Künstliche Intelligenz in der Bildung
Wenn Schüler Lehrer belehren
Künstliche Intelligenz verändert die Bildung grundlegend. Richtig eingesetzt, bietet sie große Chancen, den Unterricht an Schulen zu verbessern. Doch das erfordert ein neues Selbstverständnis aller Beteiligten.

• Auf die Frage, welche Farben die Federn des Papageifisches haben, antwortet ChatGPT: Gelb, Rot, Grün und Blau, je nach Art. Auf jeden Fall bunt. Die KI reagiert eloquent – und liegt komplett daneben, wenn man sie mit solchen Aufgaben „stresst“, wie es Christophe Speroni, Mitgründer des Unternehmens Bettermarks, ausdrückt. Ein Papageifisch hat keine Federn, hätte die Antwort lauten müssen. Aber die KI ist offenbar überfordert, wenn Federn und Fisch in einer Frage auftauchen.
Mit der interaktiven Lernplattform Bettermarks wollen Speroni und seine Mitgründer Marianne Voigt und Arndt Kwiatkowski (der einst ImmobilienScout24 gründete) die mathematischen Fähigkeiten von Schülern verbessern. Sie setzen dabei auf ein Tutoren-System, das diese beim täglichen Üben begleitet – eine automatisierte 1:1-Betreuung. Das System rechnet mit und gibt Hinweise, sobald eine Schülerin oder ein Schüler einen falschen Rechenweg einschlägt. Das ist möglich, weil Menschen das System zuvor mit zahlreichen Fehlererkennungsmustern gefüttert haben.
Das Berliner Unternehmen hat mehr als 30 Millionen Euro in ihr System investiert. Rund 14 000 Lehrkräfte nutzen Bettermarks bereits im Unterricht. Demnächst wird es auch Angebote für weitere Fächer geben, die dann auf einem Large Language Model wie ChatGPT basieren, das Bettermarks gerade selbst entwickelt.
Künstliche Intelligenz fordert derzeit die herkömmliche Art der Wissensvermittlung heraus. Sie stellt – seit ChatGPT sogar Masterprüfungen an Elite-Universitäten auf Knopfdruck löst und Aufsätze zu jedwedem Thema im erwünschten Stil schreibt – die traditionelle Form der Leistungsüberprüfung infrage. Vielen macht das Angst. Andere freuen sich auf Veränderungen, die sie für längst überfällig halten.

Neugierige Eltern
Wie KI die Schule verändern wird, beschäftigte im Juni auch die mehr als 800 Teilnehmer eines digitalen Elternabends der Bildungsplattform Fobizz mit Sitz in Hamburg. Das Unternehmen bietet Lehrerinnen und Lehrern Workshops und Lehrmaterial zu verschiedensten Themen an – seit Jahresanfang auch einen KI-Assistenten, der Klausuraufgaben oder Arbeitsblätter auf Knopfdruck erstellt oder Hausarbeiten prüft. Beim Elternabend wurde Grundwissen zu KI vermittelt, erläutert, was ChatGPT kann und was nicht, und die Eltern konnten das Programm ausprobieren.
Seit Mai bietet Fobizz diese Veranstaltung an. Mehr als 10 000 Menschen nahmen bisher daran teil. Für die erste KI-Fortbildung für Lehrer und Lehrerinnen im Januar dieses Jahres schrieben sich 2000 Personen ein – es musste eine Warteliste eingeführt werden. Bis zum Erscheinen dieses Heftes buchten bereits mehr als 50 000 Lehrkräfte dieses Fobizz-Angebot. Das Thema KI bewegt. Vielleicht ist die Technik sogar Teil der Lösung für die drängendsten Probleme im Kosmos Schule, wie etwa die fehlenden Lehrkräfte oder das überkommene Bewertungssystem.
Die Revolution von unten
In der letzten Unterrichtswoche vor den Sommerferien veranstaltet ein Team von Fobizz einen KI-Workshop in der Rostocker Don-Bosco-Schule. Im Informatikraum sitzen hinter jedem Computer eine Handvoll Schüler, ChatGPT muss ihnen niemand mehr erklären. Clemens Illing, 14, sagt: „Ich nutze ChatGPT bei den Hausaufgaben, wenn ich etwas nicht verstehe.“ Seinem Kumpel Linus Dieckhoff hilft das Tool beim Zeichnen: „Ich lasse Bilder zur Inspiration erstellen und arbeite daran dann weiter.“
Am Tag zuvor gab es eine Diskussion mit den Lehrern zur Frage, wie man KI in der Schule einsetzen sollte. Clemens Illing sagt: „Die meisten Lehrer sind dagegen, dass wir KI in der Schule nutzen. Wir Schüler sind dafür – KI vereinfacht vieles und kann für uns wie eine zweite Lehrkraft sein, die wir immer fragen können, wenn wir etwas nicht verstehen.“
Obwohl ausdrücklich eingeladen, nimmt kein Lehrer am Workshop teil. Die Schüler einigen sich allein darauf, dass sie KI nicht bei Tests oder Klassenarbeiten nutzen sollten. „Wir brauchen ein Grundwissen und können nicht alle Fragen von der KI beantworten lassen“, sagt Linus.
