brand eins-Container: Unter Druck #03

Stolz präsentierte die fränkische Farbenfabrik Kreul vor gut drei Jahren eine besonders umweltfreundliche Produktserie. Doch dann stellte sich der erhoffte Verkaufserfolg nicht ein.

Bis heute fragt man sich, was falsch gelaufen ist.




Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 11/2023.

• „Mit der Farbenherstellung ist es ähnlich wie mit dem Kochen“, erklärt Florian Hawranek, vor einem 800-Liter-Bottich mit „Solo Goya Triton Acrylic Oxydbraun dunkel“ stehend. „Die Reihenfolge der Zutaten ist entscheidend.“ Jede Farbe benötigt vier Bestandteile: Pigmente, Bindemittel, Füllstoffe und Konservierungsmittel. „Und jede Zutat braucht ihre Zeit“, sagt Hawranek, der in vierter Generation die älteste Künstlerfarbenfabrik Deutschlands führt. „Man darf sie nicht zu früh zugeben, aber auch nicht zu spät.“ Wie Zwiebeln, die schwarz werden und bitter schmecken, wenn man sie zu lange anbrät.

Die C. Kreul GmbH & Co. KG, 1838 gegründet und in der 4200-Einwohner-Gemeinde Hallerndorf in der Fränkischen Schweiz gelegen, ist Spezialist für flüssige Farben. Profis nutzen sie ebenso wie kreative Laien oder Zweijährige, die ihre ersten Kunstwerke mit Quietsch-Pink und Feenstaub-Rosa kreieren.

Millilitergenau und ohne dass auch nur ein Tropfen daneben geht, presst die Abfüllanlage – ähnlich wie bei Zahnpasta – die Farbe in Tuben; die jeweilige Mixtur ist bis ins Detail festgelegt. Trotzdem sei das gute Auge der Beschäftigten wichtig, betont die Marketingchefin Claudia Schuberth, 37. „Wir sind stolz, dass wir Mitarbeiter mit einem guten Gespür haben, die im Zweifel sagen: Moment mal, das Zitronengelb sieht heute irgendwie nicht so gut aus wie sonst.“

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Zur Abfüllung bereit: fertig gemischte Farbe

Vor fünf, sechs Jahren begann bei Kreul eine Idee zu gären, die sich als folgenschwer erweisen sollte. Florian Hawranek, 48, promovierter Betriebswirt, wollte nicht darauf hoffen, dass wieder ein kurzfristiger Hype das Unternehmen beglückt wie um die Jahrtausendwende, als der Window-Color-Boom Millionen von Küchen-, Wohn- und Kinderzimmerfenstern heimsuchte und in der fränkischen Farbenfabrik für eine Verdreifachung des Umsatzes und 150 neue Jobs sorgte – ein Strohfeuer, das allerdings schon bald erlosch. Längst ist man wieder zurück bei der alten Belegschaftsstärke von 100 Beschäftigten und einem Umsatz von 17 Millionen Euro im Jahr 2021.

Die Pandemiejahre 2020 und 2021 waren dann die umsatzstärksten der vergangenen zwei Jahrzehnte und bescherten Kreul einen Gewinn von insgesamt 2,5 Millionen Euro. Mütter und Väter saßen monatelang zu Hause mit ihren Kindern, die sich langweilten, und da entdeckten viele das gemeinschaftliche Malen wieder neu – oder überhaupt zum ersten Mal. Eine Zeit lang kam Kreul mit der Produktion trotz Übergang zum Zweischichtsystem nicht mehr hinterher.

Schon vor diesen Boomjahren hatte eine Produktentwicklerin darauf gedrängt, eine möglichst umweltfreundliche Farbe zu kreieren. Die Mitarbeiterin war abstrakter Erörterungen über Nachhaltigkeit müde und wollte endlich an einem Produkt austesten, was möglich ist, wenn man alle Register zieht. In Claudia Schuberth fand sie eine Verbündete. „Wir können viel reden, aber irgendwann müssen wir auch mal was umsetzen“, befand die Marketingchefin. Und Hawranek entschied schließlich: „Dann ziehen wir es jetzt durch.“


Die Kreul-Beschäftigten haben den Blick für die richtige Mischung

„Es“ hat längst einen Namen: Kreul Nature – eine umweltfreundliche Alternative zu Acrylfarbe in zwölf Farbtönen, die nicht klassisch Kobaltblau oder Umbra heißen, sondern Wohlfühlnamen wie Bienenwabe, Koralle oder Schiefergestein tragen. „Unsere Speerspitze der Nachhaltigkeit“ nennt Hawranek die vor dreieinhalb Jahren eingeführte Farbserie, mit der man in Deutschland eine Pionierrolle übernahm. Die Rohstoffe sind zu 84 Prozent natürlichen Ursprungs, der Schraubverschluss des Behältnisses besteht aus Altplastik; Glas, Etikett und Kartonage ebenfalls ganz oder fast vollständig aus Recyclingmaterial.

