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Was Menschen bewegt

Der Widerstands-Tänzer

Melaku Belay betreibt einen der letzten Künstler-Treffpunkte in Addis Abeba – und wehrt sich gegen den rücksichtslosen Umbau seiner Stadt.




Fotos: Amanuel Sileshi /AFP via Getty Images

• Es ist früher Abend in Addis Abeba. Wohlriechende Nebel aus Weihrauch wabern unter dem Zeltdach des Fendika-Kulturzentrums. „Ich verstehe unsere Traditionen als Brücken zwischen den Menschen“, sagt Melaku Belay und fährt mit einer Hand durch seinen Afro. „Wo sonst kann man sich in Addis noch zwanglos begegnen?“

Dass er Tänzer ist, sieht man sofort. Seine Hände, seine Schultern, sein ganzer Körper gestikuliert mit. Poster an der Bar zeugen von internationalen Auftritten: mit der niederländischen Punkband The Ex in Amsterdam, mit dem Sänger Usher in München oder auf einem Festival äthiopischer Musiklegenden in Washington D. C. Hier in seinem Kulturzentrum aber wirkt Belay alles andere als glamourös, in Jeans und Sandalen checkt er die Bühne für den Konzertabend. Während der drahtige 43-Jährige in sein Handy spricht, ruft er immer wieder „Konjo“, also „alles bestens“, grüßt mit der freien Hand Besucherinnen und Besucher.

Das Kulturzentrum Fendika befindet sich in Addis Abeba, der Hauptstadt von Äthiopien. Ein Land, das wegen seiner rasanten wirtschaftlichen Entwicklung und des mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Ministerpräsidenten Abiy Ahmed zu den Hoffnungsträgern des Kontinents zählte – bis 2020 der grausame Bürgerkrieg in der Region Tigray begann. Erst Ende vergangenen Jahres wurde der Krieg beendet, mehrere Hunderttausend Menschen sollen gestorben sein. Die Ambitionen Äthiopiens, die Widersprüche und Konflikte im Land zeigen sich deutlich in Addis Abeba: einer Stadt, die sich nach dem Willen der Herrschenden mit brachialen Mitteln und ohne Rücksicht auf gewachsene Kultur aus der Armut herauskämpfen soll. Eine Stadt, die den einen als Symbol von Fortschritt gilt, anderen als Sinnbild kultureller Entwurzelung. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht Melaku Belay.

Er sagt: „Addis Abeba ist gerade dabei, mit dem Abriss der gewachsenen Viertel auch die alten Traditionen und Gemeinschaftsrituale in Schutt und Asche zu legen.“ Sein Zentrum sieht er als „eine Arche Noah im Meer aus Beton“. Wenn Belay von seinem Widerstand gegen die Modernisierung spricht, mischen sich Wut und Begeisterung: „Hier haben wir noch Lesungen, Kunstausstellungen, Podiumsdiskus-sionen und Musik. Aber niemand weiß, wie lange noch.“

Das Konzert an diesem kühlen Abend fängt erst in zwei Stunden an, aber der Club ist schon gut gefüllt. Die Leute wärmen sich an der Feuerschale neben der Bar, nippen an ihrem in kleinen Krügen ausgeschenkten Honigbier. Rastlos läuft der Chef durch seinen um einen Innenhof gruppierten Fuchsbau, von der Bühne zur Küche, von der Bar zum Biergarten. Er ist jemand, der alles checkt, alles kontrolliert, dem nichts entgeht.

Egal ob es um die Gästeliste, eine kranke Bedienung oder einen zusätzlichen Verstärker geht – Belay hat ein freundliches Wort für jeden. Und stets ein breites Grinsen im Gesicht. Als ob er sagen wollte: alles nur Kinderkram im Vergleich zu der großen Herausforderung, die Kulturszene in Addis am Leben zu halten, die Kulturschaffenden landesweit zu organisieren, ein globales Netzwerk zu schaffen. Das sind die Maßstäbe, an denen sich der Fendika-Betreiber misst. Allein 40 Musiker und Tänzer von vier verschiedenen Bands bezahlt sein Kulturzentrum und ebenso viele Angestellte, die im Gastronomie- und Konzertbetrieb arbeiten. Daneben bietet Belay Nachwuchstalenten Weiterbildungen und Freiräume, um zu experimentieren und aufzutreten.

