Kernkompetenz Feingefühl

Wie gut Führungskräfte sind, zeigt sich besonders in heiklen Situationen. Drei Gespräche über den Umgang mit Trauer, Sucht und Alphatier-Gehabe.



Bei Todesfällen im Kollegenkreis oder in der Familie einer Beschäftigten sind Führungskräfte besonders gefragt.

Interview: Jeanne Wellnitz
Fotografie: Felix Brüggemann


Karin Borck ist Professorin am Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften der Fachhochschule Potsdam mit den Lehrgebieten Führung und Beratung. Sie ist zudem wissenschaftliche Leiterin der Weiterbildung „Tod und Trauer in der Arbeitswelt“, die 2024 das erste Mal stattfinden wird

brand eins: Frau Borck, wie überbringt man als Führungskraft die Nachricht, dass jemand aus dem Team gestorben ist?

Karin Borck: Das sollte für die nahestehenden Kolleginnen und Kollegen möglichst in Präsenz geschehen und an einem ruhigen Ort. Sprechen Sie offen aus, was passiert ist, und zeigen Sie eigene Gefühle. Und kombinieren Sie das Thema nicht mit der sonstigen Tagesordnung!

Was muss in der Vorbereitung bedacht werden?

Die Führungskraft sollte sich vorher überlegen, welche Details sie weitergeben möchte, und diese mit den Angehörigen absprechen. Im Gespräch braucht es dann Raum für alle Nachfragen, Gefühlsäußerungen und vielleicht auch Erzählungen über die verstorbene Person. Ein plötzlicher Todesfall ist immer ein Schock, das gilt es auszuhalten. Und jede Person reagiert darauf anders, die einen wollen weiterarbeiten, die anderen brauchen Zeit allein oder zusammen. Nach einer Weile sind dann folgende Fragen wichtig: Welche Erinnerungskultur soll etabliert werden? Welche Rituale braucht es? Und natürlich auch: Wie gehen wir mit dem leeren Schreibtisch um?

Was raten Sie da?

Ein Weg ist es, den Arbeitsplatz unangetastet zu lassen, die Angehörigen nach einer angemessenen Zeit einzuladen, ihn gemeinsam aufzuräumen, vielleicht auch eine Kerze oder eine Blume hinzustellen. Gemeinsam kann man dann über den verstorbenen Menschen sprechen und seinen Lebens- und Berufsweg noch einmal würdigen. Manchmal gibt es auch einen guten Ort für ein Foto von der Person. Das hilft den Kolleginnen und Kollegen beim Trauerprozess, es signalisiert: Hier wird niemand vergessen.

Was lässt sich sonst noch tun?

Ich habe einmal in einem Krankenhaus nach dem Unfalltod einer Ärztin ihre Abteilung begleitet. Wir haben mit dem Team einen Nachmittag damit verbracht, für ihre Kinder unsere Erinnerungen über die Berufstätigkeit der Mutter aufzuschreiben, und es wurde im Krankenhaus ein Gottesdienst gestaltet. In einem anderen Fall, an einer Schule, wurde ein besonderer Raum geschaffen, um einer verstorbenen Schülerin mit einer Kerze und einem Kondolenzbuch zu gedenken, es gab Schweigeminuten und Gesprächsangebote mit externen psychologischen Fachkräften.

Wie sieht grundsätzlich ein guter Umgang mit einem Todesfall im Unternehmen aus?

Es braucht natürlich in erster Linie Einfühlungsvermögen, um mit Trauer umgehen zu können, aber auch Handlungssicherheit – und die erhalten Firmen durch Krisenpläne, die rechtliche Rahmenbedingungen klären, Vertretungsregeln und Informationswege festlegen. Und es braucht Menschen im Unternehmen, die für dieses Themenfeld verantwortlich sind und feinfühlig agieren können. Für alle möglichen Belange gibt es Beauftragte, sei es Brandschutz, Datenschutz oder Erste Hilfe. Warum gilt das nicht für Todes- und Trauerfälle?

Wie reagieren Unternehmen Ihrer Erfahrung nach auf Trauernde?

Bei manchen Todesfällen geschieht aus Unsicherheit nur wenig. Gerade im Arbeitskontext fällt der Umgang mit Krankheit oder Trauer schwer, denn solche Krisen bedrohen unsere Leistungsfähigkeit und überschreiten die Grenzen ins Private. Welche Worte helfen? Wie kondoliert man respektvoll? Wie schafft man die Balance zwischen Rücksichtnahme und Arbeitsanforderung? Das müssen Führungskräfte in Gesprächen sensibel austarieren. Wir brauchen eine Kultur der Trauer.