Weil beim zugehörigen Pinsel auf die Aluminiumhülse verzichtet wurde, kann das Malgerät, wenn die Schweineborsten ausgeleiert sind, in der Biotonne entsorgt werden. Auf den Fachmessen kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie war die neu entwickelte Farbe ein Topthema. „Überschwänglich“ sei die Reaktion aus der Fachwelt gewesen, Hawranek betont das immer wieder. Ein Produkt, das in die Zeit passt.

Dann kam der Verkaufsstart – und mit ihm die Ernüchterung. Die Absatzzahlen waren von Beginn an enttäuschend; nie haben sie auch nur annähernd das Soll erreicht. „Neue Produkte konnten sich nicht wie erhofft durchsetzen“, heißt es im Lage-bericht für das Geschäftsjahr 2021. „Eine Katastrophe“, hört man hier und da bei Kreul.

Betriebswirtschaftlich ist das Nature-Experiment allerdings nicht bedrohlich, weil der Anteil der Produktlinie am Gesamtumsatz ausgespro- chen überschaubar ist. Genaue Zahlen mag Hawranek nicht preisgeben; er macht aber keinen Hehl aus seiner Enttäuschung.


Es ist nicht alles Gold, was glänzt – Im Werden: olivgrüne Farbe – Ein buntes Arbeitsumfeld: noch mehr Farben

brand eins: Warum ist Ihre umweltfreundliche Farbe kein Verkaufserfolg?

Florian Hawranek: Wir sind nicht zum Endverbraucher durchgedrungen. Vielleicht haben wir auch zu viel erwartet. In unserer Branche ist die Sensibilisierung für Nachhaltigkeit – etwa im Vergleich zu Lebensmitteln – noch verschwindend gering. Teilweise ist das auch nachvollziehbar: Der ökologische Fußabdruck eines Gläschens Farbe ist – für sich genommen – nicht annähernd mit dem eines Rindersteaks vergleichbar.

Womöglich wäre es ein Verkaufsargument, wenn die Rezeptur zu 100 Prozent aus natürlichen Rohstoffen bestünde und nicht nur zu 84 Prozent.

Claudia Schuberth: Unser Labor hat ganz klar gesagt: Wenn die Farbe nachhaltig sein soll, dann muss sie lange halten. Also stehen die synthetischen Pigmente nicht zur Diskussion. Natürliche Farbstoffe verblassen sehr schnell, sie sind nicht lichtecht. Außerdem ist die Nature ja eine flüssige Farbe; sie braucht also ein Konservierungsmittel, damit sie nicht verdirbt. Wenn das Gesamtpakt in der Anwendung also nachhaltig sein soll, kommen wir nach heutigem Stand nicht auf die 100 Prozent.

Warum drucken Sie nicht eines der gängigen Nachhaltigkeits-Label auf die Flaschen?

Hawranek: Wenn es seriös und aussagekräftig sein soll, sind die Kosten und der Aufwand dafür enorm. Und selbst dann bleibt die Frage, ob der Kunde es wirklich honoriert. Meine Erfahrung sagt mir, dass allein die mehr als fünf Prozent Aufschlag beim Verkaufspreis eher ein Killer als ein Treiber sind – und eine Zertifizierung würde das Produkt noch teurer machen.


Nachdenklich: Florian Hawranek


„Wir sind nicht zum Endverbraucher durchgedrungen.“


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Wir sind überzeugt, dass die Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit eine große Chance für Unternehmen bietet. Um sie zu nutzen, sollten Führungskräfte der ganzheitlichen Nachhaltigkeitstransformation höchste Priorität einräumen: Jetzt gilt es, Menschen zu befähigen und Ressourcen für die Umsetzung zu mobilisieren. Für uns, für die Gesellschaft, für unseren Planeten.

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Florian Hawraneks Erfahrung lässt sich statistisch untermauern. Inflation und gesunkene Kaufkraft haben das Problem für Anbieter umweltfreundlicher Produkte verschärft.

