Rügenwalder Mühle
Fleisch ist kein Gemüse
Vegetarische Fleischalternativen sind gefragt wie nie – und könnten zu einem entscheidenden Faktor beim Klimaschutz werden. Der Trendsetter Rügenwalder Mühle aber setzt gerade wieder vermehrt auf Wurst, Schinken und Frikadellen. Warum nur?
• Alle paar Wochen, wie von unwiderstehlichem Bratenduft angelockt, zieht es Godo Röben ins „Charisma“. Beim Griechen in seiner Heimatstadt Brake ordert der Marketingberater dann einen Gyros-Teller mit Pommes, flankiert von rotscharfer Soße und kühlem Pils. Ohne den besonders festen Biss des Schweinegeschnetzelten, sagt der 53-Jährige, ohne die krossen Röstaromen scharf angebratenen Fleisches fehle ihm einfach etwas im Leben. „Danach ist es für mich mit Fleisch aber auch erst mal wieder gut.“
Der Vater zweier Kinder, Hobbyfußballer und Hundebesitzer gehört zum knappen Drittel der Deutschen, die als Flexitarier leben: Sie mögen Fleisch, verzichten aber oft darauf. Die Lebensmittelindustrie bietet ihnen mittlerweile kühlregalweise Würstchen, Frikadellen und Nuggets an, die im besten Fall tierisch gut schmecken, obwohl kein Fleisch drin ist.
Für eingefleischte Steak-Fans wie Godo Röben sind die alternativen veganen Proteine aus Erbsen, Soja oder Weizen eine Art Einstiegsdroge. Für Lebensmittelhersteller sind sie aktuell ein gutes Geschäft: 2021 sind die Umsätze in Deutschland mit Fleischalternativen um 32 Prozent auf 611 Millionen Euro gestiegen. Die Unternehmensberatung Kearney schätzt, dass schon im Jahr 2040 rund 60 Prozent der Würste, Frikadellen und Schnitzel ihren Ursprung nicht mehr in engen Mastviehställen, sondern auf Äckern oder in Laboren haben werden. „Wir stehen vor nichts weniger als dem Ende der Fleischproduktion, wie wir sie kennen“, sagt Carsten Gerhardt, Landwirtschaftsexperte bei Kearney. Kaum eine andere Produktkategorie wächst derzeit so schnell wie die Fleisch-Fakes.
Mit erschlossen hat dieses Marktpotenzial Godo Röben. Vor gut zehn Jahren überredete der damalige Marketingleiter der Rügenwalder Mühle seinen Arbeitgeber, als erster Wursthersteller ins Geschäft mit veganen und vegetarischen Produkten einzusteigen. Das darf auch deshalb als Husarenstück gelten, weil es zu jener Zeit nur in der Öko-Nische existierte. „Alles, was wir 2011 bei unseren Markterkundungen auftreiben konnten, waren ein paar Pflanzenfleischklopse aus Bioläden und Reformhäusern“, sagt er. „Die meisten von ihnen schmeckten so fürchterlich, dass meine Kollegen aus der Entwicklungsabteilung sich weigerten, sie zu verkosten.“ Das sollte sich von nun an ändern. Mit ihren eigenen Rezepturen wuchs die Familienfirma aus dem niedersächsischen Bad Zwischenahn binnen sieben Jahren zum Platzhirsch mit einem Marktanteil von aktuell mehr als 41 Prozent, weit vor dem Branchenzweiten Like Meat mit etwa 6 Prozent.
Aus Röbens Bauchgefühl – „der Job von uns Marketingleuten ist es doch, Trends zu erspüren, Marktforschungsdaten hinterherrennen kann jeder Azubi“ – ist ein boomendes Business geworden. Mehr als 600 Firmen, von Start-ups wie Perfeggt über Shootingstars wie Beyond Meat bis zu Konzernen wie Nestlé und Unilever, wollen mitverdienen. Der Nestlé-Vorstandsvorsitzende Mark Schneider preist pflanzenbasierte Fleischalternativen als Geschäftsidee, wie sie in jeder Generation nur einmal vorkommt. Umweltschützer haben sie kürzlich als eine der schärfsten Waffen im Kampf gegen den Klimawandel entdeckt (siehe Seite 26).