Fotos: © Amanuel Sileshi /AFP via Getty Images

Lebt und kämpft für sein Kulturzentrum: Melaku Belay

Fotos: © Amanuel Sileshi /AFP via Getty Images

Dort gibt es Lesungen, Kunstausstellungen und Konzerte

Vom Straßenkind zum Kulturbotschafter

Belay nimmt einen Schluck Honigbier und führt in sein Büro, ein kleines Kabuff mit Schreibtisch, Stuhl, Computer und Gäste-Couch. An der Wand hängen Fotos und Urkunden mit geschnörkelter Schrift. „Ritter der schönen Künste“ der Republik Frankreich, „Ritter des Sterns von Italien“, Laureatus des niederländischen Prinz-Claus-Preises. „Das hat sich so angesammelt“, sagt Belay und lächelt ein wenig verschämt. Er gibt sich gern bescheiden, obwohl viele europäische Botschafter schon bei ihm zu Besuch waren. Selbst Abiy Ahmed, der äthiopische Ministerpräsident, habe ihn in seinem Palast empfangen. „Was er sagt, klingt vernünftig“, sagt Belay und nimmt seine Hornbrille ab, „aber am Ende gibt die Regierung nach wie vor keinen Cent für die Kultur.“

Also kämpft er allein weiter. Egal ob er tanzt, Reden hält oder wie zuletzt bei der TED-Fellow-Konferenz 2022 in Vancouver um Unterstützung wirbt. Seine Botschaft ist immer dieselbe: „Nur wenn wir unsere Wurzeln kennen und bewahren, können wir die Zukunft gestalten.“

Schon einmal hat er das Kulturzentrum im letzten Moment vor dem Abriss gerettet. Das war 2008. Die Lokalregierung drohte dem Vorbesitzer mit der Enteignung. Belay war damals noch Kulturmanager von Fendika und mobilisierte Ex-Pats und Freunde aus Deutschland, Italien und Frankreich. Ihre Spendenkampagne brachte mehr als 200 000 Euro ein – genug, damit Belay das Zentrum kaufen und zu einem in Addis einzigartigen Begegnungsort umbauen konnte. Einem der letzten künstlerischen Freiräume der rasant wachsenden Vier-Millionen-Einwohner-Metropole. „Früher gab es 17 Musikbühnen in diesem Viertel, in Kazanchis“, sagt Belay. „Heute sind wir als einzige geblieben.“ Und der Rest? Wurde zwangsenteignet, abgerissen, plattgemacht, um Platz zu schaffen für Straßen und Hochhäuser.

Als ehemaliges Straßenkind kennt Belay jedes Mauerloch seines Viertels Kazanchis. Schon als Zehnjähriger hat er hier getanzt – vor Geschäften, Kiosken und in den Azmari Bets genannten Musikkneipen. Die Einnahmen teilte er mit anderen Kindern, seinem Familienersatz. Seine Eltern hat er nie richtig kennengelernt. Als seine Mutter in den Achtzigern vor den mörderischen Säuberungsaktionen des damaligen – nach einem Putsch an die Macht gekommenen – Derg-Regimes floh, ließ sie ihn bei seinem Onkel im Dorf zurück. Belay hütete Kühe, bis auch der Onkel starb und er sich nach Addis durchschlug. Die Betreiber des Fendika hatten Mitleid mit dem talentierten jungen Tänzer. „Sie gaben mir eine Matratze unter der Bar. Dort schlief ich sieben Jahre lang.“

Die Aufnahmeprüfung für das Nationaltheater bestand er nicht – „zu klein“, habe es geheißen. Möglicherweise hielt man ihn aber auch für zu provinziell und zu verliebt in die Folklore, die die westlich orientierte Elite für rückständig hielt. Die Anerkennung kam dann aus Europa. Es war die Alliance Ethio-Francaise, die französische Kulturvertretung in Addis, die dem jungen Tänzer seine erste große Bühne bot und seine erste Europa-Tournee organisierte – der Beginn einer internationalen Karriere.

Bei seinen Auftritten kommt Belay immer wieder auf Äthiopiens kulturellen Reichtum zurück. Als Bühnen-Ansager, als Bandleader seines Ensembles Ethiocolors, vor allem aber als Eskista-Tänzer. Das ist ein traditioneller Tanz, der die Schultern in mal zitternde, mal schüttelnde, mal an Breakdance erinnernde Bewegungen versetzt. Belay tanzt ihn allabendlich zu den Klängen seiner Hausband. Solange das noch geht, solange das Fendika noch steht, ist sein altes Viertel noch nicht gänzlich verloren.

Fotos: © Amanuel Sileshi /AFP via Getty Images

In den Räumen des Kulturzentrums Fendika kommen Menschen aus ganz Äthiopien zusammen

Fotos: © Amanuel Sileshi /AFP via Getty Images
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