„Nein, ich will nicht schlauer werden“

Der Grat zwischen offensiver Kundenpflege und Manipulation ist schmal. Zeit für einen Blick auf Übertretungen.





• Wer an der Kasse nicht vor dem Preis in die Knie gehen will, der muss sich schon am Regal bücken. Spätestens seit das Wort Discounter im Deutschen heimisch ist, wissen Kundinnen und Kunden um die Tricks, die sie zu Mehrausgaben verführen sollen.

Da sich der gemeine Kunde linksdrehend orientiert, ist der Eingang meist rechts und die Kasse links; die margenstärksten Artikel sind auf Augenhöhe, Schnäppchen hingegen Bückware. Die Schranke am Eingang hält weniger Diebe auf als ehrliche Leute, die es sich anders überlegt haben; und neben Aufbackdüften und Fahrstuhlmusik hebt die persönliche Ansprache die Kauflaune: Das Möbelhaus duzt uns ja nicht, weil das so eine liebenswürdige Wallander-Schrulle ist, sondern weil es damit mehr Sperrholz verkauft.

Weniger nett sind extra große Einkaufswagen, die jeden Einkauf kümmerlich erscheinen lassen, Quengelware an der Kasse, so knapp vor dem Ziel, oder rote Preise, die wie Rabatte scheinen, in Wahrheit aber nur eines sind: rote Preise. Alle paar Jahre finden schlaue Köpfe neue Tricks, wie man uns dazu bringt, mehr zu kaufen. Neulich hat das sogenannte Neuromarketing herausgefunden, dass sich die Haselnusspackung besser verkauft, wenn von der Packung ein Menschengesicht statt einer Haselnuss lacht. Wenig überraschend: Online sieht die Welt nicht netter aus. Im Gegenteil. Eine Customer Journey in digitale Grauzonen.

Einkauf first, Verschuldung second
Ratenzahlung

Auf Tiktok trendete jüngst der Hashtag #Klarnaschulden, unter dem Jugendliche mit vier- bis fünfstelligen Minusbeträgen prahlten. Wie im Gangsta-Rap, nur umgekehrt. Ist Soll das neue Haben? Wohl kaum. Hinter dem Trend steht, wie so oft, ein uraltes Prinzip: die Kreditfinanzierung. Wer online per Klarna zahlt, kann den Betrag in voller Höhe um 30 Tage aufschieben oder über Monate und Jahre staffeln. Was heute Buy Now Pay Later heißt, hieß früher Kauf auf Raten. Cool wurde es aber erst mit Online-Anbietern wie Klarna oder Afterpay.

Während man früher beim Erwerb einer Stereo-Anlage auf Kredit verschämt hinter dem Verkäufer zum Vertragstresen trotten musste, vorbei an den tadelnden Blicken all jener, die ihre Finanzen im Griff hatten, geht heute alles mit einem Klick. Ohne lange Prüfung, ohne fiese Blicke. Statt eines zähen Verwaltungsaktes, bei dem einem in jedem Moment bewusst war, dass man über die eigenen Verhältnisse lebte, geht nun alles ganz sanft. Lachsfarben lächelt einen das Logo an, die Firma duzt nach feinster schwedischer Art. Man fühlt sich wohl. Und kauft mehr: In den USA laden sich Späterzahler rund dreieinhalb mal so viel in den Warenkorb wie Sofortbezahler. Einer Untersuchung der Harvard Business School und der Universität Harvard zufolge verleitet die verzögerte Zahlung vor allem Menschen mit geringerem Einkommen zu höheren Ausgaben. Wer später zahlt, kauft heute mehr.

Das betrifft vor allem die Generation Z, die heute 14- bis 29-Jährigen. Knapp die Hälfte von ihnen kauft im Internet auf Pump; jeder Fünfte kann sich laut Statista-Umfrage ein Leben ohne nicht mehr vorstellen – etwa ebenso viele waren laut der Trendstudie „Jugend in Deutschland“ Ende 2022 verschuldet. Der Kauf auf Rechnung ist für 30 Tage zwar meist zinslos, doch beim Ratenkauf summieren sich die Zusatzkosten schnell auf bis zu 15 Prozent effektiven Jahreszins. Mehr als doppelt so hoch wie bei einem Darlehen der Hausbank. Das hat absehbare Folgen.

Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2022 wurden bei Klarna Kredite im Wert von 390 Millionen Euro nicht bedient. Das war selbst für das einstige Start-up-Wunderkind (Unternehmensbewertung 2021: 45,6 Milliarden Dollar) verheerend (Unternehmensbewertung 2022: 6,5 Milliarden Dollar). Das Problem geht so weit, dass es mittlerweile eigene Firmen gibt, die sich nur auf die Umschuldung der Späterzahler konzentrieren. Eine davon ist das schwedische Start-up Anyfin – gegründet von zwei ehemaligen Klarna-Mitarbeitern.

Manfred Krug Superstar
Influencer

Wir alle streben – mehr oder weniger stark – nach Anerkennung und Zugehörigkeit. Während die Pflege des sozialen Umfelds im Analogen bisweilen mühsam ist, verspricht die Online-Welt eine einfache Lösung: Influencer. Wer ihnen folgt, wird per Knopfdruck Teil einer Gemeinschaft (Zugehörigkeit) und erhält Liebesbekundungen (Anerkennung), da Influencer nicht müde werden zu betonen, wie großartig jeder und jede ihrer Jünger ist. Auch wenn es in Ausnahmefällen ernst gemeint sein mag, wirtschaftlich förderlich ist es allemal. Als Follower muss man sich nicht um die Liebe des Idols bemühen, man verdient sie sich allein durchs Folgen. Privat kann man ein Ekel bleiben, die sozialen Annehmlichkeiten gibt’s gratis. Aber eben nicht kostenlos. Schließlich sind Influencer keine Altruisten, sondern Geschäftsleute. Sie kriegen Geld dafür, likeable zu sein.

Und das funktioniert wie geschmiert. Je nach Studie orientieren sich zwischen 20 und 30 Prozent der Menschen in Deutschland beim Einkaufen an den Empfehlungen von Influencerinnen und Influencern. In den USA sind es fast 50 Prozent, die mindestens einmal etwas gekauft haben, das derart beworben wurde, 44 Prozent handeln regelmäßig so. Unter den 25- bis 42-jährigen Millennials sind es gar 66 Prozent. Ob die Werbung als solche gekennzeichnet ist oder nicht, spielt für sie keine Rolle. Wichtiger ist die empfundene Glaubwürdigkeit. Und die entsteht durch eine hochfrequente und persönlich anmutende Dauer-Ansprache. Die Art und Weise der Kommunikation ist dabei wichtiger als der Inhalt. Das gäbe ein Like von Marshall McLuhan.

Werbekampagnen mit Influencerinnen und Influencern laufen derzeit signifikant besser als herkömmliche. Im Jahr 2022 wurden weltweit knapp 28 Milliarden Dollar dafür ausgegeben; 2027 sollen es laut der Online-Plattform StockApps mehr als 50 Milliarden sein. Für die wenigen Superstars ist das ein lohnendes Geschäft. Der 24-jährige US-Amerikaner MrBeast hat mit seinen 135 Millionen Abonnentinnen und Abonnenten auf Youtube im Jahr 2022 schätzungsweise 110 Millionen Euro eingenommen. Wenn er das noch ein paar Jahre macht, kommt da richtig Geld zusammen.

Dabei ist die Idee, dass sich Firmen prominente Gesichter kaufen, alles andere als neu. Den offiziellen Weltrekord für den längsten exklusiven Werbe-Einsatz für eine Marke hält Thomas Gottschalk. Von 1991 bis 2014 war er das Gesicht des Gummibärchenproduzenten Haribo. 24 Jahre lang, in insgesamt rund 400 Radio- und Fernsehspots. Um das zu toppen, müsste George Clooney noch bis ins Jahr 2030 für Nespresso werben.