Frappierend aber: Ausgerechnet der Pionier auf diesem Gebiet setzt aktuell auch wieder mehr auf Fleisch. Godo Röben hat die Firma im Streit verlassen. Michael Hähnel, der die Geschäfte in Bad Zwischenahn seit 2020 führt, sagte dem Fachblatt »Horizont«: „Wir möchten niemandem vorschreiben, wie er oder sie sich ernähren soll.“
Vom Wurst-König zum Veggie-King
Um die überraschende Kehrtwende zu verstehen, lohnt ein Blick auf die Vorgeschichte der Firma. Das 1834 gegründete Familienunternehmen hatte zunächst im pommerschen Rügenwalde, nach dem Zweiten Weltkrieg und der Flucht der Eigentümerfamilie dann in der niedersächsischen Provinz, tonnenweise Fleisch durch den Wolf gedreht. Dass Deutschlands beliebteste Wurstmarke einmal auf Pflanzenfleisch setzen würde, war ungefähr so wahrscheinlich wie die Umstellung der Produktion bei Volkswagen auf Zweiräder. Doch Marketinggeschäftsführer Röben, seit 1995 in der Firma, glaubte, dass der Familienfleischerei langfristig keine andere Chance blieb. In den Großschlachtereien, von denen auch die Marke mit der Mühle ihre Rohware bezieht, hatte Röben das Leid der Tiere gesehen. Er wusste, dass Landwirte ihr Schlachtvieh „unter immer perverseren Bedingungen zu Niedrigstpreisen produzieren mussten“. Er beobachtete, wie in Restaurants immer mehr fleischlose Gerichte auf den Speisekarten auftauchten, wie sich Vegetarismus vom freudlosen Nischenthema zum Mainstream-Phänomen entwickelte und seiner Fleisch- und Wurstbranche scheibchenweise die Umsätze verloren gingen. „Mir war klar: Irgendwas passiert da gerade, und es wurde höchste Zeit, dass wir dem Rechnung tragen.“
Das Erstaunliche: Firmenchef Christian Rauffus, der das Unternehmen damals in sechster Generation leitete und auf seiner Visitenkarte stolz die Berufsbezeichnung „Fleischermeister und Diplom-Kaufmann“ führte, trug den Kurswechsel mit. „Christian ist ein bodenständiger Typ, der mich wie einen zweiten Sohn behandelte“, sagt Röben. „Er wusste, dass ich in 18 Jahren keinen einzigen Produkt-Flop bei Rügenwalder gelandet hatte, und vertraute mir. Auch wenn es, nüchtern betrachtet, natürlich Wahnsinn war, mit Vollgas auf fleischlos zu setzen.“
Im Dezember 2014 lieferte das Unternehmen seine erste pflanzliche Mortadella an Supermärkte aus. Absatzziel: fünf Tonnen vegetarischer Fleischersatz pro Woche. Nach wenigen Wochen aber orderte der Lebensmitteleinzelhandel in Bad Zwischenahn bereits hundert Tonnen. Woche für Woche. Seitdem ist der Absatz der Rügenwalder Mühle kontinuierlich gewachsen, immer zweistellig und stets begleitet von Krisensitzungen und Wachstumsschmerzen, weil der Wurstkonzern mit der Pflanzenfleischproduktion kaum hinterherkam.
Denn der Veggie-Trend rückte zusehends in die Mitte der Gesellschaft. Spitzensportler wie Lewis Hamilton und Novak Djokovic outeten sich als Veganer. In der populären Netflix-Doku „The Game Changers“ berichteten Athleten, wie fleischarme Ernährung ihre Leistungsfähigkeit gesteigert habe. Bayern-Stürmer Serge Gnabry ist als Markenbotschafter für Beyond Meat unterwegs, Heftchen mit Veganrezepten werden an jeder Supermarktkasse angeboten. „Veggie oder Fleisch?“ schrumpfte von einer Glaubens- zur Geschmacksfrage.
