Homo practicus



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Wladimir Kaminer, Jahrgang 1967,

privat ein Russe, beruflich deutscher Schriftsteller, wanderte im Sommer 1990 nach Deutschland aus. Sein erstes Buch, „Russendisko“, erschien im Jahr 2000 und wurde ein Bestseller. Seitdem veröffentlicht Kaminer regelmäßig: Vergangenes Jahr erschien sein Buch „Die Wellenreiter – Geschichten aus dem neuen Deutschland“. Nebenbei ist er als DJ tätig, seine berühmte Russendisko hat er inzwischen in Ukrainedisko umbenannt.

• Der Kapitalist ist ein Egoist, er denkt ständig nur an sich und nicht an mich, sagte meine Tochter, nachdem sie „Das Kapital“ von Karl Marx durchhatte. Marx selbst steckte ähnlich wie meine Tochter permanent in finanziellen Schwierigkeiten, beobachtete das Kapital aber aus wissenschaftlicher Sicht und hat dessen Wandlungsfähigkeit trefflich beschrieben. Um zu leben, muss das Kapital ständig in Bewegung bleiben, ein an einem Ort liegendes Kapital ist totes Kapital. Und umgekehrt: Je schneller es sich bewegt, umso mehr Arbeitskräfte zieht es mit sich, seine Fühler umschlingen längst den Planeten, und mancher Ökonom glaubt inzwischen, die Erde drehe sich nur, weil der freie Markt auch ihren Dreh regele.

Das Mantra des Kapitalismus – maximale Gewinne bei minimalem Einsatz – beschleunigte die Globalisierung. Den Kapitalistinnen und Kapitalisten ging es immer um Effizienz, unermüdlich erforschten sie die Welt und stellten Fragen nach dem Motto: „Wenn ein Orchester mit 100 amerikanischen Musikern eine Stunde braucht, um die 9. Sinfonie von Beethoven zu spielen, wie lange werden dafür 50 Musiker in China brauchen?“

Die Globalisierung hat dazu geführt, dass es kaum noch ein industrielles Produkt auf den Weltmärkten gibt, das in einem einzigen Land hergestellt wird. Die Logistik, der Transfer von halb fertigen Waren und Leistungen, bekam eine herausragende Bedeutung, und damit kam ein neuer Managertyp in großen Konzernen an die Macht, der Homo practicus, sprich Menschen mit praktischem Intellekt. Sein Ahne, der Homo academicus, konnte großartige Ideen entwickeln, scheiterte jedoch oft an ihrer Realisierung. Der ihn ablösende Homo emotionalis hatte Charisma, er verfügte über gute Führungsqualitäten, machte aber, wegen seiner wechselhaften Stimmungen, seinen Mitarbeitern zu viel Angst und konnte die Aufgaben nicht vernünftig verteilen. Der Homo practicus aber war vom Übermaß an Fantasie und Empathie befreit, er konnte schnell und gewinnorientiert handeln. „Logistik ist nicht alles, aber ohne Logistik ist alles nichts“, so seine Devise.

Der wichtigste Test zur Feststellung des praktischen Intellektes geht so: Ein Autofahrer bleibt im Schneesturm stecken. Er hat drei Möglichkeiten: auf Teufel komm raus versuchen, weiterzufahren, im Auto sitzen bleiben – in der Hoffnung, dass sich der Sturm legt – oder das Auto verlassen und nach Rettungsmöglichkeiten suchen.

Selbstverständlich entscheidet sich der Homo practicus für Letzteres.

Das Kapital verließ also das vermeintlich sichere Auto und zog um den Planeten. Die neuen globalen Verwertungsketten rückten die nationalen Ökonomien näher zusammen, unabhängig davon, welche politischen Präferenzen ihre Staaten hatten, unabhängig von ihrer Geschichte und ihrer Kultur.

Auf einmal konnten Amerika, China, Russland zusammenarbeiten, der Erfolg vieler Unternehmen war auf einmal davon abhängig, wie stark sie in die Weltwirtschaft einbezogen waren. Die Globalisierung verwandelte die Erde in eine riesige Fabrik, sie bescherte vielen armen Ländern wachsenden Wohlstand durch neue Jobs und machte unsere bunte Welt entsetzlich gleich. Die einzelnen Länder wurden zu bloßen Standorten degradiert, gesichtslos, austauschbar.

