Douglas Irwin

Douglas Irwin ist Experte für die Geschichte des globalen Handels. Ein Gespräch über die Kräfte, die die Weltwirtschaft auseinandertreiben, aktuelle Risiken und Chinas zukünftige Rolle.





Foto: © Trustees of Dartmouth College

Douglas A. Irwin, Jahrgang 1962, ist Wirtschaftswissenschaftler am Dartmouth College im amerikanischen New Hampshire. Er ist spezialisiert auf die Geschichte des Handels und hat darüber zahlreiche Bücher veröffentlicht, unter anderem „Clashing over Commerce: A History of US Trade Policy“, „Free Trade under Fire“ und „Trade Policy Disaster: Lessons from the 1930s“. Irwin ist Research Associate beim National Bureau of Economic Research und Senior Fellow am Peterson Institute for International Economics. Er war außerdem Junior-Ökonom im Rat der Wirtschaftsberater unter Ronald Reagan und Mitglied des Board of Governors der US-Zentralbank.

brand eins: Herr Irwin, die Globalisierung ist ein Jahrhunderte währender Prozess – wie ist das, was wir heute als Globalisierung kennen, überhaupt entstanden?

Douglas Irwin: Vom Zweiten Weltkrieg bis weit in die Achtzigerjahre hinein teilte sich die globale Wirtschaft in drei Welten, die auch so genannt wurden: Die Erste Welt umfasste vor allem die USA, Australien, Japan und Westeuropa. Die UdSSR, das kommunistische Osteuropa und China bildeten den Kern der sogenannten Zweiten Welt. Und die Dritte Welt bestand aus den Ländern Lateinamerikas, Südostasiens und Afrikas, die keinem der beiden politischen Blöcke angehörten. Diese drei Welten hatten zwar jeweils ihre eigenen Wirtschaftsgemeinschaften – OECD und EWG im Westen, Comecon im Osten – aber untereinander waren sie nicht vernetzt. Die verschiedenen Weltgegenden waren längst nicht so verknüpft, wie wir es heute kennen.

Wann änderte sich das?

Wenn man eine Jahreszahl draufkleben müsste, dann wäre es 1989, als die Mauer fiel. Die Sowjetunion implodierte, Osteuropa orientierte sich nach Westen. China hatte schon etwas früher begonnen, sich zu öffnen, aber jetzt gab es kein Halten mehr. Auch die Dritte Welt entschied sich zunehmend für eine marktorientierte Wirtschaftspolitik. Und so entstand in den Neunzigerjahren zum ersten Mal eine echte Weltwirtschaft. Niemand wollte mehr isoliert sein. So gut wie alle wirtschaftlich bedeutenden Länder traten der Welthandelsorganisation (WTO) bei. So begann eine einzigartige Ära der Wirtschaftsgeschichte.

Sie beschreiben die Globalisierung oft als Wechselspiel zwischen Zentrifugal- und Zentripetalkräften. Wie meinen Sie das?

Eine Zentrifugal- oder Fliehkraft bewegt etwas nach außen. In unserem Fall sorgt sie dafür, dass sich die Länder wirtschaftlich weiter voneinander entfernen. Zentripetalkräfte hingegen bringen Volkswirtschaften näher zusammen. In der Geschichte der Wirtschaft wirken diese Kräfte in verschiedenen Phasen unterschiedlich stark.

Wie sah das zur Blüte der Globalisierung in den Neunzigerjahren aus?

Es geht fast immer um drei wichtige Faktoren: Technologie, politische Abkommen und Geopolitik. Technologie wirkt im Grunde immer zentripetal und bringt die Welt näher zusammen. Im 20. Jahrhundert waren das vor allem Dinge wie Luftfahrt, das Aufkommen von Containern in der Frachtschifffahrt (siehe auch brand eins 11/2021: „Boxenstopp“) und später das Internet. All diese Entwicklungen haben die Kosten für internationalen Handel drastisch reduziert. Vor dem Fall der Mauer wirkten aber die beiden anderen Kräfte zentrifugal: Es gab keine weltumspannenden Handelsabkommen, und der Kalte Krieg verhinderte jahrzehntelang geopolitisch einen globalen Handel. In den Neunzigerjahren wirkten plötzlich alle drei Faktoren in die gleiche Richtung, nämlich zentripetal.

Wie lange hielt diese Phase an?

Auch hier ist es schwierig, eine präzise Jahreszahl zu nennen, aber ich würde sagen bis zur Finanzkrise von 2008 und 2009. Seitdem sehen wir eine langsame Erosion der Globalisierung. Vor allem die Geopolitik hat sich wieder zur Zentrifugalkraft entwickelt: Sowohl Chinas Staatspräsident Xi als auch Russlands Präsident Putin wollen nicht mehr um jeden Preis mit dem Westen Handel treiben und sorgen im Rest der Welt für viel Misstrauen und Vorsicht. Hinzu kommen weltweit stärkere Bedenken in Sachen nationaler Sicherheit. Das war beispielsweise zu sehen, als viele westliche Nationen die chinesische Firma Huawei vom Ausbau der 5G-Netze ausschlossen. In der Blütezeit der Globalisierung überwogen dagegen die Vorteile des grenzenlosen Handels fast immer die Bedenken zur nationalen Sicherheit.