Dass viele Produzenten ihren veganen Schnitzeln und Sojaburgern ein ganzes Arsenal von Zusatzstoffen beimischen, um ihnen fleischähnliche Konsistenz, Geschmack und Anmutung zu verleihen, scheint den Appetit der Kundschaft kaum zu dämpfen. „Einzelne Produkte sind tatsächlich kaum von Fleisch zu unterscheiden“, beschrieb ein Redakteur der Tageszeitung »Die Welt« seine Test-Erfahrung. Andere wirkten in Geschmack und Konsistenz jedoch immer noch so, „als habe man sie im Baumarkt gekauft“.
Nicht unproblematisch ist auch die Herkunft der Rohstoffe. Denn die Pflanzen für ihre Fleisch- und Wurstalternativen beziehen die großen Anbieter fast durchweg aus konventioneller Landwirtschaft – jener Industrie also, die als Hauptverursacher des Artensterbens gilt. Die Pflanzenalternative, die die Massentierhaltung und die damit verbundenen Folgen für die Umwelt reduzieren soll, fördert mit ihrem Pestizid-, Insektizid- und Düngereinsatz also gleichzeitig das Verschwinden von Insekten, Vögeln und anderen Wildtieren.
Rohstoffe aus artenschonendem Bio-Anbau aber wären zu teuer. Gerade die deutschen Lebensmittelkunden seien extrem preissensibel, sagt Benjamin Morach, Partner bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG), die das alternative Proteine-Segment untersucht hat. „Die durchschnittliche Preisspanne, die Verbraucher für Fleischalternativen akzeptieren, liegt bei 50 bis 90 Prozent des tierischen Originals.“ Bio-Aufschläge seien da nicht drin. „Mit Rohstoffen aus biologischem Anbau lassen sich allenfalls homöopathische Marktanteile erreichen“, sagt auch Godo Röben. „Wir aber wollten Massen überzeugen.“ Und das gelang der Rügenwalder Mühle immer besser. Im Geschäftsjahr 2021 setzte die Firma erstmals in ihrer Geschichte mehr mit fleischlosen Alternativen um als mit den Originalen. Ihr Umsatz wuchs auf mehr als 263 Millionen Euro (ein Plus von knapp 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr), die Belegschaft auf 851 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Wäre es nach Röben gegangen, hätte die Firma diesen Vorsprung genutzt, um ihre tierische Vergangenheit komplett hinter sich zu lassen, auf ein rein vegetarisches Portfolio zu setzen und „wieder ein konsequentes Ausrufezeichen zu setzen – wie damals, als wir als erster Wursthersteller überhaupt mit pflanzlichen Alternativen loslegten.“
Doch dazu dürfte es nicht kommen. Denn Inhaber Christian Rauffus hatte 2020 den Aufsichtsratsvorsitz an seinen Sohn Gunnar übergeben. Der ist promovierter Jurist, lebt in Hamburg und übernahm anders als die sechs Generationen vor ihm nicht selbst die Firmenleitung. Stattdessen machte Rauffus junior einen Externen zum Geschäftsführer. Mit dem ehemaligen Bahlsen- und Beiersdorf-Manager Michael Hähnel zog dann in Bad Zwischenahn eine neue Unternehmenskultur ein.
„Früher geschah viel auf Zuruf. Nun haben wir Strukturen und Prozesse eingeführt“, sagte der Vorsitzende der Rügenwalder Geschäftsführung dem »Handelsblatt« (Gesprächsanfragen von brand eins lehnte eine Unternehmenssprecherin ab). Die geplante Auslandsexpansion blies der Manager nach Amtsantritt ab und versetzte die Marketing- und Mediaabteilung nach Hamburg. Mit und nach Röben sollen Veggie-Fans wie der Entwicklungschef Bernd Beckerhab und mehrere Dutzend leitende Angestellte die Firma verlassen haben.
