Karin Jurczyk im Interview

Sie wolle nicht weniger als eine Revolution der Arbeitswelt, wird Karin Jurczyk vorgeworfen. Die Soziologin sieht das als Kompliment. Es führe kein Weg daran vorbei, Erwerbsbiografien neu zu denken.





Die Soziologin Karin Jurczyk, Jahrgang 1952,
leitete von 2002 bis zu ihrer Verrentung 2019 die Abteilung Familie und Familienpolitik am Deutschen Jugendinstitut in München. Das sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut untersucht die Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und Familien und berät dazu Öffentlichkeit und Politik. Karin Jurczyk arbeitet heute freiberuflich und sitzt im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik.

• Der Name des Konzeptes, das Karin Jurczyk mitentwickelt hat, klingt etwas sperrig: Optionszeitenmodell. Es sieht vor, dass Menschen im Laufe ihres Erwerbslebens immer wieder die Möglichkeit haben, aus dem Beruf auszusteigen – etwa um Kinder zu versorgen, ein Ehrenamt auszuüben, sich weiterzubilden oder eigenen Interessen nachzugehen. Die Entzerrung des Berufslebens ergibt Sinn, weil Menschen immer älter werden. Doch aktuell scheint die Entwicklung in eine andere Richtung zu gehen: Manche Fachleute fordern wegen des Fachkräftemangels eine Verlängerung der Wochen- und Lebensarbeitszeit.

brand eins: Frau Jurczyk, kommt Ihr Modell zu einem völlig falschen Zeitpunkt?

Karin Jurczyk: Nein, es kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Schauen Sie sich an, worin die Ursachen des Fachkräftemangels liegen: Nicht nur die Zahl an Arbeitskräften schrumpft. Die Menschen sind auch nicht mehr bereit, jeden Job anzunehmen. Gerade jüngere Menschen überlegen es sich sehr gut, welche Arbeitsbedingungen sie akzeptieren. Und die älteren laufen scharenweise davon, weil sie sagen: „Ich bin ausgebrannt, ich kann so nicht weiterarbeiten.“

Umgekehrt formuliert: Den Arbeitskräftemangel können wir nur beheben, wenn wir auf die Wünsche und die Bedürfnisse der Menschen eingehen. Die Möglichkeit, Auszeiten zu nehmen und die Arbeitszeit zu reduzieren, sorgt dafür, dass wir auch auf lange Sicht ausreichend Personal haben.

Das sehen nicht alle so. Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft hält eine 42-Stunden-Woche für nötig. Der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Stefan Wolf, plädiert für eine Rente ab 70.

Angesichts der jetzigen Arbeitsbedingungen ist es für viele Menschen unvorstellbar, länger erwerbstätig zu sein. Mit dem Druck, dem viele Menschen bei der Arbeit ausgesetzt sind, mit der Erschöpfung, die sie spüren, ist für die meisten eine längere Lebensarbeitszeit unrealistisch. Sie wäre nur dann möglich, wenn sich die Arbeitsbedingungen deutlich verbesserten. Dazu könnte das Optionszeitenmodell beitragen, weil es helfen würde, die Rushhour des Lebens zu entzerren.

Sie meinen die Phase im Alter zwischen Mitte 20 und Mitte 40, in der alles gleichzeitig passiert: Familiengründung, wichtige Karriereschritte. Was läuft in diesem Lebensabschnitt falsch?

Erwerbsarbeit orientiert sich bisher am männlichen Lebensmodell. Erst kommt die Ausbildung, dann die Vollzeiterwerbstätigkeit mit 40 Stunden in der Woche, dann die Rente. Diese Praxis beruht darauf, dass es eine unsichtbare Ressource gibt, die sich um Kindererziehung, die Pflege von Angehörigen, die Versorgung von Kranken und die Hausarbeit kümmert. Bislang haben Frauen diese Aufgaben übernommen, doch sie sind zunehmend selbst erwerbstätig. Die Sorgearbeiten fallen trotzdem an. Das führt zu chronischer Überlastung, Erschöpfungskrankheiten, Stress in der Familie.

Sprechen Sie auch aus eigener Erfahrung?

Ich habe zwei Söhne und war immer berufstätig. Am Anfang noch ganztags, da hatte der Vater Erziehungszeit. Danach war er beruflich stark eingebunden, und ich bin auf eine Teilzeitstelle gewechselt, weil es nicht anders ging. Wir haben all den Stress also selbst erlebt. Irgendwie ist es uns gelungen, Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen. Aber die Qualität des gemeinsamen Lebens hat massiv Schaden genommen, so wie bei vielen Paaren, die versuchen, die Aufgaben partnerschaftlich aufzuteilen und sich nur noch die Klinke in die Hand geben.

