Editorial

Nacht-Schwärmer

• Ich bin eine Eule. Vor zehn Uhr morgens bin ich nur in Notfällen zur Lösung komplexer Probleme bereit, und frühe Flüge habe ich schon zu vermeiden versucht, als meine damaligen Chefs es noch von mir erwarteten. Dafür werde ich am Abend noch einmal richtig wach und muss mich mit Tricks zum Einschlafen bringen.

Foto: André Hemstedt & Tine Reimer


Dass es sich dabei nicht um eine Charakterschwäche handelt, sondern um Chronobiologie, ist seit Jahrzehnten bekannt, wenn auch weitgehend ohne Folgen. Die Frühaufsteher (Lerchen) haben schon den Takt der Industriegesellschaft diktiert und geben weiterhin den Ton an, obwohl die Digitalisierung weit flexiblere und auch ökonomischere Lösungen erlaubt.

So kommt unser Kolumnist Stephan Jansen (Eule) auch am Morgen sekundenschnell auf Betriebstemperatur, wenn es um das Thema Schulanfang geht: Dass alle Kinder ohne Rücksicht auf chronobiologische Erkenntnisse immer noch am frühen Morgen still sitzen und lernen sollen, ist für ihn ein Skandal. Der Biologe Peter Spork sieht das zwar etwas nüchterner, aber auch für ihn ist unverständlich, warum die Chronobiologie etwa bei der Einteilung von Schichten keine Rolle spielt: Lerchen in die Nachtschicht zu schicken ist der Forschung zufolge nicht nur unproduktiv, sondern auch gesundheitsgefährdend.

Die Natur weiß es besser: Sie reguliert die innere Uhr abhängig von den Bedürfnissen der Tiere, und für die ist die Nacht in nahezu allen Fällen die beste Zeit für Aktivität. Wer liest, was Hannes Kneissler sonst noch über die Anpassungsfähigkeit von Fledermäusen oder Schlankloris herausgefunden hat, könnte ein wenig neidisch werden – Menschen sind zweifellos der schlichtere biologische Entwurf. Man könnte aber auch darüber nachdenken, ob sich nicht auch unsere begrenzten Möglichkeiten besser nutzen ließen: Zumindest mithilfe der menschlichen Eulen könnte die Nacht zu einer produktiven Ergänzung des Tages werden und gleichzeitig die Infrastruktur entlasten.

Der Nachtzug ist dafür der augenfälligste Beweis, er ist allerdings nicht ohne Grund aus dem Angebot der Deutschen Bahn gestrichen: Schlafwagenabteile sind betreuungsintensiv, das sorgt für hohe Kosten – angesichts steigender Flugpreise ist dieser Nachteil aber vielleicht nur eine Frage der Zeit. Was sonst noch nächtens alles geht, lässt sich zum Beispiel in Seoul erleben. Aber auch in einem Krankenhaus, in der Ladestation für E-Roller, bei Koalitionsverhandlungen oder auf dem Hamburger Kiez: Die Nacht ist für viele Menschen Arbeitszeit, wohl dem, der dabei seinem Rhythmus folgen darf. Das Potenzial der Nacht ist jedoch noch lange nicht ausgeschöpft, wie Sarah Sommer ergründet hat. Und auch die nächtliche Straßenbeleuchtung kann mehr, als nur Insekten anzulocken.

Für unsere Kollegin Gesine Braun ist die Nacht sowieso zu kostbar, um sie zu vergeuden: Seit ihrer ersten Nachtfahrt ist die begeisterte Radfahrerin infiziert. Wenn die Sonne untergegangen ist und der Mond die Welt in ein schummriges Licht taucht, spürt sie Glück. Überhaupt erfährt einiges, wer die Nacht zum Thema macht: Wladimir Kaminer, der uns als Autor noch einige Zeit begleiten wird, outet sich als Fan des Mondes. Und – für den Chef der Ukrainedisko irgendwie erwartbar – als Eule. ---