohne dass ich sie darum gebeten habe. Das ist anmaßend, man könnte überspitzt sogar sagen: schamlos. Man kennt das aus dem Privatleben, wenn Leute einem ungefragt das eigene Leben erklären.

Da steckt aber mehr dahinter, nämlich ein Kernwiderspruch der Aufklärung. Immanuel Kant forderte, der Mensch solle sich aus seiner „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ befreien, indem er sich mutig seines eigenen Verstands bediene. Johann Georg Hamann, ein Zeitgenosse und ebenfalls Philosoph in Königsberg, warf Kant nicht zu Unrecht vor, sich als Vormund aufzuspielen und den Leuten vorzuwerfen, nicht selbstständig denken zu können. Wer aufklären will, sollte also seine eigene Haltung reflektieren: Geht es mir um die Botschaft? Oder um meine Rolle als Besserwisser?

Einer, der das Gefälle zwischen vermeintlich Aufgeklärten und Aufzuklärenden ebenfalls kritisiert hat, war der Romantiker Hermann Hesse. Er schrieb: „Der Vernünftige rationalisiert die Welt und tut ihr Gewalt an. Er neigt stets zu grimmigem Ernst. Er ist Erzieher.“ Ist da was dran?

Mit dieser romantischen Position habe ich nichts am Hut. Es kann nur eine aufgeklärte Kritik an der Aufklärung geben, aber keine Kritik am Bemühen, uns gegenseitig zu bessern. Das ist heute – anders als zu Hesses Zeiten – die allgemein anerkannte Aufgabe von Pädagogen. Problematisch an seiner Kritik ist vor allem, dass er mit dem Erzieher den Vernünftigen meint, der per se gewalttätig sei. Das ist absurd.

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Ihrer Ansicht nach brauchen wir niemanden, der uns zum Denken ermuntern müsste. Gibt es aber nicht Tatsachen wie die ökologische Krise, die ein verändertes Denken und Handeln notwendig machen – sowie die entsprechenden Appelle?

Wir denken schon immer, so wie wir auch schon immer atmen. Es handelt sich um eine Art inneren Dialog, mit dem wir versuchen zu verstehen, was mit uns los ist. Wir befinden uns in einem permanenten Selbstgespräch. Und dann plötzlich gibt es etwas, das unsere Aufmerksamkeit erregt, etwas, das von außen an uns herangetragen wird: Ermunterung, Störung, Ansprache, was auch immer. Diese Irritationen von außen müssen wir filtern, um sie unserem Organismus anverwandeln zu können. Wenn die Störungen aber zu stark werden, erstarren wir. Es ist wie eine innere Überflutung.

Je stärker der Appell zum Umdenken, desto vergeblicher?

So ist es.

Wenn wir uns nicht durch Worte dazu bewegen lassen, eingefahrene Denk- und Handlungsmuster zu ändern, dann aber doch von einschneidenden Ereignissen. So setzte sich beispielsweise mit der Corona-Pandemie das Homeoffice weithin durch, technisch wäre das schon viel früher möglich gewesen. Muss also immer etwas passieren, damit etwas passiert?

Das muss es, denn wir haben immer nur die zweite Initiative, nie die erste. Wir finden Verhältnisse vor, die uns zu Antworten zwingen. Das ist das, was uns als bewusste Wesen ausmacht. Wir interagieren nicht unmittelbar, quasi automatisch mit unserer Umwelt, sondern immer verspätet. Aus dieser Verspätung heraus versuchen wir, uns selbst und die Welt in den Griff zu bekommen.

Der Begriff passieren trifft das in seiner doppelten Bedeutung sehr gut. Etwas ereignet sich und passiert uns: Es macht nicht an unserer Haut halt, sondern fährt uns in die Knochen, wühlt uns in unserem Inneren auf, begleitet von Gefühlen und Gedanken. Es sind dieselben Gefühle und Gedanken, mit denen wir uns durch das, was uns zustößt, hindurchwühlen: Wir passieren, was uns passiert. Das ist unsere Situation als Mensch. Subjekt sein heißt zu wissen, dass wir Bedingungen unterworfen sind, die wir nicht selbst geschaffen haben. Mit denen wir gleichzeitig aber auch umgehen müssen.

Was bringt uns dann zum Umdenken?

Wir leben in einer Wissensgesellschaft, und die Funktion von Wissen ist es, Dinge einzuordnen, einzusortieren – und uns so vom Leib zu halten. Wissen lässt sich als gedachtes Denken verstehen: all das, was zu Theorie geronnen ist. Denken ist eine gegenläufige Bewegung: Wir lassen Dinge, die uns beunruhigen, an uns heran, sind bereit, die Welt mit anderen Augen zu betrachten, Begriffe infrage zu stellen und unser Wissen umzuschreiben.

Das klingt anstrengend.

Ist es auch. Der Psychologe Jean Piaget hat diesen Lernprozess in seinem Stufen-Modell schlüssig beschrieben. Wenn wir uns mit etwas ganz Neuem, zum Beispiel einem fremden Fachgebiet beschäftigen, müssen wir uns diesem Gegenstand nähern – ähnlich dem Auge, wenn es seine Brennweite dem anpasst, was es in den Blick nimmt. Dieser Anpassungsvorgang versetzt uns in Stress und ist begleitet von Selbstzweifeln: Ich bin zu blöd dafür, ich kapiere das nie, das ist alles zu schwierig. Piaget bezeichnet das als innere Dezentrierung, wir beginnen, innerlich ins Rutschen zu geraten.