Was sollten Führungskräfte konkret tun?

In jedem Fall sollten sie persönlich kondolieren und, wenn von den Angehörigen gewünscht, auch die Beerdigung besuchen. Es kann tröstlich für die Hinterbliebenen sein, wenn sie sehen und spüren, all diese Menschen stehen heute an meiner Seite. Es geht dabei auch um Wertschätzung von Lebensleistungen. Dafür steht im beruflichen Kontext meist die Führungskraft.

Was brauchen Trauernde?

Trauer lässt sich nicht in ein Schema oder einen Zeitplan pressen. Was jemand braucht, lässt sich nur im Gespräch herausfinden und kann sehr unterschiedlich sein. Aber eines eint nahezu alle: Menschen, die trauern, wollen, dass über die Verstorbenen gesprochen wird. Dass man über sie sprechen darf! Heute geht es darum, wie man die Beziehung zum Verstorbenen gestalten möchte, um sogenannte Continuing Bonds, denn die Beziehung bleibt bestehen. Trauer hört nicht auf, aber sie kann gestaltet werden und verändert sich.

Wie können sich Vorgesetzte denn auf einen solchen Fall vorbereiten?

Wenn sie durch ihr Verhalten zeigen, dass Krisen zum Leben dazugehören und dafür ein offenes Ohr haben, dann wirken bedürfnisorientierte Fragen oder Rituale der Erinnerung nicht aufgesetzt, sondern stabilisierend. Auch das Wissen um die vielen Gesichter der Trauer kann helfen, mit diesem Gefühl angemessen umzugehen.

Trauer ist mehr als Weinen. Bei Kindern spricht man von Trauerpfützen. Sie können lachen und am Leben teilnehmen und fallen dann wieder in tiefe Traurigkeit. Das ist bei trauernden Erwachsenen manchmal nicht anders.

Welche Schlüsse sollten Führungskräfte daraus ziehen?

Trauer hilft uns Menschen, mit Verlusten umzugehen, und ist daher existenziell notwendig. Sie gehört demnach auch in den Arbeitskontext. Beschäftigte schauen sehr genau darauf, wie eine Führungskraft auf einen kritischen Vorfall im Unternehmen reagiert. Dazu gehört auch ein Trauerfall, und dieser ist damit eine Chance für gutes Führungshandeln.


 

Klaus Hackenbruch war Alkoholiker und beruflich erfolgreich. Mehr als 30 Jahre lang. Dann flog er auf. Heute berät er Firmen zu Prävention und Umgang mit Sucht.

Interview: Mia Pankoke
Fotografie: Ramon Haindl


Klaus Hackenbruch gehörte zum Führungskreis eines mittelständischen Unternehmens. Nach seinem Outing als Alkoholiker und einer Therapie machte er eine Ausbildung zum Suchtberater. Heute hält er Seminare und Workshops in Unternehmen zum Thema Sucht

brand eins: Herr Hackenbruch, Sie gehen sehr offen damit um, dass Sie Alkoholiker waren. Wieso ist Ihnen das wichtig?

Klaus Hackenbruch: Ich habe die meiste meiner nassen Zeit, wie ich sie nenne, nach außen hin perfekt funktioniert. Nach meiner technischen Ausbildung und eigener Selbstständigkeit machte ich als Quereinsteiger im Baumaschinen-Unternehmen eines Freundes Karriere. Ich war beliebt, habe gut verdient und regelmäßig Sport getrieben. Ich bin sogar Marathon gelaufen. Dass ich oft schon auf dem Weg nach Hause im Auto die erste Dose Prosecco kippte, notorisch leere Wein- und Bierflaschen vor meinen Nachbarn versteckte und jeden Morgen mit dem grausamen Gefühl „heute muss es anders werden“ aufwachte, habe ich über Jahrzehnte versteckt.

Die Alkoholsucht bestimmte mein Wesen, mein Verhalten und meine Sorgen. Selbst gegenüber engsten Freunden, meiner Familie und in Beziehungen war ich niemals wirklich ehrlich. Diese Einsamkeit kann man sich als Nicht-Betroffener kaum vorstellen.

Ihr Outing folgte im Jahr 2017. Wie kam es dazu, dass Sie die Sucht nicht mehr verbergen wollten?