Die Unternehmen perfektionierten ihre Logistik und jagten halb fertige Waren immer schneller um die Welt. Und die Suche nach neuen, noch unerforschten Pro- duktionsstätten und Handelswegen ging pausenlos weiter.

Auch bei den Naturprodukten. Die Kundschaft konnte sich nicht vorstellen, dass der von ihnen gerade „für ’n Appel und ’n Ei“ gekaufte Krabbensalat mehr von der Welt gesehen hat als sie. Die Krabben wurden in Dänemark gefangen, in Marokko geschält und in Deutschland verkauft. Den Leuten hier war es lange Zeit egal, wo die Krabben für den Salat herkamen und was sie gesehen hatten, Hauptsache, der Salat war billig und schmeckte.

Die ständige Suche nach billigeren Arbeitskräften und Produktionsbedingungen hatte zur Folge, dass an den Industriestandorten in Amerika und Europa Arbeitsplätze verloren gingen. Die Globalisierung verschärfte die Konflikte in vielen Ländern und brachte eine ganze Reihe populistischer Politiker hervor. Sie schworen auf eine „Rückkehr zur nationalen Ökonomie“, versprachen, Mauern und Zäune wieder aufzubauen, ganz vorn der ehemalige US-amerikanische Präsident Donald Trump, der mit drastischen Maßnahmen die Firmen seines Landes zur Produktion in der Heimat zwingen wollte.

Drei schiefe Reiter

Die drei Reiter der Apokalypse, die Seuche, der Krieg und – durch den drohenden ökologischen Kollaps des Planeten – der potenzielle Hunger in besonders betroffenen Regionen, haben die Globalisierung kräftig aufgemischt. Zuerst zwang uns die Pandemie ins Homeoffice, es hat den Staat viel Mühe und Entschlossenheit und die Unternehmen viel Geld gekostet, die Menschen zu überzeugen, mehr Zeit zu Hause zu verbringen. Doch der Mensch ist anpassungsfähig und träge. Einmal im trauten Heim, wollte niemand mehr zurück. Der Arbeitswelt fehlen immer mehr Menschen. Personalmangel, wohin das Auge blickt. In der Gastronomie, in der Pflege, in der Hotelbranche, in der Unterhaltungsindustrie, auch im Transportwesen fehlen Menschen, und im Zoo fehlen sogar die Tiere. Ich war neulich im Rostocker Zoo, die Hälfte der Tiere war im Homeoffice, wegen der Hitze kamen sie aus ihren Häuschen nicht raus.

Etliche Unternehmen versuchten, ihre Mitarbeiter aus dem Homeoffice zu locken, mit kostenlosem Frühstück, mit renovierten Büroräumen, mit Yogakursen am Arbeitsplatz, alles vergeblich. Die Büros blieben leer. Bedauerlicherweise lässt die Effizienz der Homeoffice-Arbeit, das zeigen manche Studien, zu wünschen übrig. Die weitreichenden Auswirkungen der Pandemie auf die Arbeitswelt sind noch nicht richtig aufgearbeitet und analysiert worden, doch eines lässt sich schon behaupten: Die Fähigkeit, von zu Hause aus per Videoschaltung zu arbeiten, wurde eher überschätzt.

Der Klimawandel und die Ressourcenknappheit wurden der Globalisierung ebenfalls in Rechnung gestellt. Ist das Ideal vom grenzenlosen Wachstum nicht eine gefährliche Illusion? Muss nicht alles, was grenzenlos wächst, irgendwann mal platzen? Jedes Kind, das mit Seifenblasen spielt, hat mehr als einmal diese Erfahrung gemacht: Die größten Blasen sind immer die schönsten, und je größer sie werden, umso mehr Begeisterung rufen sie bei den anderen hervor, doch ab einem bestimmten Zeitpunkt zerplatzen sie, man muss aufpassen, dass man nicht nass wird.