Allerdings sind Promis als Markenbotschafter riskant: Wie viel Schaden der Glaubwürdigkeits-Transfer vom Testimonial zum beworbenen Produkt anrichten kann, weiß man in der Bundesrepublik seit der Dotcom-Krise. Kurz zuvor hatte der Schauspieler Manfred Krug in einer Mega-Kampagne den Börsengang der Deutschen Telekom beworben. Die Werbung für die T-Aktie war ein Riesenerfolg, die Leute zeichneten sie in Scharen. Denn Krug war nicht irgendwer, sondern ein medialer Dauerbrenner mit überragenden Beliebtheitswerten. Sozusagen die Pamela Reif der Neunzigerjahre. Doch als die Volksaktie dann in Folge des Crashs von über 100 auf unter 10 Euro fiel, verlor das Volk eine Menge Geld. Im Nachhinein hat Krug sein Engagement als den größten Fehler seines Lebens bezeichnet.

Ein Hauptgrund, warum Menschen den Empfehlungen von Influencern folgen: Sie gehen mit ihnen eine Scheinbeziehung ein: Laut einer Umfrage gab die Hälfte aller Millennials an, ihre Vorbilder auf Instagram oder Tiktok besser zu kennen als die eigenen Freunde. Da überrascht es kaum, dass nun auch virtuelle Influencer an Bedeutung gewinnen. Wie etwa Miquela Sousa, ein digitales Wesen mit knapp drei Millionen Followern auf Instagram und Model-Verträgen mit Calvin Klein und Prada. Rund ein Drittel der befragten Konsumentinnen und Konsumenten hat auch mit solchen computergenerierten Superstars kein Problem. Hauptsache, es gibt Zugehörigkeit und Anerkennung.

Come in and never find out
Webdesign

Ein Konto beim Versandhändler Amazon ist mit wenigen Klicks angelegt. Auch der Weg von der Produktseite zum Kaufabschluss ist so kurz und gerade wie möglich. Es gibt sogar einen Knopf, mit dem man kaufen kann, ohne den Warenkorb zu öffnen. Das spart den Kundinnen und Kunden wenige Sekunden, bringt dem Händler aber Millionen. Denn jede Sekunde zwischen Wunsch und Kauf ist eine Sekunde, in der man es sich anders überlegen kann.

Nun könnte man das unter Service verbuchen, der beiden Seiten zugutekommt. Wenn auch einer mehr als der anderen. Anders sieht das bei unbeliebten Kundenwünschen aus. Wer etwa sein Amazon-Konto kündigen will, muss lange suchen, bis er jene Stelle findet, an der er einen Antrag auf Löschung stellen kann, tief vergraben in der Hilfe-Navigationshierarchie und nicht – wie zu erwarten wäre – im Kontobereich. Statt der Löschung folgt eine E-Mail, die in schwerem Ton all die Nachteile der Trennung aufzeigt. Erst wenn dies bestätigt wird, kann das Konto von einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin gelöscht werden. Ein ähnliches Spiel vollzieht sich bei Amazons Prime-Abo, das so einfach abzuschließen ist, dass dies oft aus Versehen geschieht, während die Kündigung sich sehr zäh gestaltet.

Solche Technik der manipulativen Online-Kundenführung hat der Webdesigner Harry Brignull bereits im Jahr 2010 als Dark Patterns beschrieben. Er hat gleich eine Reihe dieser finsteren Muster identifiziert, mit denen sich das Verhalten von Menschen zu deren Nachteil steuern lässt. Fälle wie die Amazon-Mitgliedschaft nennt er Kakerlakenfallen – man kommt leicht rein, aber kaum lebend raus.

Andere Muster bedienen sich sprachlicher Kniffe. Darunter fallen Fangfragen und Stolperfallen. Wenn etwa zum Kaufabschluss neben den Geschäftsbedingungen noch zwei weitere Häkchen gesetzt werden können. Mit dem Setzen des ersten kann man (freiwillig) dem Verkauf der persönlichen Daten zustimmen. Soweit so gelernt. Doch im zweiten Feld steht dann: „Melden Sie sich hier exklusiv an, um keinen Newsletter zu erhalten“ – wer nicht genau liest, übersieht die Verneinung und bekommt fortan Werbung.

Eine andere Methode ist das Confirmshaming, die suggestive Formulierung verschiedener Wahlmöglichkeiten. Als Google eine Version der G-Mail-App zum Download anbot, konnten die Leute nur wählen zwischen „Ja, ich will“ und „Nein, ich will nicht schlauer werden“. Ganz schön smart.