Nach einer Verbraucherstudie der Unternehmensberatung Deloitte von Oktober 2022 ist „die Bereitschaft, für nachhaltige Produkte mehr Geld auszugeben als für vergleichbare konventionelle, deutlich gesunken. Akzeptierten 2021 im Schnitt 67 Prozent der Befragten Mehrkosten, hat sich dieser Anteil ein Jahr später mehr als halbiert und liegt jetzt bei 30 Prozent, bei Non-Food-Produkten sogar nur bei 24 Prozent. „Vor dem Hintergrund steigender Preise ist die Bereitschaft der Verbraucher, für Nachhaltigkeit mehr zu zahlen, weitgehend erschöpft“, so der für das Thema zuständige Deloitte-Partner Thorsten Zierlein.

Das klingt nach denkbar schlechten Startchancen für ein Produkt wie Kreuls Nature. brand eins hat sich umgehört: Wozu raten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich das Unternehmen angesehen haben? Was empfehlen Berater? Und was tun andere Unternehmen aus der Branche?

Rüdiger Lugert, Geschäftsführer von Keimfarben, hat, anders als Florian Hawranek, kein Problem, seine Ökofarben zu vermarkten. Der bei Augsburg ansässige Hersteller von Außen- und Innenanstrichen punktet seit mehr als 140 Jahren mit einer hervorragenden Umweltbilanz – weil seine Farben ausschließlich auf natürlichen Rohstoffen basieren und ohne Lösemittel, Weichmacher oder Konservierungsstoffe auskommen.

Lugert sagt: „Es ist ein Unterschied, ob Sie eine Malfarbe für ein Bild suchen oder etwa eine Farbe für einen Fassadenanstrich, deren Kauf eine langfristige Investition ist. Den Aufpreis für unsere Produkte gegenüber konventionellen Farben müssen wir unseren Kunden nicht lange erklären. Architekten muss man nicht überzeugen, weil sie in der Regel ohnehin nachhaltig und langfristig orientiert denken. Aber auch unter den Bauherren, insbesondere unter den jüngeren, treffen wir in den vergangenen Jahren auf viele, denen es wichtig ist, in einem Haus zu leben, das frei von Schadstoffen ist, in dem sie und ihre Familie gut und gesund schlafen können. Und sie wissen, dass sie sich, wenn sie sich für unser Produkt entscheiden, über einen neuen Fassadenanstrich die nächsten 30 Jahre oder länger keine Gedanken machen müssen. Dafür sind sie dann auch bereit, etwas mehr zu bezahlen.“

Florian Hawranek hat es da ungleich schwerer. Seine Vertriebler haben es nicht mit Architekten oder Häuslebauern zu tun, sondern – da der klassische Hobbybedarfs-Fachhandel so gut wie ausgestorben ist – vor allem mit den Einkäufern von Baumarktketten. Die seien zwar anfangs begeistert von seinem umweltfreundlichen Produkt, berichtet Hawranek, aber dann kämen gleich die Probleme auf den Tisch. „Sie wissen nicht, wo sie die Nature im Regal platzieren und was sie stattdessen aus dem Sortiment nehmen sollen.“

Als Nächstes komme die Frage nach verlässlichen Rentabilitätszahlen und dem Umfang des Werbebudgets. Im Ergebnis landet Kreuls Nachhaltigkeits-Speerspitze häufig in einer abgelegenen Regalecke. Kreul biete eigene Aufsteller für die Nature an, sagt Claudia Schuberth – „aber dann heißt es: Für sowas haben wir im Laden keinen Platz. Oder sehen Sie hier welchen?“

Die Gründer von Miss Pompadour, einem noch jungen Anbieter von Farben und Lacke für Innenanstriche von Wänden und Möbeln, hätten von Anfang an weder Lust noch Zeit für derart anstrengende und wenig ertragreiche Debatten gehabt, sagt Erik Reintjes, der Mitgründer und Marketingleiter: „Farben und Lacke sind stark erklärungs- und beratungsbedürftige Erzeugnisse. Wir verkaufen unsere Produkte ausschließlich über unseren Onlineshop, weil es uns wichtig ist, die Hoheit über unsere Marke und über die Kommunikation zu behalten. Wir haben eine Kundenberatung mit mehr als 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die telefonisch, per Whatsapp und per Videocall für Kundenanliegen da sind. Der stationäre Handel kann so etwas heute leider nicht mehr leisten.“

