Die Welt wird immer grösser

Und wo genug Platz ist, sind Wenden überflüssig.





• Wer Wendepunkte sehen will, muss in den Zoo. Am besten vor den Tigerkäfig. In freier Wildbahn legen die Großkatzen bis zu 30 Kilometer pro Tag zurück, und weil sie das in Gefangenschaft nicht können, tigern sie ständig hin und her: 9, 10, 11 Schritte, vielleicht 20, wenn es ein großes Gehege ist, dann Kehre und zurück. Dort, an den Enden des Käfigs, befinden sich die Wendepunkte. Entstanden aus dem Drang zur Bewegung und dem gleichzeitigen Mangel an Platz, simulieren sie Raum, wo keiner ist.

Das bekannteste Beispiel dafür ist der Fall der Mauer, Ende der DDR, Zusammenbruch des sogenannten realen Sozialismus. Das lief live im TV, und weil jeder Sender andere Bilder des bröckelnden Walls und der begeisterten Menschen zeigte, stellten wir unsere Fernseher übereinander, sodass wir mehrere Programme zugleich sehen konnten. Im Jahr darauf gab ich das Fernsehen auf, aber dazu später mehr. Das jedenfalls war ein Wendepunkt, nein, es war DER Wendepunkt, und das war uns allen bewusst. Vorher: der endlose Krieg der Systeme, im Westen kalt und geprägt von Angst, im Süden häufig heiß, begleitet von Napalm und Mao-Bibeln. Nachher: der Sieg der Freiheit und das Ende der Geschichte – so gut, ja, perfekt, würde die Welt fortan für immer bleiben.

Und tatsächlich kam es genau so. Allerdings erst später. Und aus völlig anderen Gründen.

Die Welt basiert auf Gewohnheiten, und so ist ein Sieg in einem langen Kampf, selbst wenn er inständig herbeigesehnt wurde, auch ein Problem. So viel war im Ringen der politischen Systeme auf den Antagonisten ausgerichtet, so viele Menschen waren mit ihm beschäftigt, so sehr war das Denken von ihm geprägt, dass sein plötzlicher Verlust ein ernsthaftes Loch riss. Wir gegen Die – gab es 1991 plötzlich nicht mehr. Es war die große Zeit der kleinen Feinde. 2001 sah es kurz so aus, als könnte es mit den Islamisten wie früher werden: Kampf der Kulturen! Wir gegen Die 2.0! Das weltbedrohende Netz der Gotteskrieger erwies sich jedoch recht schnell als Vereinigung beschränkter Männer, die in Höhlen lebten, eine Architektur, die ihr Bewusstsein spiegelte. Auf dem Kampf gegen sie war keine Weltordnung zu bauen.

Und dann betrat Steve Jobs die Bühne.
„Immer mal wieder taucht ein revolutionäres Produkt auf, das alles verändert“, sagte er in einem Ton, den er bestimmt lange geübt hatte, um damit sofort klarzumachen, dass er von der Tragweite seiner Botschaft selbst überwältigt war – der Präsentation des ersten iPhones. Das war 2007. Hätte er gewusst, was er vorstellte, hätte er den dramatischen Ton nicht üben müssen. Denn damals passierte etwas wirklich Entscheidendes.

Was wirft den längsten Schatten?

Erfindungen, die alles verändern, sind sehr selten: Getreideanbau, Schrift und Zahlen, das Rad. Im Vergleich dazu sind selbst Druckerpresse, Dampfmaschine, Kunstdünger oder Schwarzpulver kleine Fische. Ob die Erfindung des mobilen Internets in die erste oder zweite Kategorie gehört, ist noch nicht ausgemacht. Aber das ist auch egal, denn wenn wir es eines Tages wissen, wird es niemanden mehr interessieren. Sicher ist nur, dass es zu den entscheidenden Entwicklungen gehört.

Als wichtigster historischer Einschnitt der vergangenen 50 Jahre wird in der Regel das Internet genannt. Die zeitverlustfreie Vernetzung über Kontinente hinweg war unter anderem ein großer Schritt für die Globalisierung, die ebenfalls ein prima Kandidat für den wichtigsten historischen Einschnitt der vergangenen 50 Jahre ist, wie übrigens auch die sie begleitende Verbreitung des Containers, das Gegenstück zum Datenpaket, von denen in jeder Sekunde Milliarden unseren Planeten umrunden, was uns heute wichtiger scheint als die ebenfalls nicht allzu lang zurückliegende Entschlüsselung der DNA, die ein weiterer Kandidat wäre. Was am Ende die längsten Schatten wirft, bleibt abzuwarten. Vielleicht haben Menschen in der Zukunft eine Lebenserwartung von 300 Jahren, und so wird zum Allgemeinwissen gehören, dass das wirklich große Ding um die Jahrtausendwende die Entschlüsselung des menschlichen Genoms war.