Druck, Druck, Druck!
Dynamische Preise, falsche Dringlichkeit

Man weiß nicht recht warum, aber Fluglinien scheinen besonders wenig Hemmungen zu haben, ihre Kundinnen und Kunden hinter die Fichte zu führen. So ergeben sich bei vielen Gesellschaften erst im weit fortgeschrittenen Buchungsprozess noch zusätzliche Gebühren. Dabei versuchen die Anbieter, die Kosten gerade so hoch anzusetzen, dass sie angesichts der bisher investierten Zeit und Mühe noch akzeptiert werden. Am Ende liegt der Preis dann fast immer über dem eigentlichen Angebot, das einst zum Kauf verleitet hat.

Doch auch diese Ausgangspreise unterliegen Schwankungen. Die waren früher noch einigermaßen verständlich; da gab es bestimmte Tage (Dienstag) und bestimmte Tageszeiten (morgens), an denen Flüge billiger waren als sonst. Doch seitdem haben die Airlines technisch aufgerüstet; sie verändern den Preis nicht nur unentwegt, sondern passen ihn auch an uns persönlich an. So richtet er sich heute nach personenbezogenen Daten wie Einkommen, Familienstand, Wohnsituation oder Einkaufsgewohnheiten (siehe auch brand eins 02/2023: „Im Spinnennetz“). Selbst das Gerät, mit dem gebucht wird, verändert den Preis (iPhone teurer, Android billiger). Aktueller Trend: spezifische Airline-Apps. Dort kosten die Flüge im Schnitt zehn Prozent weniger, dafür liefert man seine Daten direkt an den Betreiber und sich selbst einer weiteren Werbeschnittstelle aus.

Ähnlich gehen Plattformen zur Hotelbuchung vor, die gern eine Dringlichkeit vorgaukeln, die gar nicht besteht. Oft gibt es die „fünf anderen“, die sich das „letzte verfügbare Zimmer“ gerade mit einem zusammen ansehen überhaupt nicht. Sie sind reine FOMO-Schimären, triggern unsere Fear Of Missing Out. Auch das prominente Ausstellen „leider gerade verpasster Top-Angebote“ gehört zur Kundenverführung. Ebenso wie die Stoppuhr, die den Preis „nur noch drei Minuten“ garantieren kann. Nach Ablauf der Stoppuhr folgt in den allermeisten Fällen nur eines: eine neue Stoppuhr.

Ein schlechter Impuls
Social Commerce

Über Social Media wurde schon so viel Schlechtes geschrieben. Dennoch wendet sich dort selten etwas zum Besseren. Schon seit einiger Zeit sind Plattformen wie Instagram und Tiktok wichtige Marketing-Kanäle für Firmen. Auch mit überschaubarem Mitteleinsatz kann dort eine beachtliche Wirkung erzielt werden. Kein Wunder, schließlich sind 90 Prozent der Menschen, die online einkaufen, auch bei dem einen oder anderen Social-Media-Anbieter angemeldet. Grund genug, sie dort abzufangen.

Schon heute stellen die großen Plattformen Schnittstellen zu den Onlineshops ihrer Kundschaft bereit. Wenn die Leute in den sozialen Medien nicht nur Produkte finden, sondern sie auch gleich dort kaufen, bleiben sie länger in der App, und der Anbieter verdient mehr Geld. Das Prinzip ist äußerst beliebt, dabei wird es immer schwieriger, zwischen Informationen und Werbung zu unterscheiden. Rund 60 Prozent der unter 25-Jährigen in den USA haben laut einer Forrester-Umfrage bis 2021 mindestens einmal direkt in Social Media eingekauft, ohne die Plattform zu verlassen.

Der erblühende Social Commerce nimmt so den alten Handelsriesen mit deren eigenen Tricks das Geschäft ab. Denn – wir erinnern uns – je kürzer die Dauer zwischen Impuls und Kauf, desto höher die Wahrscheinlichkeit eines Abschlusses. Das Ganze am besten präsentiert von einem auf Hochglanz gefilterten Influencer, kombiniert mit suggestiver Webseiten-Führung, versehen mit einer roten Stoppuhr und zahlbar in 24 Raten. Doch wie im Analogen gilt auch digital: Der Schuldner ist der Esel des Gläubigers. ---