„Die Wirklichkeit kommt nur nachts zum Vorschein“





• Ich lebe gerne nachts. In meinem Kindergarten an der Partisanenstraße in Moskau in der „Gruppe des verlängerten Tages“ wurden wir von unserer Erzieherin, der dicken Tamara, zum Tagesschlaf verdonnert. Das hieß, alle Kinder mussten mitten am Tag ins Bett schlüpfen und eine Stunde lang mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegen. Die dicke Tamara hatte keine Lust, uns selbst zu kontrollieren. Sie zeigte mit dem Finger auf Lenin, dessen Bild an der Wand des Schlafraums hing, und drohte, wir sollten still sein, sonst gäbe es Ärger. Der Anführer des Weltproletariats behielte uns nämlich im Auge und würde ihr später erzählen, wer nicht geschlafen und die Augen offen hatte. Dabei war es kaum möglich, im Kindergarten zu schlafen, denn es war die ganze Zeit sehr hell. Überhaupt ist mir meine Heimat, die Sowjetunion, als ein zwangsbeleuchtetes Land in Erinnerung geblieben, es brannte ständig überall das Licht.

Lenin hatte nicht umsonst gesagt, der angestrebte Kommunismus sei nur möglich bei vollständiger Elektrifizierung des Landes. Bei Licht konnte der Staat seine Bürger besser kontrollieren, damit sie nicht zu viel nehmen und zu wenig geben. Jahre später, als ich dreieinhalb Stunden in einem Flugzeug von Moskau nach Omsk in Sibirien saß, konnte ich sehen, woran die Idee des Kommunismus gescheitert war. Das große Land war dunkel wie die Nacht, die Hauptstadt schien die einzige Glühbirne zu sein, die nicht kaputtgegangen war.

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Die unterschätzte Hälfte des Tages
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