Nur speziell Interessierte werden behaupten, die wichtigste Erfindung sei der Twin-Aufzug gewesen. Und alle, die nicht dazugehören, fragen sich: was?

Das Smartphone-Universum

Aber zurück zum Internet. Gern vergessen wird, dass es anfangs in Kästen gefangen war, ähnlich wie Tiger im Zoo. Im Keller, Hobby- oder Arbeitszimmer und natürlich im Büro war es nur eine Zone unter vielen, wie daheim der Fernseher und die Konsole oder im Büro die Konferenz und die Ordner auf dem Schreibtisch. Wer es nutzen wollte, musste sich dafür entscheiden.

Das änderte das Smartphone.
Und dazu brauchte es nicht einmal Push-Mitteilungen. Obwohl die anfangs halfen. Denn es erinnerte uns daran, was wir fortan bei uns hatten: alles.

Große Erfindungen haben oft Folgen, die nicht absehbar sind. Die auf lange Sicht wichtigste Konsequenz der Verbreitung der Eisenbahn und des Dampfschiffs war die Einführung der Standard Time, der weltweiten Zeitzonen, mit der Fahrpläne koordiniert wurden und ohne die es die Globalisierung in der heutigen Form nicht gäbe, Container hin oder her. Die wichtigste Folge der Antibabypille war der Feminismus, der es ohne die Befreiung der Frauen vom Gebärzwang wohl kaum so weit gebracht hätte.

Als ich das Fernsehen aufgab, war nicht die Erweiterung des Programms per Speichermedium oder später Streaming das Beste, sondern die Befreiung von den Anfangszeiten der Sendungen. Selbst die Beatles haben Größeres vorzuweisen als die Hits – sie waren zu ihrer Zeit die ultimativen Symbole für eine Autonomie, die bis heute die Welt prägt.

In den ersten Jahren wurde gern aufgelistet, was das Smartphone ersetzte: Stadtpläne und Landkarten, Adressbücher, Nachschlagewerke, Kameras, CD-Player und Kassettenrekorder, Notizblöcke, Bücher und so weiter. Diese Sicht entsprach dem, was früher der Eisenbahn nachgesagt wurde. Sie transportierte Menschen und Dinge, war also ebenfalls Ersatz – für alte Transportmittel. Dabei war jenseits der Standard Time eine wichtigere Folge bald sichtbar: die Beschleunigung des Verkehrs, der fast sofort eine höhere Entwicklungsgeschwindigkeit folgte – wer jemals irgendeine Zivilisations-Simulation gespielt hat, weiß, was ich meine.

Tatsächlich wurde die wichtigste Nebenwirkung des Smartphones und des mobilen Internets schnell thematisiert. Ablenkung. Zerstreuung. Überforderung. Was ebenfalls zur Entwicklung der Eisenbahn passt: Die höhere Geschwindigkeit wurde als Bedrohung gesehen, anfangs sogar physisch – einige glaubten, dass Menschen sterben, wenn sie so schnell rasen –, aber vor allem seelisch. Das geht alles viel zu schnell! Stress! Ein schönes, zeitloses Argument. Vermutlich haben damit schon römische Bürger gegen die Nachrichtenketten des Riesenreichs protestiert. Warum also nicht gegen die flirrende Welt des Smartphones?

Eine eigentlich naheliegende Frage zu den Veränderungen, die das mobile Internet mit sich brachte, wurde allerdings selten gestellt: Wovon lenkt das Smartphone eigentlich ab?

Sagt es etwa dem Tiger, dass der Käfig keine Rückwand hat und dahinter der Dschungel wartet? Weist es darauf hin, dass es neben dem freien Westen und dem Ostblock noch ein paar andere Existenzmodelle für autonome Staaten gibt? Sagt es, dass es möglich ist, auch ohne den Rückhalt staatlicher oder privater TV-Sender interessante Dinge zu machen? Zeigt es, kurz gesagt, die Unendlichkeit einer Welt, die lange in binäre Sektionen geschnitten war, die Entscheidungen für die eine oder die andere Seite verlangten?

Ja, das tut es wohl.
Und überfordert das die Menschen?
Natürlich überfordert das die Menschen!

Das mobile Internet sorgt dafür, dass wir permanent eine zweite Welt neben uns haben, die, losgelöst von physischen Grenzen, größer ist als alles, was sich unsere Vorfahren vorstellen konnten: mehr Ideen, mehr Konzepte, mehr Alternativen, als wir jemals verarbeiten können. Wie die Eisenbahn hat das die Entwicklungsgeschwindigkeit der Welt enorm erhöht. Nicht nur im materiellen Sinn. Wir wissen mehr und können uns mehr vorstellen als jemals zuvor.