Das ist ganz entscheidend. Alles hängt von unserer Bereitschaft zu innerer Dezentrierung ab. Irgendwann kommt dann der Punkt, an dem wir uns durchgekämpft und auch selbst kennengelernt haben: Ich schaffe das! Was bedeutet, dass wir uns aus diesem fremden Fachgebiet etwas angeeignet haben, das uns nutzt und unseren Bedürfnissen entspricht.

Ab diesem Zeitpunkt wissen wir nicht mehr, was wir nicht gewusst haben – wir haben uns selbst ein Stück weit verwandelt. Die Aufgabe von Pädagogen ist es, Lernende auf diesem unsicheren Weg zu begleiten, ihnen also das Vertrauen in eine Entwicklung zu vermitteln, die sie selbst nicht überblicken können.

Sie zitieren in Ihrem Buch „Die Unruhe des Denkens“ Aristoteles, demzufolge alle Menschen wissen wollen. Ist das denn wirklich so? Es scheint, als sähen viele Leute lieber ihre Vorurteile bestätigt. Weltweit triumphiert die Unvernunft, Verschwörungstheorien sind verbreitet wie nie, Demagogen erzielen erstaunliche Wahlerfolge. Wie erklären Sie sich das?

Aristoteles hatte ein sehr positives Menschenbild. Das mag ich an ihm, und ich glaube, er hat recht. Es gibt in uns eine Kraft, die etwas im Außen sucht. Dieses Wissenwollen hat auch eine erotische Komponente, Sigmund Freud bezeichnete diese Energie später als Libido. Andererseits sind da tatsächlich viele Leute, die sich in ihren Vorurteilen einmauern. Das, was uns als Dummheit entgegentritt – die Tendenz zu geistiger Frühvergreisung und moralischer Infantilisierung. Der Impuls, wissen zu wollen, erlahmt, und das geht einher mit der Weigerung, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen.

Die interessante Frage ist die nach den Gründen. Wenn sich jemand in seinen Vorurteilen bestätigt sehen will, so muss er doch erst einmal zu ihnen gekommen sein, bevor er geistig stehen blieb. Mein Rat wäre, bei der Suche nach Antworten darauf die nähere Umgebung in den Blick zu nehmen. Wir alle haben in der anstrengenden Zeit der Pandemie Erfahrungen mit Bekannten gemacht, die plötzlich merkwürdige Ansichten vertraten. Mittlerweile können wir ihnen das verzeihen und ansatzweise verstehen, wieso sie sich aus unserer Sicht verirrt haben. Und womöglich haben diese Menschen in der Zwischenzeit selbst über sich nachgedacht und sind von ihrer damaligen Position abgerückt.

Sie wirken erstaunlich abgeklärt angesichts all der Probleme, vor denen wir stehen.

Sagen wir mal so: Ich muss mich dazu zwingen. Ich kann nicht gelassen bleiben, aber ich kann auch nicht der Angst folgen. Wie alle Menschen bewege ich mich zwischen zwei Polen: Wir sind aktiv, und wir sind irgendwie fatalistisch. Wir brauchen ein Grundvertrauen in uns selbst, um aktiv zu werden – und können Vertrauen nicht durch Aktivismus ersetzen. Das würde uns fertigmachen.

Aus einer politischen Perspektive ist es vollkommen verständlich, Druck zu machen und klarzustellen, dass die Zeit etwa im Kampf gegen die Erderwärmung knapp wird. Aber als Individuen müssen wir unser Leben leben und zuversichtlich bleiben. Tröstlich finde ich das Sprichwort „Erstens kommt es anders, zweitens, als man denkt“. Wenn wir uns unsere jetzige Gegenwart als eine ehemalige Zukunft vorstellen, kommen wir zu dem Schluss: Diese Zukunft war damals äußerst unwahrscheinlich. Daher frage ich mich, ob wir uns bei dem Versuch, mit Gegenwartshochrechnungen in die Zukunft zu schauen, einen Gefallen tun.

Was wäre die Alternative?

Wir sollten mit dem Zufall rechnen, also lernen, mit Unvorhersehbarkeiten umzugehen. Die Bewältigung der durch die Invasion Russlands in die Ukraine ausgelöste Energiekrise hat gezeigt, dass das funktionieren kann.

Derzeit wird viel darüber spekuliert, wie sogenannte künstliche Intelligenz im Allgemeinen und Chatbots wie ChatGPT im Besonderen die Welt verändern werden. Kann solche Technik uns beim Denken helfen, oder hindert sie uns eher daran?

Künstliche Intelligenz kann Informationen in rasender Geschwindigkeit verarbeiten und neu kombinieren – ohne zu verstehen, was sie da tut. Bestimmt wird die Technik menschliche Tätigkeiten überflüssig machen, die allein darin bestehen, mit vorhandenem Wissen umzugehen.

Künstliche Intelligenz wird aber nie dorthin vordringen, wo es eigentlich interessant wird: in die Untiefen des menschlichen Denkens. Dorthin, wo wir die Einzigartigkeit unseres Selbst und unseres Verhältnisses zur Welt durchspielen. Nur dort entstehen Dinge, die uns selbst überraschen und die Menschheit voranbringen. Wenn künstliche Intelligenz uns von kognitiven Routinearbeiten entlasten und mehr Zeit fürs eigentliche Denken verschaffen würde, wäre das nur wünschenswert. ---