Die Globalisierung ist in Verruf geraten. Auf einmal kamen Produkte aus der Region in Mode. Man wollte die Kuh am liebsten persönlich kennenlernen, bevor man ihre Milch trank, und dem Schwein die Nase putzen, bevor es zu Wurst verarbeitet wurde.

Die Konsumentinnen und Konsumenten zeigten sich bereit, für ein Hemd mehr zu zahlen, wenn sie wussten, dass es nicht von unterernährten Kindern in Bangladesch, sondern von Landsleuten mit kognitiven Beeinträchtigungen produziert wurde. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine und die Sanktionen, die von den westlichen Ländern über Russland verhängt wurden, lehrten uns einen weiteren Fehler. Es ist viel leichter, in die globale Wirtschaftskette einzusteigen, als ein Glied daraus zu entfernen. Der Eintritt ist billig, der Austritt für alle teuer. Selbst die vernünftigsten, intelligentesten Wirtschaftsweisen haben den Grad der Anbindung verschiedener Länder in den globalen Handel unterschätzt. Die Abhängigkeit von Russland, nicht nur von russischem Gas und Öl, hat in vielen westlichen Unternehmen für schlechte Laune gesorgt. Dasselbe gilt auch angesichts der notleidenden Ukraine. In den vergangenen Monaten musste ich mit Verwunderung erfahren, was dort alles produziert wurde. Nicht nur Kabelbäume und Sonnenblumenöl, nicht nur Weizen und Speck. Neulich sagte mein Freund, der Besitzer eines Spätkaufladens, er habe Probleme, die kleinen Cola-Flaschen in sein Sortiment zu nehmen, angeblich werden sie, wer hätte das gedacht, aus der Ukraine geliefert. Tabak und Papier, Senfsaat, Fischstäbchen, Unterhosen, Waschpulver, Kürbissuppe, Birkensaft, mit einem Wort alles Lebensnotwendige kam aus der Ukraine.

Die globale Wirtschaft scheint eine Einbahnstraße zu sein. Einmal reingefahren, führt kein Weg zurück. Das sehen wir derzeit am Beispiel Russland. Das Land, von den Sanktionen gekränkt, sucht nach einem Ausweg, möchte eine eigene, unabhängige Wirtschaft aufbauen. Gleich nach dem Angriff auf die Ukraine bezeichnete der kriegführende Präsident dieses Ziel in seinem neuen politischen Kurs als Priorität.

In seinen Tiraden benutzte er die „Globalisierung“ als Schimpfwort: Neben der „Liberalisierung“, dem „Verfall der traditionellen Werte“ und der „Verschwulung der Bevölkerung“ sei die „Globalisierung“ eine Waffe der westlichen Geheimdienste, um andere Länder in Abhängigkeit von ihnen zu bringen und letzten Endes auf diese Weise eine Weltherrschaft zu erlangen, die mit einem ganzjährigen Christopher Street Day gefeiert werden sollte, Putins Albtraum.

Es werde dem Westen nicht gelingen, behauptete der Präsident, unser Land, das größte auf Erden, das auch noch ständig wächst, ökonomisch in die Knie zu zwingen. Er ordnete einen kompletten Umbau der Wirtschaft an, versicherte gleichzeitig den Bürgerinnen und Bürgern, dass keine Defizite entstehen würden, frei nach dem Motto: Alles, was das Volk braucht, wird vorhanden sein, und was nicht vorhanden sein wird, braucht das Volk auch nicht.

Zuerst hieß dieser Prozess der industriellen Deformierung in der offiziellen Sprache: „die Importersatzmaßnahmen“. Das Wort kam bei der Bevölkerung aber nicht gut an. Die Importersatzmaßnahmen hörten sich nach Hunger und Not, nach fehlenden Lebensmitteln und langen Schlangen vor den Geschäften an. Deswegen wurden die Maßnahmen in „wirtschaftliche Souveränität“ umbenannt.

In jüngster Zeit wird alles, was die russische Führung anstrebt, mit dieser fehlenden Souveränität begründet. In gewisser Weise zu Recht, die globale Wirtschaft schließt eine vollkommene Souveränität aus. Die erste Erkenntnis bei der Umsetzung des Programms war, dass selbst die Betriebsleiter oft nicht wussten, wie groß die Abhängigkeit ihrer Betriebe vom Weltmarkt war, wie viele Kleinigkeiten sie für ihre Produktion benötigen, die jenseits des Landes produziert wurden. Hefe fürs Bier, Filz für die Stiefel, befruchtete Hühnereier!

