Der Umzug

Zurück ins Büro? Für immer im Home Office? Oder nachdenken, ob es nicht was Besseres gibt. Eine Ortsbestimmung.





• Das Kapital einer Organisation besteht aus der Qualität der Menschen, die dort arbeiten. Das sagt sich leicht. Aber ist das so? Schauen wir mal.

Es gibt diesen großartigen Film von Billy Wilder: „Eins, zwei, drei“. Er spielt im Berlin des Jahres 1961, dem Jahr also, in dem die Menschen der Stadt durch eine Mauer für Jahrzehnte voneinander getrennt werden. Der Coca-Cola-Manager C. R. MacNamara kommt in dieser Komödie frisch aus den USA nach Westberlin.

Jedes Mal, wenn Mister MacNamara in sein Chefbüro in bester Lage eilt, muss er zunächst durch das Großraumbüro mit seinen deutschen Angestellten. Sobald die ihn sehen, springen sie auf und nehmen Haltung an. Als der Manager das zum ersten Mal sieht, ist er völlig perplex und ruft, auch im amerikanischen Original des Films, „Sitzenmachen!“, worauf seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich ebenso synchron und straff hinsetzen, wie sie kurz zuvor aufgestanden sind.

Wilder, der vor seiner Emigration in Wien und Berlin lebte, wusste schon, was er da ins Drehbuch schrieb: Der Untertan sitzt gern im Büro, wo ihm ein Befehlshaber „Sitzenmachen!“ entgegenbrüllt – heutzutage natürlich „auf Augenhöhe“. Hat Wilder übertrieben?

Nein, damals war das durchaus realistisch. Erfolgreiche Unternehmen maßen sich an der Lage und Pracht ihrer Firmengebäude. Und das Vorbild für alle waren die Großkonzerne: Welche Möbel haben die? Wie sehen die Schreibtische aus? Wie gut gedrillt sind die Angestellten? Denn so wie die Großen sind, wollen wir auch sein. Das funktionierte wie einst der Hof bei Königen, Kaisern und Fürsten. Der Firmensitz muss beeindrucken, denn er zeigt allen anderen, dass man Erfolg hat, gut ist, es besser kann – überragend, raumgreifend, außen wie innen.

Im Januar erschien auf »Personalwirtschaft.de« die zeitgeistige Übersetzung von Prachtgehabe, Eindruck machen und Untertanengeist in Form eines Gesprächs mit Malin Augustin, dem Team Lead Employer Branding für den deutschsprachigen Raum von New Work SE, der Dachorganisation der Onlineplattformen Xing und Kununu. Die ebenso simple wie zur Ausuferung animierende Frage, wie denn das Büro der Zukunft aussehe, beantwortete der Manager zunächst knapp: „Es braucht einen Ort, an dem die Kultur gefördert werden kann.“

Was heißt das konkret? „Unsere Kultur ist geprägt durch persönliche Nähe (…). Das Menschliche steht im Vordergrund. Wir legen viel Wert auf Partizipation, eine Duz-Kultur, die auch den Vorstand einschließt, sowie das gemeinsame Feiern von Erfolgen.“ Unter anderem deshalb habe man den New Work Harbour in der Hamburger Hafencity gebaut, der im September 2021 eröffnet wurde, mitten in der Pandemie. Der müsse nun bespielt werden. Und dafür versuche man „Zweifler zu überzeugen, die es sich im Home Office gemütlich gemacht haben“.

Das ist der Schlüsselsatz. Ein Unternehmen, das sein Geld mit Netzwerk-Inhalten verdient, hält Menschen im Home Office für Leute, die „es sich gemütlich gemacht haben“.

Da haben wir also ganz viel Partizipation, man darf die Chefs duzen und gemeinsam Erfolge feiern. Aber wenn die eigenen Leute tun, was auf der eigenen Plattform gefördert wird, nämlich Netzwerkarbeit leisten – dann muss man sie vom Gegenteil überzeugen.


Das Büro und seine Menschen müssen umziehen in die wirkliche Welt.

In den sozialen Netzwerken fiel schnell auf, dass das eher mit Old Work SE zu tun hat – es gab heftige Reaktionen. Kein Wunder, denn Kontrolle, mangelndes Vertrauen, zentrale Macht und alle schön geordnet im Büro – das klingt nach Menschen, die es sich im Gestern gemütlich gemacht haben. Dort, wo Billy Wilder vor 60 Jahren „Sitzenmachen!“ ins Drehbuch schrieb, neu ist nur die Duz-Kultur.

