Königsjagd im Slum
Der Nigerianer Tunde Onakoya will einer Million Kindern in Afrika Schach beibringen. Er sagt: Das könnte viele ihrer Probleme lösen. Porträt eines Großdenkers.
• Tunde Onakoya steigt aus seinem roten Lexus aus und tritt auf eine sandige Straße in Makoko, einem gigantischen Slum im Zentrum der nigerianischen Megacity Lagos. Und sofort treffen ihn alle Blicke, Passanten drehen sich um und fangen an zu tuscheln.
Er fällt auf, und das hat zwei Gründe. Erstens wäre da sein extravaganter Kleidungsstil: Obwohl es sicher 30 Grad Celsius heiß ist, trägt er einen Tweed-Anzug über einem weißen T-Shirt, oft auch über einem weißen Hemd mit schmaler Krawatte. Auf dem Kopf trägt er eine Fila – so heißen die traditionellen Stoffhüte in Westafrika. Im linken Ohr glänzt ein dunkler Ohrring und am Handgelenk die blaue Apple-Watch. Zweitens ist er in den Slums von Nigeria ein Star, seitdem seine märchenhafte Aufstiegsgeschichte in Nigeria viral ging.
Onakoya ist selbst in einem Slum von Lagos aufgewachsen. Er hat als kleiner Junge Schach gelernt, gemeistert, und dann hat das Spiel ihm den Aufstieg ermöglicht. Heute ist er 28 Jahre alt und lebt seine ganz eigene Version des Nigerian Dream.
Er behauptet: Schach könne eine Revolution in Afrikas Slums lostreten. Er hat 2018 die Non-Profit-Organisation Chess in Slums Africa gegründet. Ihr offizielles Ziel: Bis 2030 soll einer Million Kindern Schach beigebracht werden.
Aber haben die Kinder in Slums nicht andere Probleme, als ein Brettspiel zu lernen? Naja, das könne er jetzt nicht in ein paar Sätzen zusammenfassen, antwortet Onakoya, aber er könne es ganz gut zeigen. Er will beweisen, dass Schach eine „disruptive Idee für Afrikas Slums“ ist.
Er läuft die sandige Straße hinunter, bis er an einem Kanal ankommt. In dem Kanal liegen ein paar kleine Kanus, daneben sitzen am Ufer drei junge Männer unter einem riesigen Sonnenschirm. Gondolieris.
Die Leute in Lagos nennen Makoko scherzhaft „Venedig von Afrika“, denn Makoko ist auf Stelzen ins Wasser gebaut. Aber hier sind die Gondolieris keine Touristen-Attraktion, sondern das einzige Verkehrsmittel.
Tunde Onakoya steigt in eines der Kanus, der Gondolieri stößt sich mit seinem Stab kräftigt vom Ufer ab, und das wackelige Boot gleitet hinein in das enge, verwinkelte Netz aus Wasserstraßen, vorbei an Wellblechhütten, die auf Holzpfählen stehen. Immer wenn das Kanu unter einer der niedrigen Holzbrücken entlang fährt, zieht Onakoya den Kopf ein, und wenn ein anderes Kanu seines rammt, zuckt er nicht mal zusammen.
Zur Rush Hour stockt auf den Wasserstraßen von Makoko der Verkehr: Fliegende Händlerinnen und Fischer in motorisierten Booten kommen gerade aus der Lagune von Lagos zurück. Auch Familien und alte Leute sind unterwegs. Bald steht Onakoya im Stau. An einer der schmalen Kreuzungen hat sich eines der großen Frachtboote verhakt. Ältere Männer kommen aus ihren Hütten, springen von einem Kanu ins nächste, bis sie ganz vorn ankommen, dort, wo das Frachtboot sich verhakt hat. Sie lotsen die kleineren Boote vorbei und lösen den Stau.
Nach einer halben Stunde hält Onakoya vor einem der wenigen Gebäude an, das hier in Makoko nicht auf Stelzen steht: die Schule. Sie steht auf aufgeschüttetem Sand. Ein kleines Häuschen, zwei Stockwerke, drinnen: düstere und kahle Klassenzimmer. „Es gibt viel schlimmere Schulen“, sagt Onakoya, und das ist genau das Problem, das er lösen will: In vielen Ländern Afrikas sind öffentliche Schulen sehr schlecht ausgestattet, auch in Nigeria. In den Slums besucht etwa jedes fünfte Kind zwischen 6 und 11 Jahren gar keine Schule.
Nigeria gibt im Jahr umgerechnet etwas mehr als eine Milliarde Euro für Bildung aus. In Deutschland, das nur etwa ein Drittel der Einwohner hat, belaufen sich die öffentlichen Ausgaben für Bildung auf 176 Milliarden Euro im Jahr.
Für Kinder, die in einem afrikanischen Slum aufwachsen, ist es fast unmöglich, an eine gute Schulbildung zu kommen. Im Kongo oder Tschad etwa leben rund vier Fünftel der Bevölkerung in Slums. In Nigeria, dem mit 220 Millionen einwohnerreichsten Land des Kontinents, ist es die Hälfte der Bevölkerung. Die vielleicht größte soziale Frage in vielen dieser Nationen ist: Wie kann man die Leben der Slumbewohner verbessern? Tunde Onakoyas Antwort ist: mit Schach.
Denn Schach trainiert das Gehirn. Denn Schachspieler müssen logisch denken, sich konzentrieren, unter Zeitdruck Entscheidungen treffen, kreativ sein und sich auf ihren eigenen Verstand verlassen. Sie müssen einen Plan entwerfen und ihn dann gegen den Widerstand des Gegners umsetzen. Alles Fähigkeiten, die einem auch dabei helfen können, die eigenen Lebensumstände zu verbessern.
Ganz neu ist die Idee nicht: Die Sowjetunion sah in Schach zum Beispiel eine ideologisch unbedenkliche Methode, das Volk zu bilden. Schach sei Gymnastik für den Geist, soll Lenin gesagt haben – und zwar sehr billige Gymnastik: Ein Schachspiel bekommt man für ein paar Euro.