Beim neuen Rügenwalder-Management schwang vermutlich die Sorge mit, dass die Mühlenmarke ein Opfer ihres eigenen Erfolges werden könnte. Denn mit wachsender Nachfrage waren in den vergangenen Jahren Handelsriesen wie Rewe, Aldi, Penny und Lidl auf den Veggie-Trend aufgesprungen. Der Unilever-Konzern verleibte sich The Vegetarian Butcher ein, Nestlé kaufte Marken wie Garden Gourmet und Sweet Earth. Selbst der Großschlachter Clemens Tönnies und die Hähnchenzüchter von Wiesenhof wollen mit eigenen pflanzlichen Linien dabei sein. Kann ein niedersächsischer Mittelständler da überhaupt noch mithalten? Wird die Luft in der boomenden Branche langsam dünn?
Benjamin Morach glaubt nicht daran. „In puncto Geschmack und Textur ist bei vielen Fleischalternativen noch Luft nach oben. Für kontinuierlich innovierende Unternehmen wird da immer ein Platz sein“, sagt der BCG-Experte. Außerdem stehe dem sogenannten alternativen Proteine-Segment der größte Nach- frageschub vermutlich noch bevor. „Der kommende Megatrend heißt Healthy Living. Wer sich da mit gut schmeckenden, gesunden Fleischalternativen positioniert, hat enorme Wachstumschancen.“
Harmonieren Fleisch und Gemüse auf Dauer?
Der Rügenwalder-Chef Hähnel scheint das anders zu sehen und weiter zweigleisig fahren zu wollen. „Vegane Produkte funktionieren bei uns nur so gut, weil die Menschen Vertrauen haben in unsere Kernkompetenz, Fleisch zu veredeln“, so der Wurstkönig im April 2021 im »Handelsblatt«. Damals konnte seine Firma die hohe Nachfrage nach veganen Alternativen nur noch decken, indem sie ihre Fleischproduktion vorübergehend auslagerte. Während die Firma ihre Produktionskapazitäten für Fleischalternativen aktuell ausbaut, will sie nun gleichzeitig das klassische Geschäft stärken. Mit anderen Worten: Bei Rügenwalder geht es jetzt wieder vermehrt um die Wurst.
Für Godo Röben handelt sich das Unternehmen damit ein Glaubwürdigkeitsproblem ein. „Wer bei Veggie glaubhaft sein will, muss bei Fleisch und dessen Herkunft besser sein als andere.“ Das sei für einen großen Wurstfabrikanten aber kaum hinzukriegen, denn: „Jeder, der in Deutschland Fleisch in größeren Mengen verarbeitet, kauft es bei demselben knappen Dutzend Großschlachtereien.“
So stammt die Rohware, die unter dem Logo der ländlich-beschaulichen Rügenwalder Mühle verarbeitet und verkauft wird, zu einem großen Teil von Danish Crown. Beim dänischen Konzern kommen jährlich 800 000 Rinder und knapp 19 Millionen Schweine unters Messer, das Unternehmen zählt nach eigenen Angaben zu den drei größten Fleischexporteuren weltweit. Ein weiterer Großlieferant ist die niedersächsische Westcrown GmbH, einem Joint Venture von Danish Crown und Westfleisch. Westfleisch stand in den vergangenen Jahren immer wieder wegen Niedriglöhnen, Schwarzarbeit durch Subunternehmen und des Vorwurfs der Tierquälerei in der Kritik.
