Edzard Reuter im Interview

Ein Gespräch über kapitalistische Gier, die Notwendigkeit einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft – und das Thema Tempolimit.

Interview: Celine Schäfer und Stefan Scheytt
Fotografie: Emanuel Herm



Edzard Reuter, 95,

Sohn des einstigen sozialdemokratischen Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter und selbst SPD-Mitglied, war von 1987 bis 1995 Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG – und einer der schillerndsten deutschen Manager – nicht zuletzt, weil er als SPD-Mitglied einen großen Konzern leitete. Er gilt als Vordenker, wollte das Unternehmen vom Autogeschäft unabhängiger machen. Seit 1998 ist Reuter Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Berlin.

• Edzard Reuters Haus am grünen Rand von Stuttgart ist alles andere als protzig: ein Bungalow, teilweise Sichtbeton, am oberen Rand eines überschaubaren Grundstücks am Hang gelegen, zu beiden Seiten Nachbarhäuser. Im Garten umkurvt ein Mähroboter Skulpturen und den zugedeckten Pool.

Reuter empfängt im Erdgeschoss, das er als Arbeitszimmer für sich und seine Frau bezeichnet. Große Glasflächen zum Garten hin, Bücherregale, ein Hometrainer, die Wände voller Bilder und Kunstobjekte. Auf dem Glastisch in der Sitzecke zwei Miniatur-Nachbildungen historischer Daimler-Mobile, daneben das Buch „Was man für Geld nicht kaufen kann: Die moralischen Grenzen des Marktes“ des von Reuter „hochgeschätzten“ US-Philosophen Michael J. Sandel. Nach einer Klage über die nachlassende Qualität im Journalismus, Probleme, die soziale Medien verursachen, und dem Bekenntnis „Ich bin ein sehr alter Mann“, sagt Reuter scherzhaft: „Ich bin natürlich auch der ehrlichste Mann der Welt und voller Werte, schießen Sie los.“


„Es ist unerträglich, wenn Unternehmen nur Profitmaxi-mierung verfolgen – ohne Rücksicht auf die Beschäftigten, die Umwelt, das Klima oder die Steuergerechtigkeit“

 

brand eins: Herr Reuter, in Interviews und in Ihren Büchern schimpfen Sie gern über profitgierige Unternehmen, deren Manager und einen „gierigen Kapitalismus“. Sind Sie nicht selbst Kapitalist?

Edzard Reuter: Jein. Ja insofern, als ich lange für ein kapitalistisches Unternehmen gearbeitet habe, dessen Ziel es ist, für das eigene Kapital möglichst hohe Erträge zu erwirtschaften. Aber, und damit kommen wir zum zweiten Teil meiner Antwort: Ich bin der festen Überzeugung, dass der einzige sinnvolle Zweck eines guten Unternehmens eben nicht ist, so schnell wie möglich so viel Geld wie möglich zu verdienen.

Sondern?

Ein Unternehmen soll Güter erschaffen, die für die Allgemeinheit wichtig sind. Es soll sichere Arbeitsplätze bieten und für die Eigentümer eine langfristige, seriöse Anlage sein, die sie an das Unternehmen bindet. Im Mittelpunkt sollen nicht maximale Gewinne stehen, sondern das Denken über Generationen hinweg.

Hat so ein Unternehmen im Kapitalismus eine Überlebenschance?

Das hängt davon ab, wie man Kapitalismus definiert. Im Raubtierkapitalismus nicht. In einem Kapitalismus, der von den Regeln der sozialen Marktwirtschaft gezähmt wird, schon.

Spielt in einem gezähmten Kapitalismus Gier keine Rolle?

Doch, natürlich. Ich denke, es gibt keinen Menschen, mich eingeschlossen, der nicht die Versuchungen von Gier kennt. Die Frage ist ja immer, ob man noch andere Werte in sich trägt, die eine zu große, unersättliche Gier bremsen.

Welche Werte sind das?

Einerseits die Verpflichtung, das Wohl der Allgemeinheit zu achten. Das steht in unserem Grundgesetz, jeder Amtsträger in einer Demokratie schwört darauf. Das ist der absolute Gegenspieler zur Gier. Mit dieser Frage beschäftigt sich auch Michael Sandel: Wie kann eine Gesellschaft überhaupt existieren, die sich nur als Summe einzelner Bürger versteht, von denen jeder seine Ellbogen einsetzt, aber keine Verpflichtung mehr gegenüber der Gemeinschaft empfindet? So eine Gesellschaft ist für mich undenkbar. Aber auch ethische Gründe können die eigene Gier zähmen. Das hat nicht zwingend mit dem Allgemeinwohl zu tun – es geht dabei um Grundsätze wie „Ich stehle nicht“ oder „Ich betrüge niemanden“.