Der Geschäftsführer des Unternehmens war ein alter Freund von mir. Wir wohnten beide in einem kleinen Ort in Rheinland-Pfalz und kannten uns seit Ausbildungszeiten. Er, eine Kollegin und ich führten das Unternehmen beinahe als Trio. Doch die Zusammenarbeit lief in dem Jahr vor meinem Outing nicht mehr gut. Wir stritten ständig, und ich war extrem gestresst. Im Nachhinein glaube ich, dass beide schon etwas vermuteten. Jedenfalls trank ich noch mehr als gewöhnlich. Eines Tages saß ich sturzbetrunken in meiner Garage, und mein Freund und Kollege kam vorbei. Als er mich da so sitzen sah, war alles vorbei, und ich outete mich als Alkoholiker.

Sie machten daraufhin einen Entzug. Ihr Geschäftspartner hatte versprochen, dass Sie danach zurückkehren könnten.

Nach meinem Outing machte mir mein damaliger Freund klar: Der freiwillige Entzug ist die richtige Entscheidung, sonst bist du raus. Ich habe also in einer Klinik entgiftet, eine Therapie gemacht und kam trocken zurück in die Firma, in der ich 15 Jahre gearbeitet hatte. Am selben Tag lag die Kündigung auf meinem Tisch. Heute nehme ich das niemandem mehr übel. Dennoch war es hart, dass weder bei der Entdeckung noch bei meiner Rückkehr Empathie für die Sucht da war. Geschweige denn Wertschätzung für mich als Person. Grund dafür war sicher fehlendes Wissen und damit fehlendes Verständnis für die komplexen Veränderungen meiner Persönlichkeit und meines Verhaltens.

Dabei kannten die beiden Geschäftsführer Sie doch gut.

Aber auch sie waren nicht immun gegenüber Vorurteilen. Betroffene werden nur noch als Süchtige wahrgenommen, ihre positiven Ressourcen verkannt. Ich möchte das ändern – auch weil ich weiß, wie sehr solche Reaktionen schmerzen. So kam ich zum Thema Suchtprävention in Unternehmen mit Wertschätzung und Empathie als Pfeilern meiner Arbeit.

Den ersten Vortrag darüber hielt ich im Zuge einer Maßnahme des Arbeitsamtes in einem riesigen Finanzturm in Frankfurt am Main vor einer Gruppe von Managern in Anzügen. Ich erklärte anhand meiner Geschichte die schleichende Macht der Sucht und spürte regelrecht, wie sie aufhorchten. Viele waren Abteilungsleiter, und einige sprachen mich darauf an, dass sie Süchtigen nun anders begegnen würden. Was aber keinem in den Sinn kam, war, dass auch einer von ihnen betroffen sein könnte.

Schauen viele Führungskräfte bei sich selbst lieber nicht so genau hin?

Tatsächlich ist das fast immer so. Dahinter steckt der Gedanke: Süchtig sind die anderen und sicher niemand, der es schafft, Karriere zu machen. Dabei haben fünf Prozent aller Beschäftigten ein problematisches Trinkverhalten, weitere fünf Prozent sind bereits abhängig. Der Sucht ist es egal, ob man Geschäftsführer oder Arbeiter ist. Eine Führungskraft, die aber bei sich selbst die Warnzeichen nicht erkennt, kann keine offene Umgangskultur mit Alkoholismus vorleben. Das macht es so wichtig, die Sensibilität für Alkoholismus zu fördern.

Wie geht das?

Ich beginne die Seminare nie mit konkreten Tipps zu Umgang oder Intervention. Erst geht es um grundlegendes Verständnis: Was bedeutet Sucht? Und wie gehen wir mit Stigmatisierung um? Dann erst können Führungskräfte lernen, Betroffene weiterhin wertzuschätzen.

Gesundheit zu fördern heißt nicht, einen Obstkorb in den Pausenraum zu stellen, sondern Bedingungen zu etablieren, die die Gesundheit erhalten. Dafür braucht es den fairen und ehrlichen Umgang mit- und untereinander. Aber auch eine positive Fehlerkultur sowie Kommunikation auf Augenhöhe, trotz hierarchischer Strukturen. Wenn ich schon beim Gedanken an meine Arbeit Bauchschmerzen habe, spreche ich sicher nicht an, dass ich ein Problem habe. Niemand ist unfehlbar, Führungskräfte dürfen keine Unfehlbarkeit erwarten.

Wie spricht man Mitarbeiter bei dem Verdacht auf ein problematisches Trinkverhalten am besten an?