Der Schulleiter Gert Mengel rutscht beim anschließenden Gespräch mitunter etwas unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er gilt als sehr progressiver Pädagoge mit beachtlicher Social-Media-Präsenz. Nicht jedem Kollegen gefällt das. Zum Thema KI sagt er vorsichtig: „Wir brauchen ein gesamtgesellschaftliches Commitment dazu, wie wir in Zukunft lernen wollen. Wir können den Kollegen nicht einfach ein Tool vorsetzen, das das Schulgesetz derzeit noch nicht einmal vorsieht, und dann sagen, nun macht mal.“
Er will diese Diskussion an seiner Schule gemeinsam von Schülern und Lehrern führen lassen. „Im neuen Schuljahr werden Schüler Elternabende zu KI halten, außerdem gibt es Workshops“, so Mengel. Nach einer kleinen Pause fügt er an: „Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass sich für die Schule gerade alles verändert. Wir wissen aber nicht, was kommt – und auch nicht, wo wir hinwollen. Wir müssen raus aus der Ecke der technischen Spielerei und uns als zukunftsfähige Schule den ethischen, pädagogischen und auch juristischen Herausforderungen stellen.“
Das klare Ziel fehlt also noch. Einzelne Landesregierungen veröffentlichten unterdessen „Handlungsleitfäden“ für den Einsatz von KI im Unterricht. In Hamburg durften Schüler für die mündlichen Abiturprüfungen KI-Tools wie ChatGPT benutzen, um zum Beispiel Präsentationen zu erstellen. Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband forderte, das klassische Benotungssystem in den Schulen zu reformieren; es müsse der Lösungsweg und nicht allein das Ergebnis beurteilt werden. Das Weltwirtschaftsforum gründete unter anderem mit der Non-Profit-Organisation Khan Academy die Initiative TeachAI, die sich weltweit für die Einführung von KI im Unterricht einsetzt und dabei Politik, Wirtschaft und Wissenschaft für die Erstellung von Leitlinien zusammenbringt.
Lernen neu denken
Am städtischen Willms-Gymnasium in Delmenhorst findet derzeit ein Forschungsprojekt zum Thema statt. Lehrerinnen und Lehrer der Schule sowie ein gutes Dutzend anderer wollen gemeinsam mit Forschern des Fraunhofer-Instituts IAIS und Unternehmen herausfinden, welche Kompetenzen Schüler im Umgang mit KI erwerben sollten und welche Lehrmaterialien sie dafür brauchen. Klaas Wiggers, Koordinator der MINT-Fächer an dieser Schule, sagt, das Thema beschäftige die Schüler, und es sei wichtig, sie nicht nur als Anwender dieser Technik, sondern auch zu versierten und kreativen Gestaltern zu entwickeln.
Diese Aufgabe übernimmt unter anderem Arne Renz. In seinem Informatikunterricht beschäftigen sich die Schüler mit Daten- und IoT-Projekten, etwa der Entwicklung und Steuerung von Smart Metering Systemen, mit denen die Temperaturen im Schulgebäude von einer KI überwacht und gesteuert werden. Die Schüler beschäftigen sich mit ethischen und juristischen Fragen zum Einsatz dieser Technik, programmieren selbstlernende, künstliche neuronale Netze und erfahren im Rahmen der Berufsorientierung, in welchen Berufen KI wichtig ist. Durch ChatGPT und ähnliche Werkzeuge, sagt Reenz, verändere sich sein Unterricht: „Meine Schüler grübeln nun häufiger an Lösungsstrategien und der Logik hinter den Aufgaben. Gleichzeitig diskutiere ich mit ihnen die Bedeutung der neuen Werkzeuge.“ Er ist überzeugt, dass sich die Schüler für Unterrichtsprojekte größere Ziele setzen können, wenn sie KI als digitalen Assistenten nutzen.
Schule am Limit
Zehn Kilometer Luftlinie entfernt hat Henning Brandt ganz andere Sorgen. Er unterrichtet Physik und Informatik an der Kooperativen Gesamtschule Stuhr-Brinkum. Den Schulalltag prägt hier: der Lehrermangel.