Das Gemeinwohl spielt beim Shareholder Value keine Rolle. Der Erfolg eines Unternehmens wird allein an dessen Börsenwert gemessen.

Deshalb ist die Ausrichtung auf den Shareholder Value aus meiner Sicht eine völlige Fehlinterpretation von Marktwirtschaft. Denn das Konzept besagt: Es ist entscheidend, wie die Zahlen kurzfristig aussehen. Was langfristig passiert, ist egal. Wenn die Zahlen steigen, hat das Management alles richtig gemacht, wenn sie sinken, muss das Management zum Teufel geschickt werden. Das halte ich für fatal. Es ist unerträglich, wenn Unternehmen nur Profitmaximierung verfolgen – ohne Rücksicht auf die Beschäftigten, die Umwelt, das Klima oder die Steuergerechtigkeit. Die Suche globaler Konzerne nach Steuerschlupflöchern oder -oasen ist eine der katastrophalen Entwicklungen, unter denen wir jetzt leiden.

Der Shareholder Value bekam in den späten Achtzigerjahren, als Sie Daimler leiteten, richtig Aufwind. Renditeziele von 25 Prozent waren keine Seltenheit.

Das hat damals ein Ausmaß angenommen, das ich nur noch schwer ertragen konnte. Es war die Zeit nach Margaret Thatcher und Ronald Reagan. Die Botschaft lautete: Schneller Gewinn ist das Wichtigste, alles andere zählt nicht. Besonders katastrophal fand ich damals, dass das auch in Deutschland auf riesigen Beifall gestoßen ist. Dabei waren unsere Traditionen doch ganz andere: Unsere Wirtschaft bestand zu einem großen Teil aus Familienunternehmen, die auf langfristigen Erfolg ausgerichtet sind.

Warum ließ sich die deutsche Wirtschaft davon so mitreißen?

Das wurde vor allem getragen von den großen Aktiengesellschaften und begleitet von den Hochschulen, wo die angelsächsische Interpretation des Kapitalismus plötzlich als Dogma verkündet und jede Diskussion über die Werte-Haltigkeit einer Marktwirtschaft verloren ging. Das, was die Freiburger Schule lehrte – Marktwirtschaft ja, aber soziale Marktwirtschaft –, davon redete kein Mensch mehr.

Manchmal sprechen Sie über die Vergangenheit, als wären Sie nicht dabei gewesen. Sie waren damals einer der einflussreichsten deutschen Manager.

Ich habe mit Sicherheit einige Fehler gemacht, das stimmt.

Welche?

Ganz grundsätzlich hatte ich nicht ausreichend das Gespür dafür, wie schwierig es ist und wie lange es dauert, bis sich Gewohnheiten und Einstellungen von Menschen in einem Unternehmen ändern – besonders bei denjenigen, die Verantwortung tragen. Ich habe damals versucht zu erklären, dass das Automobil schon bald ganz anders aussehen wird und wir uns verändern müssen, um langfristig erfolgreich zu sein. Die Leute – Ingenieure und Kaufleute – haben nur gedacht: Der Alte ist verrückt geworden. Das haben sie natürlich nicht gesagt, sondern sie saßen da, haben zugehört und dann weitergemacht wie zuvor. Mein Fehler war, dass ich diese Gespräche nicht weitergeführt habe.

Reuter lebt nur wenige Kilometer entfernt von der langjährigen Firmenzentrale, die er als Daimler-Chef vom alten Stammsitz in Stuttgart-Untertürkheim an den Rand der Stadt ins Grüne verlegte. Reuters Nachfolger Jürgen Schrempp verspottete den campusartigen Bau als „bullshit castle“. Schrempps Nachfolger wiederum, Dieter Zetsche, verlegte die Chefetage wieder zurück nach Untertürkheim. Über das Unternehmen und seine Nachfolger will Reuter nicht sprechen.

Gab es denn in der deutschen Wirtschaft Diskussionen darüber, ob der Börsenwert und ein paar andere Kennzahlen eines Unternehmens die alleinigen Maßstäbe für den Erfolg sein sollen oder ob nicht auch Gemeinwohlinteressen eine Rolle spielen sollen?