Die Autos werden in Russland jetzt bereits ohne Sicherheitsbauteile wie Gurte oder Airbags produziert, dazu bekommt man beim Kauf eine Liste von Ländern, in die man mit ihnen fahren darf, hauptsächlich Russland und die vor Kurzem annektierten Gebiete.

Souveränität der Kraniche

Ein weiteres Problem der souveränen Produktion sind die Kosten. Angenommen es fehlt ein Autoteil, das früher im Westen produziert wurde. Auf Befehl des Staates muss es ab jetzt in der Heimat hergestellt werden. Was braucht der Fabrikdirektor dafür? Er braucht die Maschinen und die Kenntnis über das technische Verfahren. Die befinden sich aber auch im Westen, sind teuer und werden nicht verkauft, wegen der Sanktionen. Also müssen die Maschinen auch selbst entworfen und produziert werden. Das ist teuer und dauert lange. Und dann passt das Teil wegen der anderen Produktionsweise nicht mehr ins Fahrzeug.

Die souveräne Produktion in Russland scheitert jetzt schon auf ganzer Linie, es bahnt sich eine Rezession an. Nichtsdestotrotz sinniert der russische Präsident oft und gern über das Scheitern der Globalisierung. Aus seiner Sicht ist es eine beschlossene Sache. Wie könnte es auch anders sein. Alle gescheiten Ökonominnen und Ökonomen sind längst außer Landes, sie wurden gut im Westen aufgenommen, unterrichten in Amerika, arbeiten in London oder Paris. Und die neuen, die an ihre Stelle gekommen sind, flüstern dem Präsidenten nur das zu, was er hören will.

Von wegen, die Globalisierung ist gescheitert. Sie wird das russische Regime mit Sicherheit überleben. Schnell suchen sich die Firmen neue Standorte, die unterbrochenen Produktions- und Lieferketten umzingeln die Erdkugel aufs Neue – als wäre nichts geschehen. Der große Vorteil der Globalisierung ist, dass sie nicht tot zu kriegen ist. Sie hat keinen Kopf und kein Herz und regeneriert sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Von Marx wissen wir, nichts bewegt sich so schnell wie das Kapital. Die Logistik erweist sich dabei als seine Achillesferse, und neben dem praktischen Intellekt ist wieder der akademische gefragt. Wir benötigen neue Ideen, auch wenn sie manchmal unbequem sind und merkwürdig klingen.

Ich wohne in Brandenburg in der Nähe von einem Ort, der als größter Rastplatz für Kraniche in Mitteleuropa gilt.

Mit großer Faszination beobachte ich die Logistik der Kraniche, die sich ähnlich wie Menschen dem Wetter und den äußerlichen Gefahren wie Seuchen oder Hungersnöten anpassen müssen. Die Logistik der Kraniche ist global. Im Winter müssen sie in den Süden ziehen, im Sommer in den Norden, wo sie ihre Jungen füttern können. Mit dem Klimawandel ändern sich aber ihre Flugrouten, sie werden kürzer. Zwar sagen die älteren Vögel, wir sind schon immer diese Route geflogen, und es hat immer gut geklappt. Die jüngeren aber wollen eigene Wege gehen, sie fliegen nur so weit, wie es nötig ist, und manche überwintern sogar schon in Brandenburg, wo sie im Winter nicht frieren und im Sommer in den Sümpfen genug Futter finden.

Auf diese Weise fangen auch die Kraniche plötzlich an, regional zu denken, und entwickeln ein Heimatgefühl, das bis jetzt für sie ein Unwort war. ---

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Douglas irwin

Foto: © Trustees of Dartmouth College

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Douglas Irwin ist Experte für die Geschichte des globalen Handels. Ein Gespräch über die Kräfte, die die Weltwirtschaft auseinandertreiben, aktuelle Risiken und Chinas zukünftige Rolle.