Anders als Kreul, hat Miss Pompadour bislang keine ausgesprochene Ökolinie im Angebot. Die hätte aktuell kaum Marktchancen, sagt Reintjes: „Wir können mit unseren Produkten nur bestehen, wenn sie funktionieren – und zwar ohne Abstriche. Die nimmt der Kunde nicht hin. Wir sind noch nicht so weit, dass wir eine komplett nachhaltige Farbe herstellen können, die so gut ist wie konventionelle. Der Qualitätsverlust würde vermutlich 20 bis 30 Prozent betragen.“

Kreul hat den ambitionierteren Weg eingeschlagen – aber an der leidigen Qualitätsfrage kommen auch die Hallerndorfer nicht vorbei.


Marketing-Macherin: Claudia Schuberth

brand eins: Hat Nature die gleichen Eigenschaften wie konventionelle Farben?

Hawranek: Wenn es darum geht, zu gleichen Preisen in der gleichen Qualität nachhaltig herzustellen, gelingt uns das bei der Verpackung und beim Gebinde, aber bei der Flüssigkeit schaffen wir es noch nicht.

Der Kunde interessiert sich vor allem für die Farbe. Wie deutlich sind die Unterschiede?

Schuberth: Eigenschaften wie Brillanz oder Leuchtkraft sind halt nicht ganz so stark ausgeprägt wie bei konventionellen Farben. In dem Moment, wo Sie das aber kommunizieren, fangen gleich die Diskussionen an: „Die Farbe ist also schlechter?“ Die Kunden bestehen auf mindestens der gleichen Qualität – wenn das erfüllt ist, darf die Farbe gern auch nachhaltig sein.

Welche Rückmeldung bekommen Sie von Ihrem Vertrieb?

Schuberth: Der hat das Thema Nachhaltigkeit auf dem Schirm, wenn er es vermarkten kann. Unser Vertrieb ist generell begeistert, dass wir eine solche Farbe haben, aber auch hier hemmt die Frage, ob sie auch wirklich das gleiche wie eine Acrylfarbe kann.

Seit Frühjahr vorigen Jahres hat Nature auch noch einen ernstzunehmenden Konkurrenten: Die Serie Green, Farben auf Pflanzenölbasis, bestehend weitgehend aus natürlichen Rohstoffen, „klimaneutral und in Deutschland nachhaltig hergestellt“ vom weit größeren Konkurrenten Marabu, einem weltweit agierenden Unternehmen mit mehr als 100 Millionen Euro Jahresumsatz. Damit ist der – wenn auch nur theoretische – Pioniergewinn dahin, das Alleinstellungsmerkmal obsolet. Was nicht per se schlecht sein muss, weil das Thema umweltfreundliche Farben mehr Aufmerksamkeit bekommt. Allerdings gibt Hawranek zu bedenken, dass sich der Händler wohl nur für eines der Produkte entscheiden werde. „Er stellt sich nicht beide hin“ – zumal die Marabu-Farben deutlich weniger kosten als die von Kreul. Allerdings hat Marabu eine etwas andere Zielgruppe im Visier: Die Serie Green ist primär für künstlerische Projekte gedacht und nicht, wie Kreuls Nature, für Do-It-Yourself-Vorhaben.

Zudem setzt Marabu in seiner Ökobilanz noch eins drauf und klotzt bei der Rezeptur mit einem Anteil von 92 Prozent an Rohstoffen natürlichen Ursprungs – acht Prozentpunkte mehr als Kreul. Wollte die Firma nun in den Wettbewerb um die nachhaltigste Farbe eintreten, bräuchte sie verlässliche Kennzahlen des Konkurrenzprodukts, die, wenn überhaupt, nur mit großem Aufwand und Kosten zu beschaffen wären.

Thorsten Zierlein von Deloitte warnt außerdem vor allzu großen Erwartungen: „Transparenz ist für den Kunden extrem wichtig, aber man sollte die eigene Nachhaltigkeitserzählung auch nicht überfrachten. Die ungefilterte Kommunikation aller Daten, ich nenne es mal vom Acker bis zum Regal, kann zu einer Überforderung des Konsumenten führen. Man verliert sich darin.“

brand eins: Müsste man stärker in den Kunden hineinhören? Worauf es ihm ankommt? Was er bereit ist, für Nachhaltigkeit zu zahlen?