Nein, jedenfalls keine ernsthaften Diskussionen. Damals herrschte die Überzeugung: Was wir machen, ist richtig. Wenn Leute etwas anderes sagten und andere Werte ins Spiel brachten, kam schnell der Vorwurf, man sei Sozialist. Das klingt jetzt gekränkt, aber so ist das nicht gemeint. Damals gab es nun mal diese Art und Weise, Geschäfte zu machen, vor allem in der Finanzbranche. Es galt die Maxime der schnellen Gewinnmaximierung. Sie hat sich sicher auch auf die Folgegenerationen von Managern übertragen und sich lange nicht verändert.

Woher stammt Ihr Wertekanon?

Das hat natürlich etwas damit zu tun, was ich als Heranwachsender erlebt habe. Die Nazis verfolgten meinen Vater, sein Leben war in Gefahr. Als ich sieben Jahre alt war, flohen wir in die Türkei. Das physische Erleben, wie sich der Nationalsozialismus und die Diktatur auswirken können, hat mich geprägt. Es ging aber nicht nur darum, was das alles für uns bedeutet, sondern auch darum, wie es mit Deutschland, mit Europa weitergeht – und wie wir, wenn wir zurückkehren können, zum Wohl der Allgemeinheit beitragen können.

1946 sind Sie zurückgekommen, damals waren Sie 18 Jahre alt.

Da habe ich erfahren, was es bedeutet, wenn ein großer Teil der Bevölkerung in Elend und Hoffnungslosigkeit lebt. Es war auch ein gespaltenes Volk: einerseits jene, die zumindest vermeintlich als Einheit hinter dem Führer standen, und andererseits die zurückgekehrten Flüchtlinge, über die viele schlecht dachten und redeten – aus Sorge, sie würden einem Geld, Arbeit und Wohnungen wegnehmen.

Ihr Vater, Ernst Reuter, wurde 1948 Oberbürgermeister von Berlin. Warum sind Sie, obwohl Sie das Thema Allgemeinwohl so umtreibt, nicht in die Politik gegangen?

Nach unserer Rückkehr habe ich darüber nachgedacht, wollte aber, wie man so schön sagt, erst mal etwas Ordentliches lernen. Ich habe dann angefangen, Mathematik und Physik in Göttingen zu studieren. Dort habe ich den SPD-Mann Horst Ehmke kennengelernt, der später unter anderem Bundesjustizminister war. Er hat mich davon überzeugt, zu Jura zu wechseln. Ein paar Jahre später hat Willy Brandt versucht, mich in die Politik zu holen.

Warum konnte er Sie nicht gewinnen?

Ich wollte unabhängig sein. Jede Woche zu irgendwelchen Kreisversammlungen gehen, dort Bier trinken und rumpalavern – die Vorstellung gefiel mir nicht. Ich dachte immer: Das kann ich später noch machen. Und dann habe ich mir als Rechtsanwalt einen Beruf gesucht, der mich in die Wirtschaft geführt hat.

Haben Sie jemals bereut, nicht in die Politik gegangen zu sein?

Nein. Ich war ganz einfach überzeugt von meiner unternehmerischen Verantwortung. Ich habe gemerkt: Hier kann ich etwas gestalten, Neues anstoßen, mit interessanten Menschen zusammenarbeiten.

Wenn Sie heute auf die Wirtschaft schauen – bewegt sich dort etwas hin zu den Werten, die Sie propagieren?

Es ist durchaus etwas im Gange, ja. Es wird zum Beispiel nicht mehr automatisch alles abgesegnet, was technologischer Fortschritt ist. Zentral ist immer auch die Frage: Kann das schädlich oder nützlich sein? Aber ich weiß nicht, ob das reicht.

Wenn nicht, welche Rolle kommt dann der Politik zu?

In Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung gibt es keinen anderen Weg als strengere Regeln von staatlicher Seite. Das für mich beste Beispiel hat sogar mit der Automobilindustrie zu tun: das Tempolimit. Selbstverständlich ist es vollkommen legitim, wenn die Politik eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen einführt – da kann der Verkehrsminister sagen, was er will. Politische Führung hat die Aufgabe, unser Gemeinwesen im Sinne der allermeisten Menschen zu gestalten. Das hat auch Folgen für einzelne Unternehmen, das ist immer so bei politischen Entscheidungen.

Apropos Tempolimit: Welches Auto fahren Sie?

Natürlich Mercedes.

Warum „natürlich“? Es steht Ihnen doch frei, jede Marke zu wählen.

Da irren Sie sich. Es gibt eine selbstverständliche Pflicht gegenüber dem Unternehmen, die ich gerne erfülle. Leider war es viel zu lange kein Elektro-Auto, weil ich schlicht keines bekam, obwohl ich darum bettelte. Aber vor drei Tagen erhielt ich die Nachricht, dass ich nun doch eines bekomme. ---