In einem geschützten Raum, der vertraulichen Austausch ermöglicht. Das Gespräch muss dem Leitgedanken folgen, dass es ein Zeichen der Wertschätzung der betroffenen Person ist. Das Gegenüber muss verstehen, dass es nicht um Konsequenzen geht, sondern um eine Hilfestellung, dem Strudel zu entkommen. Trotz aller Vorsicht muss die Führungskraft Verdachtsmomente klar benennen und deutlich machen, dass der Beschäftigte jetzt gefordert ist.

Am besten definieren beide gemeinsam ein klares Ziel und machen einen festen Termin für ein kommendes Treffen aus. Entscheidend ist außerdem, dass Unternehmen ihre Beschäftigten nach dem Entzug wieder richtig eingliedern. Sprechen Führungskräfte explizit die Qualitäten des Süchtigen an und konzentrieren sich darauf, was er oder sie leistet, nimmt das der Sucht viel von ihrer Macht.

Bei der Deutschen Bahn etwa gibt es heute das Versprechen: Wer einen Entzug macht, bekommt Unterstützung. Ändert das was in den Köpfen der Leute?

Ja und nein. Einerseits ist das Thema Sucht kein so großes Tabu mehr, und viele Menschen erkennen, dass der gesellschaftliche Umgang mit Alkohol problematisch ist. Trotzdem darf man sich besonders beim Thema Prophylaxe keine Illusionen machen. In zahlreichen Firmen ist es immer noch so, dass hinter Prävention, Beratung und Hilfsangeboten nicht der Wunsch nach echter Veränderung steht. Oft stecken dahinter vielmehr betriebliche Vorgaben des Gesundheitsmanagements.

Vor Ort stoße ich aber zunehmend auf offene Ohren. Mittlerweile habe ich in zahlreichen Unternehmen Vorträge gehalten und Mitarbeitende geschult. Trotzdem wäre es schön, wenn ich mehr Firmenlogos auf meiner Website zeigen dürfte. Da arbeite ich noch gegen den kleinen Rest Stigma.


 

Dominik Schneider war rund 15 Jahre in Führungspositionen bei Unilever, Coca-Cola und L’Oréal tätig. Mittlerweile ist er selbstständiger Berater und spricht in Unternehmen und mit Privatpersonen darüber, wie Männer aus tradierten Rollenmustern ausbrechen können.

Interview: Anna Friedrich
Fotografie: Felix Brüggemann


Dominik Schneider arbeitete im Marketing, bis er sich vor drei Jahren mit seiner Beratungsfirma Beyond Alpha selbstständig machte

brand eins: Herr Schneider, was sind Alphamänner denn überhaupt?

Dominik Schneider: Alphamänner wollen jedem zeigen, dass sie die Größten sind. Wenn sie reden, haben die anderen zu schweigen. Sie hören nicht zu und messen sich mit Rivalen. Sie sind stark, zeigen keine Gefühle, geben immer Vollgas. Sie haben auf alles eine Antwort, sehen ihr berufliches Vorankommen als Kampf gegen alle anderen.

Sind Sie selbst ein Alphamann?

Ich würde mich nicht als typischen Alphamann bezeichnen, trotzdem habe auch ich seit Beginn meiner Karriere versucht, mich so zu verhalten, wie andere es von mir erwartet haben. Oft kamen Sätze wie: Du musst härter werden. Du musst dir im Meeting einen höheren Redeanteil nehmen. Ich wollte den Anforderungen gerecht werden, obwohl es mir nicht guttat. Irgendwann habe ich mich gefragt, was ich da eigentlich tue. Doch es ist gar nicht so leicht, aus lange antrainierten Rollen auszubrechen.

Männer hatten lange den Luxus, mit diesem Verhalten erfolgreich zu sein. Die Zeiten der Alphamänner sind aber vorbei. Jetzt sind neue Qualitäten gefragt: Gute Führungskräfte zeichnen sich nicht mehr durch Durchsetzungsmacht und Disziplin aus, sondern durch Empathie, Mitgefühl und Selbstreflexion. Führung ist weicher geworden. Was früher vielleicht als Schwäche galt, ist heute gefragt.

Das klingt sehr schwarz-weiß.