Das Thema beschäftigt Sie seit Langem.

Tatsächlich ging es bereits in meiner ersten wissenschaftlichen Arbeit 1974 um „Lohn für Hausarbeit“. Schon damals gab es viel Kritik am Arbeitsbegriff. Es wird so getan, als ob Care-Arbeiten nichts mit dem Erwerbssystem zu tun hätten. Das ist grundsätzlich falsch. Ohne diese Arbeiten funktioniert unser Wirtschaftssystem nicht, das hat die Corona-Pandemie deutlich gezeigt. Trotzdem fehlt es an Konsequenzen aus dieser Erkenntnis.

Die Kitas wurden immerhin ausgebaut, Eltern können in bezahlte Elternzeit gehen. Dadurch bekommen Familien Freiräume.

Dass es Ansprüche auf Betreuungsplätze gibt, ist gut. Aber wenn das Personal fehlt, wie wir es derzeit sehen, wenn die Einrichtungen schlecht ausgestattet sind, dann nützen uns diese Ansprüche wenig. Außerdem wollen die meisten Menschen ihre Kinder nicht den ganzen Tag weggeben, sondern auch Zeit mit ihnen verbringen. In der Pflege stehen wir vor noch größeren Problemen. Angesichts des demografischen Wandels werden aber immer mehr alte Menschen auf Unterstützung angewiesen sein.

Man sieht: Das derzeitige Modell von Erwerbsarbeit funktioniert nicht. Wir brauchen mehr Zeit für Sorgearbeit. Im Moment sind vor allem Frauen die Leidtragenden. Sie versuchen, die Familienaufgaben irgendwie mit der Berufstätigkeit zusammenzubringen. Dafür zahlen sie einen hohen Preis.

Reden wir über ein Frauenthema, oder drängen auch Männer auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben?

Wir wissen aus zig Studien, dass viele Väter gern mehr Zeit für die Familie hätten. Und junge Menschen – Männer wie Frauen – sagen heute immer häufiger: „Wir möchten keine 40-Stunden-Woche.“ Sie engagieren sich neben der Erwerbsarbeit in ihrer Gemeinde oder für den Umweltschutz. Auch diese ehrenamtliche Arbeit ist für die Gesellschaft wichtig. Interessant ist der Tarifabschluss der IG Metall von 2018. Er bietet Beschäftigten in gewissem Rahmen die Wahl zwischen Geld und Zeit. Sie können zum Beispiel statt einer Gehaltszulage zusätzliche freie Tage bekommen. Der Abschluss ist deshalb so interessant, weil er auf Basis einer großen Mitgliederbefragung entwickelt wurde und überwiegend von Männern dominierte Branchen umfasst. Das ist für mich ein starkes Zeichen, dass es auch bei Männern ein ernst zu nehmendes Interesse gibt, weniger zu arbeiten und mehr Raum für anderes zu haben.

Sie schlagen vor, dass Männer wie Frauen bis zu sechs Jahre aus dem Berufsalltag aussteigen können, um Kinder zu betreuen, einem Ehrenamt nachzugehen oder Angehörige zu pflegen. Wie kommen Sie auf diese Zahl?

Wir haben uns in Studien angesehen, wie viel Zeit Frauen und Männer aktuell mit Sorgearbeit verbringen und wie die Bedarfe sind. Aus diesen Werten haben wir einen Durchschnitt errechnet, wobei wir davon ausgingen, dass ein Teil der Sorgearbeit weiterhin in der Freizeit stattfindet. Mit den sechs Jahren würden Männer deutlich mehr Zeit mit Sorgearbeit verbringen, Frauen deutlich weniger. Diese Umverteilung ist unser Ziel.

Der Staat soll eine Lohnersatzleistung zahlen, wenn Menschen für soziale Aufgaben eine berufliche Auszeit nehmen. Allein für das Elterngeld sind 2023 rund 8,3 Milliarden Euro eingeplant. Woher soll das Geld kommen?