Das gilt vor allem für die junge, mit Mobilgeräten aufgewachsene Generation, die nicht nur, aber besonders auf Tiktok zeigt, wohin die Reise geht: nach überall. In dieser Minute, wie in jeder anderen, tüfteln Millionen Menschen unabhängig voneinander an Millionen Ideen, von denen die meisten wenige Anhänger finden, manche mehr und einige viele. So entstehen ununterbrochen neue Teile der Welt. Wo früher Wendepunkte waren, ist heute Erweiterung. Die Welt ändert nicht ihre Richtung – sie wird größer.

Das ist schwierig für uns alle, die wir bis vor Kurzem so binär gedacht haben wie unsere Urahnen. Kämpfen oder fliehen? Savanne oder Höhle? Links oder rechts? In jedem Fall zweidimensional. Denn nun müssen wir begreifen, dass in Zukunft drei Dimensionen gelten:

Kämpfen / fliehen / alles andere

Mit Schrägstrichen! Weil wir keine Satzzeichen für das Nichtbinäre haben. Und das ist kein formales Problem. Es zeigt, dass wir nicht verstehen, was wir erschaffen haben. Noch nicht jedenfalls.

Was das bedeutet, sehen wir gerade im Ukraine-Krieg. Putin habe den Krieg bereits verloren, selbst wenn er alle seine Kriegsziele erreichen sollte, hieß es schon nach einer Woche. Da war klar, dass die Idee des russischen Präsidenten, einen kleinen, abgegrenzten Krieg zu führen, in einer hoch vernetzten Region wie Europa nicht mehr funktioniert. In den Tälern Afghanistans oder auf den abgelegenen Inseln Indonesiens, die technisch abgehängt sind, mag das noch gehen. Aber in einer Region, wo der Krieg live vom Handy übertragen wird, die Toten nach Minuten überall auf der Welt zu sehen sind und wirtschaftlicher Ausfall globale Folgen hat, wo alles mit allem verbunden ist, gibt es kleine Kriege nicht mehr. Denn die Folgen solcher größeren, aber auch kleinerer Eingriffe, sind nicht absehbar. Und das werden sie auch in Zukunft nicht sein.

Interessantes Detail für Personalmanager aus dem Ukraine-Krieg: Auch wenn du als Angreifer dreißigmal größer bist als dein Opfer, bringt das wenig, wenn du die unmotivierteste Armee der Welt führst.

Wladimir Putin ist ein klassischer Feldherr auf einem Hügel, der darauf wartet, dass die Schlacht vor ihm einen Wendepunkt erreicht – bis er feststellt, dass der Kampf nicht nur auf dem Schlachtfeld stattfindet, sondern überall. Und nun?

Die Wirtschaft hat auf diese neue Unübersichtlichkeit schneller reagiert als alle anderen. Agilität ist nicht weniger als der Versuch, der unüberschaubaren Welt multiperspektivisch zu begegnen. Wenn alle tun, was sie können, ohne von Regeln oder Vorgesetzten daran gehindert zu werden, können wir mit allem umgehen. Außer mit Feldherren, versteht sich.

Da ist es sogar verständlich, dass manche Menschen versuchen, Grenzen zu setzen. Einige unterstellen ihrer Lebenserfahrung eine so große Relevanz, dass sie alles beurteilen können – und zwar richtig! Andere fabulieren von dunklen Mächten und großen Verschwörungen wie in einem Märchenwald vor 500 Jahren, um unverständliche Entwicklungen handhabbar zu machen. Und die ganz Extremen wollen zurück in den Käfig: Abtreibung gehört verboten! Ausländer raus! Wir brauchen einen Führer! Wir wollen einen Wendepunkt!

Aber den wird es nicht geben. Selbst wenn im Zeitalter der Eisenbahn Maschinenstürmer alle Gleise herausgerissen hätten, um zum Tempo der Kutschen zurückzukehren, wäre das Wissen um die Geschwindigkeit geblieben, und die Menschen hätten andere Wege der Beschleunigung gefunden. Ist die Grenze überschritten, wird sie nie wieder als unüberwindbar gelten.

Doch vielleicht ist es beruhigend zu wissen, dass sich zwar alles ändert, aber zugleich auch alles bleibt. Die Eisenbahn hat die Popularisierung des Flugzeugs überlebt, genau wie selbst Kutschen immer noch fahren, sei es auch aus dekorativen Gründen. Sogar das Fernsehen gibt es immer noch. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass Menschen bis heute zu einer bestimmten Zeit auf dem Sofa sitzen, um sich den neuen „Tatort“ anzusehen – aber ich weiß, dass es Millionen tun. Und ich bin mir sicher, in nicht wenigen dieser Krimis wird es eines bis in alle Ewigkeit geben: dramatische Wendepunkte. --