Meine Beobachtungen formuliere ich bewusst zugespitzt, um die Diskrepanz zu verdeutlichen. In meinen Vorträgen spreche ich von Alphamännern als einer Art fiktiver Schablone, in die sich Männer hineinzupressen versuchen. Viele denken, sie müssten so sein, weil es von ihnen erwartet wird. Ich spreche mit vielen Chefs, die sich nie trauen würden, sich mal verletzlich zu zeigen, zum Beispiel indem sie sagen, dass es ihnen nicht gut geht. Sie scheuen sich davor, andere um Unterstützung zu bitten und Hilfe anzunehmen.

Wie bringt man Männer dazu?

Der erste Schritt ist, dass Männer den Gedanken zulassen, dass auch sie von Alpharollenmustern geprägt sein können. Das fällt vielen schwer. Sie denken eher: Ach, das betrifft mich nicht. Doch wer eine Woche lang beobachtet, welche Handlungsmuster und Glaubenssätze in ihm stecken, wird überrascht sein, wenn er feststellt: Ich mache jeden Tag Überstunden. Im Meeting spreche ich immer zuerst. Ich habe auf alles eine Antwort.

Einige leben diese Rolle mit vollem Elan, sie gehen darin auf und fühlen sich wohl damit. Andere belastet sie. In diesen Fällen spreche ich von limitierenden Alpharollenmustern.

Was hat Sie in dieser Rolle belastet? Immerhin haben Sie etwa 15 Jahre in verschiedenen Führungspositionen ausgehalten.

Ich habe den Druck gespürt, immer alles wissen zu müssen. In Besprechungen haben alle zu mir geschaut und auf meine Antwort gewartet. Irgendwann habe ich einfach mal gesagt: Ich weiß es nicht – und die Spezialisten am Tisch gefragt, was sie meinen. Das war für mich unglaublich befreiend, weil ich gemerkt habe, dass ich nicht, wie ich befürchtet hatte, meine eigene Kompetenz untergrabe. Stattdessen war das Signal ans Team: Ich schätze das Wissen der anderen.

Wie sollten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihrem Vorgesetzten umgehen, der sich wie ein Alphatier aufführt?

Das ist eine schwierige Frage. In vielen Firmen ist allein schon aufgrund des Machtgefüges nahezu ausgeschlossen, dass der Unterstellte seinen Vorgesetzten darauf hinweist. Da hilft in vielen Fällen nur, bei sich zu bleiben, sich nicht unter Druck setzen zu lassen. Zusätzlich kann es hilfreich sein, sich mit Beschäftigten auf gleicher Ebene auszutauschen, um zu bemerken, dass es nicht nur einem selbst so geht. Mitarbeiterbefragungen oder Führungskräftebewertungen können ein gutes Mittel sein, um anonym Feedback zu geben und Veränderungen anzuregen.

Das heißt also: Wenn mein Chef nicht weiß, was er falsch macht, ändert sich nichts.

Ja, das stimmt auf der einen Seite: Teilweise ist ein Chef sich seiner Wirkung gar nicht bewusst. Auf der anderen Seite gibt es Möglichkeiten, in diesen Teufelskreis einzugreifen. Einer meiner Klienten beispielsweise hielt sich für sehr nahbar. Dann hat ihm mal jemand gesteckt, dass die Leute Angst haben, zu ihm ins Meeting zu kommen. Das hat ihn überrascht, was bei ihm einen Reflexionsprozess ausgelöst hat und zu einer Veränderung in der Feedbackkultur führte.

Wie sollten Führungskräfte mit Feedback umgehen?

Es ist Aufgabe guter Führung, zu vermitteln, dass man an ehrlichem Feedback interessiert ist. Wer Feedback einfordert, muss aber auch damit leben können, was er zu hören bekommt. Er wird sofort an seiner Reaktion gemessen. Wer eher verteidigend reagiert, verschließt die Tür zu einer offenen Kommunikationskultur. Das beste Feedback auf Kritik ist, danke zu sagen – für das Vertrauen und den Mut, den die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufbringen.

Gibt es auch Alphafrauen?

Ja, es gibt Frauen, die sich in die Schablone männlicher Rollenmuster pressen. Frauen sind in einem Wirtschaftssystem sozialisiert worden, das von Männern für Männer entwickelt wurde. Das ist dann aber kein Geschlechter-Rollenproblem wie bei den Männern, sondern ein systemisches. Sie bekommen schnell mit, welche Verhaltensweisen es braucht, um erfolgreich zu sein. Deshalb ist es so wichtig zu erkennen, dass Machtgehabe uns nicht weiterbringt und keine gute Führungskraft ausmacht – unabhängig vom Geschlecht. ---

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