Claudia Schuberth: Wenn wir für jedes Produkt in der Größenordnung von Nature gesondert Marktforschung betrieben, könnten wir die Firma gleich schließen. Natürlich haben wir in der Produktentwicklung auch eine Phase des Prototyping, wo wir Endverbrauchern die Farbe zum Testen geben. Aber Gewissheit verschafft das nicht. Letzten Endes bringen wir das Produkt auf den Markt und schauen dann, wie der Kunde reagiert.

Und wenn er nicht zugreift – ist da nicht die Versuchung groß, die Notbremse zu ziehen?

Florian Hawranek: Grundsätzlich überlegen wir bei einem neuen Produkt spätestens nach zwei Jahren, ob es den Aufwand wert ist und ob wir weitermachen.

Auch bei Ihrer Ökofarbe?

Hawranek: Außer bei der Nature. Wir werden das Produkt nicht aufgeben. Wir könnten das tun. Aber das täte wirklich in der Seele weh, weil es an der DNA des Unternehmens rührt. Da sage ich: Auch wenn sie noch nicht durchschlägt, die Nature bleibt.

Schuberth: Ohne Nachhaltigkeit braucht uns eigentlich keiner mehr. Sie werden immer jemanden finden, der billiger oder leuchtkräftiger ist – aber da wollen Sie nicht wissen, was drin ist.

Das Festhalten an einem Produkt, das seit seiner Markteinführung nur enttäuschende Verkaufszahlen vorweisen kann, mag halsstarrig erscheinen. Aber es sei verständlich und sogar konsequent, finden Martin Friesl und Annabelle Müller von der Universität Bamberg. Die BWL-Doktorandin und der Professor für Strategie und Organisation haben sich intensiv mit Kreuls Nachhaltigkeitsstrategie befasst. Friesl berichtet, bei den Interviews mit Beschäftigten sei „deutlich spürbar gewesen, wie stolz die Belegschaft auf die Firma ist, auch beim Thema Nachhaltigkeit, wo Kreul in der Branche eine Vorreiterstellung innehat. Würde die Produktserie Nature scheitern, wäre das nicht nur ein finanzieller Schlag, sondern auch eine Verletzung dieses Stolzes der Seele. Das würde meiner Ansicht nach sogar schwerer wiegen als der wirtschaftliche Schaden.“

Allerdings sei die interne Kommunikation beim Thema Nachhaltigkeit mitunter nicht immer glücklich gelaufen, sagt Annabelle Müller: „Die Geschäftsführung hat versucht, ihre Nachhaltigkeitsstrategie über das Firmen-In- tranet zu kommunizieren, damit aber nur einen bestimmten Personenkreis erreicht – nämlich die Beschäftigten in den Büros. Eine Zeitlang gab es Sensibilisierungsprogramme, so eine Art Nachhaltigkeits-Challenge. Da ging es beispielsweise darum, wie die Leute zur Arbeit kommen und ob sie privat nachhaltige Produkte kaufen. Viele empfanden das wohl eher als Bevormundung, und so wurde das Programm bald wieder eingestellt.“

Florian Hawranek ließ im Gespräch mit den Wissenschaftlern gelegentlich eine gewisse Frustration spüren. „Manchmal bin ich enttäuscht, wenn ich merke, dass ich die Leute nicht erreiche“, sagt er.

Der Fuhrpark etwa wird jetzt auf Elektroautos umgestellt – und die Beschäftigten akzeptieren es, weil Elektro-Dienstwagen ihnen einen finanziellen Vorteil bringen. Er sei enttäuscht gewesen, „weil die Leute es primär wegen des geldwerten Vorteils befürworten“, erzählt der Firmenchef. „Professor Friesl hat mir dann geraten, weniger verbissen und missionarisch zu sein. Er sagte: ‚Hauptsache, Sie kommen Ihren Unternehmenszielen wieder ein Stück näher.‘“

Derzeit spricht nicht allzu viel dafür, dass die umweltfreundliche Farbe doch noch ein Verkaufserfolg wird. Aber vielleicht ist das auch nur zweitrangig – weil Nachhaltigkeit bei Kreul mittlerweile viel mehr als ein Leuchtturmprojekt ist. Man produziert mit Ökostrom, hat klimaschädliche Emissionen stark reduziert, setzt in der Logistik zunehmend auf Elektrofahrzeuge, treibt überall den Einsatz von Recyclingmaterialien voran.

