Darf ich dir zu nahe treten?

Marketing segelt seit je hart am Zeitgeist. Kein Wunder, dass Werbung immer woker wird.





• Der Muttertag zählt zu den höchsten Feiertagen für den Blumenhandel, weshalb es naheliegt, potenzielle Kundinnen und Kunden dann mit Reklame zu bombardieren. Doch die könnte bei manchen Menschen schlecht ankommen, sei es, weil ihr Kinderwunsch unerfüllt blieb oder sie mit ihrer Mutter über Kreuz liegen.

Diese Überlegung brachte den britischen Online-Blumenhändler Bloom & Wild im März 2019 dazu, die Kundschaft zu fragen, ob sie von Muttertags-Werbung verschont bleiben wollte. Die Resonanz war enorm: Zwar klickten fast 18 000 Newsletter-Empfänger und -Empfängerinnen „Opt-out“ an – viele gaben aber auch ihrer Freude darüber Ausdruck, gefragt worden zu sein.

Ein achtsamer Move in Zeiten des Marketing-Overkill. Und eine clevere Form der Kundenansprache.

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Angetan von den warmherzigen Rückmeldungen, beschloss der „meistgeliebte Online-Blumenlieferdienst Großbritanniens“ (Eigenwerbung) mehr daraus zu machen, nämlich eine Bewegung namens Thoughtful Marketing Movement. Dieser haben sich bislang mehr als 170 Unternehmen in Großbritannien angeschlossen, von der Naturkosmetikkette The Body Shop über Classic British Hotels bis hin zur stockkonservativen Tageszeitung »The Telegraph«. Gemeinsam wolle man lernen, so das Credo, „mit Bedacht zu handeln“. Das Kalkül: „Wenn man seine Kund*innen so behandelt wie die besten Freund*innen, schafft man eine auf beiden Seiten einfühlsame Beziehung, die mit Vertrauen, Liebe und Loyalität belohnt wird.“

Freundschaft soll sich also auszahlen – und vor allem darin bestehen, das Gegenüber vor jedweder Irritation zu bewahren. Vorbild sind die mittlerweile allgegenwärtigen Trigger-Warnungen auf Social-Media-Plattformen, Buchumschlägen oder in Filmvorspännen: Achtung, hier lauern womöglich verstörende Inhalte!

Aron Gelbard, Mitgründer und Geschäftsführer von Bloom & Wild, hofft „auf eine starke Gemeinschaft für achtsame Marketingstrategien“ nun auch in der Bundesrepublik. Noch ist keine deutsche Firma mit von der Partie, aber die Chancen stehen nicht schlecht, denn auch hierzulande will man sensible Zielgruppen erreichen.

Die Reklame hat sich dem veränderten Zeitgeist ohnehin schon seit Längerem angepasst. „Werbung ist woker“ geworden, sagt Katja Heintschel von Heinegg, Geschäftsführerin des Zentralverbands der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) und des deutschen Werberats. Letzterer ist die Beschwerde-Instanz der Branche, an die sich jeder wenden kann – und ein guter Indikator für den Grad des Ärgers über Reklame.

Der Werberat prüft alle Beschwerden, und wenn er Verstöße gegen den freiwilligen Werbecodex feststellt – zum Beispiel das Herabwürdigen von Menschen, Aufruf zu Gewalt oder das Verletzen religiöser Gefühle –, fordert er zur Einstellung oder Änderung der Reklame auf, woraufhin die inkriminierten Anzeigen oder Spots meist gestoppt werden. Falls nicht, gibt es eine offizielle Rüge, die veröffentlicht wird.

Die Rote Karte sei mittlerweile aber selten nötig, so die ZAW-Chefin: „Die Zahl der sexistischen oder diskriminierenden Kampagnen ist stark zurückgegangen.“ 2021 gab es 14 öffentliche Rügen, im vergangenen Jahr 8. Große Werbetreibende seien nicht an den Pranger gestellt worden, sondern vor allem kleine, denen es an einer professionellen Kommunikationsberatung mangele, so die 48-jährige Juristin, die seit 2007 im Verband tätig ist.