Godo Röben über …
… den Umbau der Rügenwalder Mühle:
„Als ich 2011 das Thema Fleischersatz im Unternehmen vorschlug, habe ich erst mal drei Jahre lang gepflegt in die Fresse bekommen. Von damals 400 Mitarbeitern waren 399 gegen meine Ideen. Aber dieser eine war glücklicherweise der Inhaber.“
… Glaubwürdigkeit:
„Wieso ausgerechnet ein Wursthersteller sich das Thema Fleischersatz vornimmt? Gerade deswegen. Wenn einer eine richtig gute Wurst machen kann, dann doch ein Fleischer in sechster Generation.“
… überzeugende Botschaften:
„Nach einiger Zeit habe ich kapiert, dass ich mehr mit meinen Kollegen bei Rügenwalder kommunizieren musste. Also habe ich eine Rede geschrieben und auf einer Betriebsversammlung erklärt, dass die Leute die Massentierhaltung einfach nicht mehr wollen, dass der Klimawandel durch die Fleischproduktion angeheizt wird, dass wir mit der Zeit gehen müssen. Mein letzter Satz lautete: ,Die Wurst wird die Zigarette der Zukunft sein.‘ Da war es mucksmäuschenstill im Saal.“
… Erfolgsfaktoren:
„Fleischalternativen müssen möglichst genauso gut schmecken, genauso riechen, genauso heißen, genauso verpackt sein und nicht teurer sein als konventionelles Fleisch – nur eben ohne Tierleid und Klimafolgen. Nur dann haben sie eine Chance, sich auf dem Markt durchzusetzen.“
… Verzicht versus Umstieg:
„Die Lebensmittelindustrie muss jetzt denselben Weg gehen wie die Automobilhersteller: Ihre nicht mehr zeitgemäßen Produkte – wie Diesel und Benziner – aussortieren, dafür umweltfreundlichere Alternativen ins Produktportfolio aufnehmen. Von Verzicht muss deshalb niemand reden.“
Steht der Carnivore bald allein auf weiter Flur?
Über all das habe er sich in seinen Anfangsjahren bei Rügenwalder zu wenig Gedanken gemacht, räumt Godo Röben heute ein. Umso schmerzhafter sei nach der vegetarischen Wende dann der Abschied für ihn gewesen. Statt ins Bad Zwischenahner Werk steuert er seinen E-Volvo jetzt zu seinem Loftbüro in Brake, jenem 15 000 Einwohner-Städtchen, in dem Röben vor 53 Jahren geboren wurde. Röbens Elternhaus und die Physiotherapie-Praxis seiner Frau sind von hier aus in Sichtweite, vor der Tür fließt die graue Weser.
Gelindert wird Röbens Abschiedsschmerz durch das rege Interesse an seinen Kompetenzen und Kontakten. Er ist jetzt unter anderem an den Start-ups Perfeggt und Project Eaden beteiligt, die an veganen Ei-Alternativen und nachhaltigen Fleischersatz tüfteln. Als Bei- oder Aufsichtsrat unterstützt er den Tierfutterhersteller Landguth, die bayerische Privatmolkerei Bauer und die nordrhein-westfälische In Family Foods Holding. Der Rügenwalder-Konkurrent lanciert mit Billie Green gerade ein vegetarisches Wurstsortiment, das weitgehend ohne Zusatzstoffe auskommen soll. Zusammengenommen, rechnet Röben vor, setzten diese Firmen mehr als 1,6 Milliarden Euro um. „Damit habe ich heute einen viel größeren Hebel in Sachen alternativer Proteine als bei meinem ehemaligen Arbeitgeber.“
Einen noch größeren Hebel will er in Berlin umlegen. Auf Einladung von Cem Özdemir erarbeitet er dort mit anderen Fachleuten die Ernährungsstrategie des Bundeslandwirtschaftsministeriums. Sie soll nach Röbens Vorstellungen zu einer Senkung des Mehrwertsteuersatzes für pflanzliche Fleischalternativen führen. Während für Wurst und Fleisch als Grundnahrungsmittel nur 7 Prozent fällig werden, zahlen Verbraucher für viele Konkurrenzprodukte noch 19 Prozent. Außerdem werde die Bundesregierung voraussichtlich Zielwerte für den Marktanteil von pflanzlichen Alternativen setzen. 20 Prozent bis 2030 hält Röben für realistisch. Vielleicht auch mehr.