Die wahre Krise der Globalisierung begann also schon weit vor der Corona-Pandemie?

In der Tat. Aber die Pandemie hat ebenfalls als Zentrifugalkraft gewirkt. Viele Nationen fragten sich, wie stark sie in einem solchen globalen Notfall von anderen Ländern abhängig sein wollen. Die Angst, von lebenswichtigen Gütern abgeschnitten zu sein, griff nach langer Zeit plötzlich wieder um sich. Auch bei den Impfstoffen wollten Regierungen erst einmal die Versorgung ihrer eigenen Bevölkerung sicherstellen.

Aber gab es nicht zwischen den Industrienationen auch internationale Kooperationen bei der Impfstoffentwicklung?

Im privaten Sektor sahen wir tatsächlich sehr viel Kooperation. Labore und Pharmaunternehmen in der ganzen Welt arbeiteten zusammen, um möglichst schnell eine Antwort auf das Virus zu finden. Aber die Politiker haben meiner Ansicht nach die Vorteile einer solchen Zusammenarbeit und die Arbeitsteilung nicht verstanden, sondern achteten vor allem darauf, selbst auf keinen Fall zu kurz zu kommen.

Spätestens seit dem Krieg in der Ukraine wird vielerorts das Ende der Globalisierung beschworen. Zu Recht?

Von einem Ende der Globalisierung zu sprechen halte ich für stark übertrieben. Der Welthandel ist inzwischen so stark vernetzt, das kann selbst eine Pandemie oder ein Krieg nicht mal eben so auflösen. Aber die Entwicklung, die wir seit der Wirtschaftskrise sehen, geht weiter – und ich sehe derzeit nichts, was der Globalisierung wieder einen massiven Schub geben könnte.

Was sind die Gründe dafür?

Zum einen wird sich das Verhältnis des Westens sowohl zu China als auch zu Russland nicht so schnell verbessern. Man kann es aber auch an vielen kleinen Dingen sehen. Beim jüngsten Treffen der WTO gab es einige überschaubare Abkommen in Sachen Patentschutz und Fischerei, aber das sind winzige Themen verglichen mit den großen Fragen, vor denen die internationale Gemeinschaft steht. Diese Abkommen waren sicherlich ein guter Schritt, aber es scheint kein echtes Interesse an größeren Handelsabkommen zu geben, die neue Wege für den Handel erschließen. Vor allem nicht in den USA – und wenn die nicht die Führungsrolle übernehmen und zum Beispiel der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) wieder beitreten, steuert der Welthandel ein wenig ziellos umher. Dann haben wir viele kleine Abkommen, die aber viel weniger bewirken als die umfassenderen, die wir in den Jahren von etwa 1990 bis 2010 hatten.

Wer hat am meisten von der Turbo-Globalisierung profitiert?

Diese Ära wird oft als neoliberales Zeitalter abgetan, in dem die Ungleichheit wuchs und die Reichen noch reicher wurden. Aber das trifft es nicht wirklich, und ich glaube, wir werden noch wehmütig auf diese Phase des nahezu komplett globalisierten Welthandels zurückblicken. Denn dieser war dafür verantwortlich, dass mehr als eine Milliarde Menschen aus der Armut geholt wurden. China, Südostasien, Indien und Afrika haben in vielen Fällen massiv profitiert. Nehmen wir nur das Smartphone: Eine Win-win-Erfindung, die Jobs und Einkommen in China schuf und dem Westen eine technische Innovation bescherte, die wir nie in diesen Stückzahlen hätten herstellen können.

Sind nicht aber auch genau durch dieses Outsourcing Arbeitsplätze in den USA und Europa verloren gegangen?

Sicher gab es auch in dieser Zeit Entwicklungen, die nicht gut waren, und es ist nicht schwer, sie zu kritisieren. Es gab massive Anpassungskosten durch die Verlagerung der Produktion, und das war für viele Branchen zweifellos sehr schmerzhaft. Aber selbst die Beschäftigten in diesen Branchen profitierten beispielsweise von den extrem gesunkenen Preisen für viele Produkte, die erst durch das Outsourcing möglich wurden. Und es ist auch nicht so, als wäre die aktuelle Situation für alle Menschen in den USA und Europa ein Segen.

Wer, denken Sie, wird unter der aktuellen Situation und der weiteren Entwicklung am meisten leiden?

Es wird in Zukunft weiterhin zu einigen ökonomischen Anpassungen kommen, die teilweise schmerzhaft sein werden. Wir werden zum Beispiel in Deutschland sehr gut sehen können, was passiert, wenn etwa so Wichtiges wie die Gasversorgung unterbrochen oder gestört wird, weil politische Abwägungen Priorität gegenüber den wirtschaftlichen bekommen – und wenn in der Folge die Gaspreise und die Lebenshaltungskosten steigen. Ich glaube andererseits nicht, dass wir durch eine Verlangsamung der Globalisierung eine generelle Verarmung sehen werden. Es geht weniger um Verluste als um nicht geschöpfte Werte, um verpasste Chancen.