Aber die Welt und das Büro haben sich geändert, weil sich das Leben der Menschen geändert hat, nicht erst mit der Pandemie. Sie wissen längst, dass das tägliche Pendeln von der Wohnung zur Arbeit Zeit- und Ressourcenverschwendung ist. Und dass das Großraumbüro toll für die Kontrolle der Untergebenen ist, aber für konzentrierte Arbeit nicht taugt. Neu ist die Wirtschaftswelt erst, wenn man Freiräume nutzt, um besser arbeiten zu können. Die neue Beeindruckungsarchitektur dagegen ist ein Spiegel der alten Verhältnisse. Was nützt eine hippe Umgebung, das ganze Design, wenn dahinter überkommenes Denken und die Kultivierung von Hierarchien und Misstrauen stecken?

Nein, das ist kein Plädoyer für das sogenannte Home Office. Oder eines gegen das Büro. Die Frage ist, welche Arbeit wo sinnvoll gemacht werden kann. Wo brauchen wir Kooperation und Gespräch, Begegnung und Austausch? Und wo Ruhe und Freiraum?

Die Vorstellung, dass Wohnung und Arbeitsstätte getrennt sind, ist erst mit der Industrialisierung, der Fabrik, zu uns gekommen. Bevor alle ins Zentralbüro mussten, waren Menschen, die mit ihrem Wissen ihr Geld verdienten, bei Weitem nicht so gebunden wie heute. Sie arbeiteten oft in eigenen kleinen Büros in ihrer Wohnung, nicht selten aber auch in Kaffeehäusern und Bibliotheken, um nur zwei zentrale Orte der Wissensarbeit von früher zu nennen. Das taten nicht nur Autoren, Journalisten, Künstler, sondern auch Physiker, Naturwissenschaftler und Unternehmer.

Ein guter Kaufmann war nicht den ganzen Tag im Büro – wenn er etwas konnte, genügte es, sich dort nur kurz aufzuhalten, um danach in den Klub zu gehen oder eben ins Kaffeehaus. Den Kopf auslüften nannte man das.

Eine gute Idee: anderes Denken, anderes Wissen, andere Ideen teilen, statt immer nur mit seinesgleichen rumzuhängen. Im Klub und im Kaffeehaus wurde gestritten, gerungen, zugestimmt, erfahren, man plauderte ernsthaft und leicht und war unter Leuten, die auch Kunden waren. Niemand musste eine künstliche Unternehmenskultur basteln, denn die Kultur war das wirkliche Leben.

Ralf Herms gründete im Jahr 2003 in Wien eine Agentur namens Rosebud, die viele Jahre in einem hübschen Palais im dritten Bezirk ihr Büro hatte. Wenn Kundinnen und Kunden in die Agentur kamen, saß man nie im Büro zusammen, sondern in der kleinen Cafeteria im Erdgeschoss, im Sommer auch mal im grünen Innenhof. Schon vor der Pandemie hatte sich Herms gefragt, ob es all die repräsentativen Räume eigentlich bräuchte.

Nur Home Office, das weiß auch er, ist keine Lösung, viele Arbeiten lassen sich effizienter erledigen, wenn man an einem Ort ist. Jüngere Leute bis Mitte 30 mögen die Gruppe lieber, Etablierte, Ältere finden es besser, wenn sie sich ganz auf ihre Arbeit konzentrieren können. Alles sei Experiment, sagt Herms, überall, ob im Konzern oder in der kleinen Agentur. „Wir suchen jetzt keine Scheinlösung, sondern etwas Besseres als das, was wir hatten. Da müssen wir ausprobieren, was geht.“

Rosebud will in ein ehemaliges Wirtshaus umziehen, die Verträge sind schon unterschrieben. Ja, das wird billiger als im repräsentativen alten Büro. Und der neue Ort ist vielfältiger, multifunktional. In der Nähe des Wiener Augartens soll die Agentur etwas finden, das dem entspricht, was das Kaffeehaus im vordigitalen Zeitalter war: die Möglichkeit für Austausch – mit Interessenten und Kunden, die vorbeikommen können, aber auch intern untereinander.

Es wird einen Gastronomiebetrieb geben, der für alle geöffnet ist, ein „normales Wirtshaus“, wie Herms sagt, barrierefrei, ohne Terminvergabe, ein offener Ort, an dem man andere Menschen und Meinungen hört, lernen kann, wie im wirklichen Leben. „Wahrscheinlich täte das auch manchen dieser hochagilen Digitalbuden gut“, sagt er, „ein Team öfter mal in einem Wirtshaus an einen wackligen Tisch zu setzen, um ein Problem zu lösen, statt Slack-Channels zuzumüllen und zu hoffen, auf interaktiven White-Boards einen Kreativprozess in Schwung zu bringen.“

Das wünscht man allen. Denn ob Design-, Großraum- oder Heimbüro – Sitzenmachen, also in der Routine bleiben, kann man überall. Aufstehen und wirklich neu arbeiten auch. ---

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