„Auf dem Land ist das besonders dramatisch“, sagt Brandt. Wird ein Mathematiklehrer krank, fällt für eine Klasse mitunter wochenlang der Unterricht aus. Die Arbeitsgemeinschaft Robotik wurde zum zweiten Schulhalbjahr wegen Lehrermangels eingestellt. Henning Brandt, der sie leitete, wird für den Regelunterricht gebraucht. Dabei führte er bereits Teams zu Robocup-Weltmeisterschaften und inspirierte dadurch erfolgreiche Unternehmer, etwa Rasmus Rothe. Der Gründer der KI-Investment-Plattform Merantix, ein Schüler von Henning Brandt, bezeichnet diesen als seinen wichtigsten Mentor.
Das Wahlfach Informatik wurde im Gymnasialzweig der Gesamtschule Stuhr-Brinkum ebenfalls gestrichen, Werkunterricht findet schon seit Jahren nicht mehr statt. Auch Technik zählt zu den Fächern, die aus dem Stundenplan getilgt wurden, um die Pflichtfächer zu sichern. „Die Kollegen arbeiten alle am Limit, müssen Aufsichten und Bereitschaften sicherstellen, unterrichten drei Klassen zugleich“, so Brandt. Wenn er Kollegen frage: „Machst Du schon was mit KI?“, laute die Antwort mitunter: „Ne, ich hab‘ schon Whatsapp, das reicht mir.“
Dabei hätten KI-Anwendungen laut Brandt viel Potenzial für Arbeitserleichterungen. Er nutzt sie, um Tests und Klausuren für das Fach Physik zu erstellen. „Das spart sehr viel Zeit“, sagt er. Henning Brandt ließ seine Schüler am Ende des Schuljahres auch Klausuraufgaben mithilfe von ChatGPT lösen. Sie hätten schnell gemerkt, wie sehr man daran arbeiten muss, um zu einer richtigen Lösung zu kommen. Denn die KI mache die gleichen typischen Fehler wie Schüler – „wer also mit ChatGPT richtig rechnet, der hat es selbst auch kapiert“, ist sich Brandt sicher.
Künstliche Intelligenz werde die Gesellschaft verändern wie zuvor das Internet, nur sehr viel schneller, ist er überzeugt. Das Blöde sei, dass ausgerechnet Schule eines nicht kann: Tempo. Auf schnelles Internet warte man an der Schule immer noch: „Wir sind hier zehn Jahre hinterher.“ Ein anderes Problem: „Wir verfügen an unserer Gesamtschule nicht über Budgets für kostenpflichtige KI-Tools, und die finanziellen Ressourcen der Lehrer, derartige Angebote vielleicht privat zu finanzieren, sind ausgereizt.“

Lizenzen für alle
Aber es tut sich etwas. Klopfte sich die Fobizz-Gründerin Diana Knodel in Zeiten vor ChatGPT an den Türen der Bildungsministerien noch die Finger wund, stehen die Politiker heute bei ihr auf der Matte und verhandeln über Lizenzen. In zwei Bundesländern können Schüler und Lehrer die Lernplattform bereits kostenfrei nutzen. Der Anbieter Bettermarks hat mit neun Bundesländern Verträge unterschrieben. Unter der Führung von Brandenburg und Sachsen wollen insgesamt acht Bundesländer zusammen mit Start-ups eine „KI-Lernwolke“ entwickeln, die es ermöglicht, den Leistungsstand jeder Schülerin und jedes Schülers in einer Lerneinheit zu diganostizieren und ihnen dann eigens auf sie zugeschnittene Aufgaben zuzuweisen. 55 Millionen Euro stehen dafür bereit.
In Bundesländern, wo Verträge mit den Anbietern von KI-unterstützten Lernplattformen ausgehandelt wurden, werden diese vergleichsweise stark genutzt. Bettermarks etwa wird in Bayern, einem Bundesland ohne Lizenz, von nur drei Prozent der Lehrer verwendet. In Hamburg, einem Bundesland mit Lizenz, arbeiten mehr als die Hälfte der Lehrer mit der Plattform.
Der Zugang allein reicht aber nicht. „Wir sehen, dass einige Nutzer unser Angebot ineffizient einsetzen“, sagt der Bettermarks-Mitgründer Christophe Speroni. Bildungswissenschaftler und Vertreter von Lehrerverbänden befürchten zudem, dass ein unreflektierter Einsatz von KI zu oberflächlichem Lernen und geistiger Verarmung führt und die Kinder durch zu einfache und schnelle Antworten ihre Neugier verlieren.