Vorbei die Zeiten, als eine Marke wie Benetton Anfang der Neunzigerjahre mit einer groß angelegten Schock-Kampagne für Aufsehen und eine Klageflut sorgte. Das Modeunternehmen machte damals mit Motiven wie der blutgetränkten Uniform eines im Bosnienkrieg getöteten Soldaten oder eines sterbenden Aidskranken auf das Unglück der Welt – und vor allem sich selbst – aufmerksam.

Katja Heintschel von Heinegg muss etwas überlegen, bevor ihr eine aktuelle Kampagne einfällt, an der Leute sich stoßen. Knapp 50 Beschwerden gebe es über einen Spot der Möbelhauskette XXXLutz, in dem Matthias Schweighöfer in seiner Rolle als Verkäufer von einem Hünen mit martialischem Händedruck dazu gebracht wird, mit dem Preis für ein Sofa runterzugehen („Handschlag auf den besten Deal“): b1.de/xxxlutz

Ein eher neuer Beschwerdegrund und Indiz für die Zeitenwende im Marketing ist Männerfeindlichkeit. 2019 erwischte es Edeka mit einem lustig gemeinten Muttertags-Spot „Danke Mama, dass du nicht Papa bist!“ Gezeigt werden Männer, die extrem stoffelig mit ihren Kindern umgehen, nicht unfallfrei essen können und zudem das Problem haben, keine Schönheiten zu sein. Dafür setzte es erst Tausende Dislikes und Hasskommentare sowie eine offizielle Rüge vom Werberat, weil, so die Begründung, das Video Väter und Mütter gegeneinander ausspiele und ein Geschlechterbild der Fünfzigerjahre transportiere. Hier eine vom Youtuber Oniondog kommentierte Fassung des Werks: b1.de/ed_mama 

Die Klage mancher Werber, dass originelle Kampagnen es in Zeiten der Achtsamkeit schwerer haben, lässt die ZAW-Chefin Heintschel von Heinegg nicht gelten: Man könne auch laute und spitze Werbung machen, die nicht auf Kosten von bestimmten Personengruppen gehe.

Allerdings ist es mit Humor, zumal doppelbödigem, so eine Sache, besonders in den stets empörungsbereiten sozialen Medien. Das zeigte die Reaktion auf einen Spot der Baumarktkette Hornbach „So riecht das Frühjahr“ vor vier Jahren. Darin sind ältere Männer bei der Gartenarbeit zu sehen. Ihre verschwitzte Unterwäsche wird eingesammelt, eingetütet und nach Asien exportiert, wo eine junge Frau sie aus einem Automaten zieht und den Duft verzückt inhaliert: b1.de/hornb

Abbildungen: Heimat Werbeagentur GmbH/Regie: Sam Hibbard/Produktion: ANORAK Film GmbH

Olfaktorischer Aufreger: Spot der Baumarktkette Hornbach „So riecht das Frühjahr“

Daraufhin rief ein in Deutschland lebender Südkoreaner eine Online- Petition ins Leben, die weithin geteilt wurde und sich zu einem internationalen Shitstorm entwickelte. Kernvorwurf: Die asiatische Frau erfülle in dem Werbefilm eine sexistische Fantasie. Hornbach verteidigte sich: Man sei auf humorvolle Weise mit dem Tabuthema Olfaktophilie (Geruchsfetischismus) umgegangen. Der Deutsche Werberat folgte den Kritikern und beanstandete den Spot. Der Grund: diskriminierende und rassistische Darstellung der Asiatin. Der Österreichische Werberat, bei dem auch viele Beschwerden eingegangen waren, sah dagegen keinen Grund einzuschreiten.

Seitdem hat deutsche Werbung keine große Erregungswelle mehr ausgelöst – obwohl das nie so leicht wäre wie heute. ---