Der Blick geht weit über den Erfolg oder Misserfolg eines einzelnen Produkts hinaus. Das erscheint konsequent: In ein paar Jahren werde niemanden mehr interessieren, ob eine Farbflasche ein Öko-Zertifikat trägt oder nicht, sagt Rüdiger Lugert von Keimfarben. Weil dann Nachhaltigkeit der vorgeschriebene Standard sei, für den keine Kundin und kein Kunde einen Aufpreis zu zahlen bereit ist:

„Durch den Green Deal der EU werden wir schon in wenigen Jahren eine Nachhaltigkeitsberichtspflicht haben – und die wird zu einem brutalen Shift im Blick auf dieses Thema führen: Der Fokus geht weg vom Produkt und hin zum gesamten Unternehmen. Hersteller, die in punkto Nachhaltigkeit nicht nur auf einzelne Produkte setzen, sondern die gesamte Produktion und Wertschöpfungskette in den Blick nehmen, machen es aus meiner Sicht richtig, weil sie sich jetzt schon vorbereiten auf das, was unweigerlich kommt.“ --

DIE FACHLEUTE:

ERIK REINTJES, 34, ist Mitgründer und Marketingleiter von Miss Pompadour, einem Onlineanbieter von Farben und Lacken für Innenanstriche von Wänden und Möbeln, der in den Niederlanden produzieren lässt.

RÜDIGER LUGERT, 63, ist Geschäftsführer von Keimfarben, einem im bayerischen Diedorf (bei Augsburg) beheimateten Spezialisten für Außen- und Innenanstriche auf mineralischer Basis mit besonders guter Nachhaltigkeitsbilanz.

THORSTEN ZIERLEIN, 46, ist Partner und Handelsexperte der Unternehmensberatung Deloitte.

MARTIN FRIESL,45, ist Professor für Strategie und Organisation an der Universität Bamberg.

ANNABELLE MÜLLER, 28, ist Doktorandin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre der Universität Bamberg. Für ihre Dissertation hat sie gemeinsam mit Martin Friesl Beschäftigte und die Geschäftsführung von Kreul interviewt.

Reaktion des Lesers Oliver Börsch, Berater für Marken- und Positionierungsstrategie, auf den Container „Unter Druck“ #02 „Von Rennern und Pennern“ (brand eins 10/2023):

„Die geschilderten Ansätze zur Optimierung der Ertragssituation in der Gastronomie sind zweifellos richtig, aber nicht vollständig. Die Qualitätssicherung der Angebote sowie die Kalkulation ihrer Preise auf Basis der realistischen Kostenstruktur ist das Handwerkszeug jedes Unternehmers. Man könnte dies als Bottom Up-Methode der Preisfindung bezeichnen.

Jedoch wird im Beitrag die strategische Option einer Top Down-Methode nicht erwähnt: Hierbei wird das Restaurant als Marke verstanden, die über einzigartige Genusserlebnisse einen immateriellen Mehrwert für seine Gäste schafft. Solche Erlebnisdimensionen haben nichts mit einer speziellen Rezeptur oder Warenqualität zu tun, sondern werten das Restaurant als Ganzes auf. Die Marke erhöht per se die Preisakzeptanz unter den Gästen und zieht davon unabhängig mehr Gäste an.

Der Besitzer eines italienischen Restaurants der gehobenen Kategorie käme niemals auf die Idee, seine Spaghetti al Pomodoro auf der Basis des Wareneinsatzes von etwas Mehl, Wasser und Tomaten zu kalkulieren. Sein Gericht kostet das Vielfache dieser Zutaten. Dafür serviert er es in einer Atmosphäre, die die Gäste an ihren letzten Urlaub an der Amalfiküste erinnert.

Ansätze einer Markenentwicklung wären zum Beispiel die Lage des Restaurants, seine besondere Herkunft oder Historie, sein einzigartiger Stil, sein begrenztes Angebot, eine selten gewordene Tradition, eine meisterhafte Zubereitung, eine berühmte Persönlichkeit sowie seine Genussphilosophie, in der Werte wie Nachhaltigkeit, Handwerklichkeit oder Gesundheit ihren Ausdruck finden könnten.“

Dieser brand eins-Container soll eine Krisenwerkstatt sein: Wir suchen Firmen, die in Turbulenzen geraten sind oder zu geraten drohen – und zeigen mithilfe von Experten Auswege auf.

Den Container „Unter Druck“ betreut Andreas Molitor. Er freut sich über Tipps unter [email protected].


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