Fehlende Kompetenzen
Die Kulturwissenschaftlerin Katharina Ehrenfried verbrachte im vergangenen Schuljahr mit Kindern der Berlin Cosmopolitan School, die von einer gemeinnützigen Stiftung betrieben wird, einen Tag im Wald. Die Kinder beschrieben, was sie zwischen den Bäumen fühlen – anschließend ließen sie ChatGPT auf Grundlage dieser Worte ein Gedicht schreiben. „So erklären wir den Kindern künstliche Intelligenz: als eine Maschine, die die schönsten Worte der Welt kombinieren kann, weil sie mit den wunderbarsten Werken der Weltliteratur gefüttert wurde. Sie kann auch Gedichte schreiben, weil sie von Menschen die Wortkombinationen gelernt hat.“
Ehrenfried ist Innovationsbeauftragte an der Cosmopolitan School. Sie stammt aus einer Familie von Mathematikern und Computerwissenschaftlern. Wer für Mathematik oder Informatik brennt, werde selten Lehrer in der frühkindlichen Bildung oder der Grundschule, sagt Ehrenfried. Mathematische und technische Kompetenzen in die pädagogische Aus- und Weiterbildung zu bringen, sieht sie als vorrangige Aufgabe an, um KI in allen Schulformen sinnvoll zu nutzen.
Dass Schüler im Umgang mit diesen Tools bewanderter sind als ihre Lehrer ist eine Tatsache, mit der Letztere umgehen lernen müssen. „Unsere Lehrer und Lehrerinnen brauchen eine neue ehrliche Verbindung zu ihren Schülern und Schülerinnen auf Augenhöhe. Ihr erstes Ziel muss sein, Kinder zu inspirieren und sich von ihnen inspirieren zu lassen“, sagt Ehrenfried.
In der Cosmopolitan School sind knappe Mittel kaum ein Thema. Eltern zahlen dort je nach Einkommen und Klassenstufe bis zu 1200 Euro Schulgeld im Monat. Die private Einrichtung verfügt auch über einen Kindergarten, und Kathrina Ehrenfried sorgt auch dort für Zugänge zur künstlichen Intelligenz. Fünfjährige hören Vorträge zur Frage, wie KI im Kampf gegen den Klimawandel hilft. „Den Kindern machen diese Formate Spaß“, sagt sie. „In deren Wahrnehmung sind das fantastische Geschichten der Zukunft, die wie Märchen klingen.“ In der anschließenden Diskussion stellten sich die Kinder schnell Fragen zu ihrer eigenen Lebenswelt, etwa die, ob eine KI auch beim Aufräumen helfen kann.
Ehrenfried sagt: „Wir besprechen mit den Kindern Lösungsideen, die noch nicht ausgearbeitet oder programmiert wurden. Meine Hoffnung ist, dass unsere Kinder diese in Zukunft einmal selbst entwickeln werden.“ ---
Beliebtheit von KI an Schulen
Anteil der befragten Eltern, die laut einer Forsa-Umfrage meinen, dass Lernen mit KI die Kinder gut auf die digitale Arbeitswelt vorbereite, in Prozent: 60
Anteil der Eltern, die den Einsatz von KI im Unterricht verbieten wollen, in Prozent: 33
Anteil der Lehrerinnen und Lehrer an weiterführenden Schulen, die in einer internationalen Umfrage des Capgemini Research Instituts angaben, dass KI-Tools wie ChatGPT an ihren Schulen verboten sind, in Prozent: 48
Anteil der Lehrerinnen und Lehrer an weiterführenden Schulen in Deutschland, die angaben, dass sich KI-Tools wie ChatGPT auf die Lernergebnisse von Schülern und Schülerinnen negativ auswirken, in Prozent: 78
Anteil der Lehrerinnen und Lehrer an weiterführenden Schulen in Deutschland, die angaben, dass die Vermittlung von Digitalkompetenz an Schulen Priorität haben sollte, in Prozent: 94
Anteil der Lehrerinnen und Lehrer an weiterführenden Schulen in Deutschland, die angaben, dass KI-Tools den Lehrerberuf verbessern, in Prozent: 71
Fobizz
Gründung: 2018
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: 30
Sitz: Hamburg
Im ersten Halbjahr 2023 nutzten mehr als 100 000 Lehrkräfte und Schüler den KI-Assistenten der Firma – neben Deutschland in 30 weiteren Ländern, vor allem im deutschsprachigen Ausland.
Bettermarks
Gründung: 2008
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: 80
Sitz: Berlin
Im Schuljahr 2021/2022 nutzten 500 000 Schüler und 14 000 Lehrkräfte die Plattform. Die Firma hat von Investoren mehr als 20 Millionen Euro Risikokapital erhalten.