Die Kosten-Nutzen-Analyse unseres Modells steht noch aus. Ich hoffe, dass wir bald die Ressourcen haben, um durchrechnen zu lassen: Was kostet uns das jetzige Modell von Arbeit? Es wird viel Geld in die Ausbildung von Frauen gesteckt, die dann über lange Zeit höchstens Teilzeit erwerbstätig sind. Es gibt große Probleme, Frauen zurück ins Berufsleben zu holen. Die Gesellschaft gibt viel Geld aus, um Armut von Frauen nach Trennungen oder im Alter abzumildern. Die Ausfälle in der Sozialversicherung sind hoch. Die Krankenkassen melden hohe Gesundheitskosten durch Erschöpfungskrankheiten. Wir gehen davon aus, dass diese Probleme geringer werden, wenn sich Frauen und Männer die Sorgeaufgaben stärker teilen. Den hohen Ausgaben muss man also die Einsparungen gegenüberstellen.


Das derzeitige Modell von Erwerbsarbeit funktioniert nicht. Wir brauchen mehr Zeit für Sorgearbeit. Im Moment sind vor allem Frauen die Leidtragenden. Sie versuchen, die Familienaufgaben irgendwie mit der Berufstätigkeit zusammenzubringen. Dafür zahlen sie einen hohen Preis.

In Ihrem Konzept geht es auch um Auszeiten für Bildung, zwei Jahre sieht es dafür vor. Der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat jüngst eine, vorerst vom Bundesfinanzministerium gestoppte, einjährige bezahlte Bildungszeit ins Spiel gebracht. Reicht der bestehende Anspruch auf Bildungsurlaub nicht?

Lebenslanges Lernen ist zwar ein Allgemeinplatz, aber es fehlen die Voraussetzungen dafür. Die Ansprüche sind in den Bundesländern sehr unterschiedlich geregelt. Die wenigsten Beschäftigten wissen, was ihnen zusteht. Frankreich hat schon 2015 ein individuelles Aktivitätskonto eingeführt: Le Compte Personnel d’Activité. Darin werden alle Weiterbildungszeiten zentral verwaltet. Die Beschäftigten und die Betriebe sehen, welche Zeiten genommen wurden und welche Ansprüche noch bestehen. Das ist ein sehr transparentes System. Davon können wir lernen.

Wir haben in Deutschland eine Vielzahl an Möglichkeiten für berufliche Auszeiten: Elternzeit, Pflegezeit, Weiterbildungszeiten. Aber sie stehen nebeneinander, man muss sie einzeln beantragen, es gelten unterschiedliche Voraussetzungen. Wir wollen diese Ansprüche zusammenführen und transparent machen.

Warum fordern Sie ein Jahr zur Selbstsorge? Reichen freie Wochenenden und Urlaub nicht aus?

Es braucht jenseits davon Zeiten zum Auftanken. Selbstsorge meint mehr als tägliche Regeneration. Es geht auch um persönliche Entwicklung und Entfaltung, um Möglichkeiten der Umorientierung. Selbstsorge ist die Voraussetzung dafür, dass wir gut arbeiten und für andere sorgen können. Wahrscheinlich ist ein Jahr gar nicht genug.

Bestünde dann nicht die Gefahr: Wer durcharbeitet, macht Karriere, wer seine Ansprüche geltend macht, wird abgehängt?

Wir haben diese Spaltung doch längst. Im Moment verläuft sie entlang der Kategorie Geschlecht. Es sind vor allem Frauen, die berufliche Nachteile haben, weil sie ihre Erwerbsarbeit unterbrechen oder reduzieren. Klar, diejenigen, die weiterhin bereit sind, ihrem Arbeitgeber ihr ganzes Leben zu widmen, werden Vorteile haben. Wir gehen aber davon aus: Wenn es die Regel wird, dass Menschen für unterschiedliche Zwecke Auszeiten vom Beruf nehmen, dann gibt es eine starke Motivation, das auch selbst zu tun.

Die Vorteile für die Beschäftigten sind offensichtlich. Die Unternehmen hingegen müssten immer wieder für vorübergehenden Ersatz sorgen.

Wir sehen die Herausforderungen. Selbstverständlich muss auf die Interessen der Arbeitgeber Rücksicht genommen werden. Hilfreich könnte das Wahlarbeitszeitgesetz sein, das der Deutsche Juristinnenbund ausgearbeitet hat. Es soll Unternehmen verpflichten, ein auf ihre Möglichkeiten zugeschnittenes Paket an Arbeitszeitoptionen zu erarbeiten und den Beschäftigten anzubieten. Dieses Instrument hilft, die Interessen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Einklang zu bringen. Es braucht solche Aushandlungsprozesse, und ich denke, es gibt Lösungen. Damals, bei der Einführung des Elterngeldes, hieß es auch: „Das schaffen die Betriebe nicht, wenn jetzt auch noch die Väter Elternzeit nehmen.“ Es geht, und es geht meistens glatt. Von diesen Erfahrungen können wir lernen.