„Wenn die schlimmen Prognosen der Klimaforscher eintreffen und wir mehrere Hitzesommer mit Temperaturen über 40 Grad Celsius erleben, könnte die Politik sehr viel schneller und härter durchgreifen als bisher“, sagt der Veggie-Pionier. Gut möglich, dass dann bereits innerhalb eines Jahrzehntes die Schwelle von 50 Prozent Anteil pflanzlicher Alternativen am deutschen Fleisch- und Milchproduktemarkt geknackt werde. Tierfleischesser wären dann eine stetig schrumpfende Minderheit.
Wann dieser Wendepunkt erreicht ist, wird Godo Röben an einem persönlichen Indikator ablesen können, quasi direkt vor seiner Haustür. „Der Moment, an dem im Charisma vegetarisches Gyros auf der Karte auftaucht“, sagt er, „an diesem Tag werde ich wissen, dass wir’s endgültig geschafft haben.“ ---
Pflanzlicher Klimaschutz
Zeit und Geld sind knapp im Kampf gegen die Erderwärmung. Wo also sollte jetzt investiert werden, um in kürzester Zeit die größtmögliche Wirkung zu erzielen? Bei Fleisch- und Fischersatz. Das zumindest ist das Resultat einer aktuellen Studie der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) und des Impact-Investors Blue Horizon. Nach ihren Berechnungen entfaltet jeder Euro, der in Fleischersatztechnik oder -produktion gesteckt wird, eine siebenmal so hohe Klimaschutzwirkung wie dieselbe Investition in energiesparende Gebäude. Im Vergleich zu Ladestationen, E-Fahrzeugen und anderen Beiträgen zur Mobilitätswende ist der ökologische Effekt sogar elfmal so hoch.
Der Industrie dürfte die Umstellung relativ leichtfallen. „Praktischerweise können viele Prozesse und Produktionsstätten aus der klassischen Fleischproduktion auch für die Ersatzstoffherstellung verwendet werden“, sagt Benjamin Morach, Molekularbiologe und Co-Autor der Studie. „Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion wurden beim Klimaschutz bislang zu wenig beachtet. Das Klimapotenzial alternativer Proteine ist gewaltig.“
Denn je mehr Menschen zu Fleischersatz greifen, desto weniger Wälder werden für Weideflächen und Futteranbau gerodet. Je weniger wiederkäuende Rinder auf dem Planeten weiden, desto geringere Mengen des Klimagases Methan entweichen in seine Atmosphäre.
Offenkundig sind immer mehr Menschen auch bereit, ihre Ernährungsgewohnheiten zu ändern. Um die persönliche CO2-Bilanz aufzupolieren, reicht es schon, im Supermarkt anders einkaufen. „Während der Pandemie haben alternative Proteine noch einmal stark an Beliebtheit gewonnen“, sagt Morach. „Zu Hause wurde vielen erst bewusst, was bei ihnen auf dem Teller landet. Gleichzeitig kamen interessante neue Fleischersatzprodukte in die Supermärkte.“ Knapp drei Viertel der Kundinnen und Kunden kennen heute laut der BCG-Studie Ersatzprodukte für tierisches Protein, zwei Drittel von ihnen haben sie bereits probiert. Und neun von zehn Befragten schmeckten zumindest einige der getesteten Produkte.
Und weil das so ist, dürfte der Anteil alternativer Proteine nach BCG-Schätzungen bis 2035 von aktuell zwei auf elf Prozent am Weltmarkt für Fleisch, Eier und Milch wachsen. Allein dieser Zuwachs würde ähnlich viel Klimagas vermeiden, wie die gesamte Luftfahrt aktuell in die Atmosphäre bläst.
Alternative Proteine
Unter diesem Sammelbegriff werden fisch- oder fleischähnliche Produkte zusammengefasst, die aus Pflanzen, Insekten (wie Heuschrecken oder Käfer) oder Zellkulturen (Laborfleisch) hergestellt werden. Gegenwärtig wird der globale Proteinbedarf zu 57 Prozent aus pflanzlichen, zu 18 Prozent aus Fleisch- und zu 10 Prozent aus Milchprodukten gedeckt.
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