Gibt es jemanden, der profitieren wird?

Kleine Anbieter, die Lücken im Angebot schließen können, die durch den Rückgang des globalen Handels entstehen. Wenn die USA und Europa ihre Halbleiterproduktion mit massiven Subventionen hochzufahren versuchen, dann wird es ganz sicher Unternehmen geben, die davon profitieren. Und diese Entscheidung mag dann politisch umsichtig sein, wirtschaftlich effizient ist sie nicht gerade. Denn das Geld, das man in diese Subventionen steckt, steht nicht mehr für andere Dinge zur Verfügung.

Steht uns wieder eine Blockbildung bevor, diesmal vielleicht zwischen demokratischen und autokratischen Nationen?

Das könnte sein, aber es würde sich vermutlich stärker fragmentieren, als es damals mit der klaren Aufteilung in Ost- und West-Block der Fall war. Der Westen treibt ja nach wie vor Handel mit China, auch wenn manches davon politisch heikel ist und deshalb genauer geprüft und eingeschränkt wird. Gleichzeitig vermeidet es China, sich in der Russlandfrage eindeutig zu positionieren. Die Regierung beteiligt sich nicht an den Sanktionen, aber sie will es sich auch mit dem Westen nicht komplett verderben. Sie geht auf Nummer sicher und versucht, es beiden Seiten irgendwie recht zu machen.

Braucht der Westen China mehr als umgekehrt?

Ich glaube, das ist die falsche Frage. Globalisierung verstärkt immer die gegenseitige Abhängigkeit. Wir brauchen China, und China braucht uns. Das ist kein Nullsummenspiel, bei dem eine Seite nur etwas gewinnen kann, wenn die andere etwas verliert. Im Gegenteil, meist profitieren entweder alle oder niemand. Man darf auch nicht vergessen, dass das Wirtschaftswachstum in China massiv zurückgeht. In den Neunziger- und Nullerjahren wuchs Chinas Wirtschaft jedes Jahr im zweistelligen Prozent-bereich, dann wurden es sechs Prozent, und jetzt sind es noch weniger. Und es gibt durchaus eine Debatte dort – wenn auch keine öffentliche – ob Xi Jinpings Kurs der zunehmenden Abschottung dafür sorgt, dass Chinas Wachstum zu stark gebremst wird. Das hat vor allem Auswirkungen für die Mittelschicht und beraubt China vieler Expansionsmöglichkeiten.

Zum Beispiel?

Es wird schon lange darüber spekuliert, wann Chinas Wirtschaft größer sein wird als die der USA. Aber diese Prognosen werden immer weiter in die Zukunft verschoben, eben aufgrund des nachlassenden chinesischen Wachstums. In einer weiterhin komplett globalisierten Welt hätte China die USA vielleicht schon längst überholt. Fest steht: China zahlt für seine Selbstisolation einen hohen Preis. Das sieht man nicht zuletzt daran, dass Firmen wie Apple angefangen haben, Teile ihrer Produktion von China nach Vietnam zu verlegen. Andere US-Unternehmen schauen plötzlich wieder nach Mexiko, das sie lange verschmäht haben, weil in China die Löhne niedriger waren.

Was müsste passieren, damit die geopolitischen Blockaden beseitigt werden und der Welthandel wieder an Fahrt gewinnt?

Es geht letztlich um China und Russland. Statt einer dritten Amtszeit von Präsident Xi müssten Reformer ans Ruder gelangen, die wieder mehr auf Deeskalation und Kooperation mit dem Westen setzen. Außerdem müsste Putin seine Macht verlieren und seine Nachfolger in Russland müssten erkennen, dass ihr Land lange davon profitiert hat, Teil der internationalen Gemeinschaft zu sein. Wenn all das passiert, dann könnte das wieder einen Schub für die Globalisierung bedeuten. Es könnte sich aber auch zeigen, dass das, was in den beiden Ländern passiert, gar nicht von deren Staatsoberhäuptern abhängt. Sondern dass Russland auch ohne Putin auf Nationalismus und Autonomie setzt und China auch ohne Xi misstrauisch gegenüber dem Westen bleibt und auf Expansion um jeden Preis setzt. Dann würde sich nichts ändern und die Globalisierung weiter an Fahrt verlieren.

Das heißt aber auch, dass weder die USA noch Europa wirklich Einfluss haben, oder?

Das ist richtig. Sie können wenig bis gar nichts ausrichten. Bei der Globalisierung ist es wie beim Tango: Es gehören immer zwei dazu. Wenn nur eine Seite will, reicht das nicht. Dazu kommt, dass solche Kurswechsel ihre Zeit brauchen. Xi Jinping kam 2012 an die Macht, und es dauerte ein paar Jahre, bis klar wurde, dass er China auf einen isolationistischeren Kurs führt. Wenn also nun jemand Neues käme, der mehr auf Kooperation setzt, würde es sicherlich ebenfalls dauern, bis der Westen dies glaubt und wieder Vertrauen fasst. ---

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Quellen für die Grafiken: Wikipedia, WTO, Castellum.ai


 

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