Sind die Arbeitgeber genauso optimistisch?

Von ihrer Seite gibt es große Vorbehalte. Sie sagen: „Ich muss zusehen, wie ich jetzt über die Runden komme.“ Es fehlt der langfristige Blick. Ein Arbeitgebervertreter sagte: „Sie wollen nicht weniger als eine Revolution.“ Stimmt, darauf läuft es hinaus. Man muss in kleinen Schritten vorangehen. Es wäre zum Beispiel toll, wenn wir zwei, drei Betriebe fänden, die einzelne Elemente des Optionszeitenmodells im Rahmen eines Modellversuchs ausprobierten. Aber noch findet sich niemand.

Wie geht es jetzt weiter?

Das ist der Knackpunkt. Ich betreibe im Moment Forschung am Küchentisch. Wir haben zum Glück Bündnispartner: Vertreter von Sozialverbänden, die Gewerkschaften, Familienverbände, die Kirchen zeigen sich sehr interessiert und sind bereit, am Ball zu bleiben. Wir bemühen uns gerade um Ressourcen, um Optionszeitenlabore zu organisieren, in denen wir die offenen Fragen mit der Wirtschaft, den Bündnispartnern und der Politik diskutieren und Lösungen erarbeiten können.

Im Abschlussbericht Ihrer Studie heißt es: Das Ziel sei die Entwicklung eines neuen sozialpolitischen Gesamtmodells. Ein hoher Anspruch. Wollen Sie mit Ihrem Konzept unsere Gesellschaft retten?

Das würde ich mir nie anmaßen. Aber ich glaube, wir könnten einen wichtigen Beitrag leisten, damit Arbeit und Leben besser zueinanderpassen. Unser Modell kann zu einer höheren Lebens- und Arbeitsqualität für beide Geschlechter beitragen. Es kann helfen, dass eine neue Generation gut aufwächst und die alte menschenwürdig versorgt wird. Was die Wissenschaft erarbeitet, wird nie eins zu eins umgesetzt. Aber ich denke, dass in 15 Jahren deutlich mehr Ansprüche auf Freistellungen existieren werden. Es ist wichtig, dass wir nicht nur auf einzelne Probleme gucken, sondern Arbeit insgesamt in den Blick nehmen. Schließlich geht es um die Frage: „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“ ---

ist das Ergebnis eines knapp zweijährigen Forschungsprojektes am Deutschen Jugendinstitut in Kooperation mit der Universität Bremen. Es wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung gefördert. Das Team um Karin Jurczyk und Ulrich Mückenberger interessierte, wie sich Sorge- und Erwerbsarbeit in einer modernen Gesellschaft besser vereinen lassen.

Im Moment, so die Ausgangsthese, haben Menschen, die ihre Arbeitszeit reduzieren oder vorübergehend aus dem Beruf aussteigen, um Kinder zu versorgen oder Angehörige zu pflegen, verschiedene Nachteile. Oft wird ihnen der berufliche Aufstieg verwehrt, sie erzielen niedrigere Einkommen und bekommen niedrigere Renten. Betroffen sind vor allem Frauen.

Das Optionszeitenmodell sieht einen Anspruch auf berufliche Auszeiten und eine Verringerung der Arbeitszeit vor. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler analysierten, wofür Menschen ihre Zeit verwenden und für welche Tätigkeiten sie mehr davon bräuchten. Daraus errechneten sie ein Budget von neun Jahren, das allen Erwerbstätigen zur Verfügung stehen sollte: sechs Jahre für die Betreuung eigener Kinder, die Pflege von nahestehenden Personen und Ehrenämter, zwei Jahre für die Weiterbildung und ein Jahr für die sogenannte Selbstsorge. Ob die Menschen aus dem Beruf aussteigen oder Teilzeit arbeiten und so ihre Ansprüche über einen längeren Zeitraum strecken, soll ihnen überlassen bleiben.

Für die Auszeiten soll zahlen, wer jeweils am meisten davon profitiert. So sollen die Arbeitgeber Fortbildungen finanzieren, der Staat die Auszeiten für soziale Tätigkeiten. Für Zeiten, die der Erholung dienen, müssten die Menschen selbst aufkommen. Damit nicht nur Gutverdiener davon profitieren, soll der Staat bei Bedarf zeitlich begrenzt ein Grundeinkommen zahlen.

Der Abschlussbericht erschien 2020. Eine Studie aus dem vergangenen Jahr systematisiert die offenen Fragen zur praktischen Umsetzung.