Auf Nummer sicher

Lange Zeit ließen sich Firmen Material genau dann liefern, wenn sie es brauchten. Weil das nicht mehr funktioniert, beginnt jetzt das Umdenken.





• Die Auswirkungen der größten Versorgungsprobleme seit dem Zweiten Weltkrieg zeigen sich auf einem Parkplatz in Lünen bei Dortmund. Hunderte mannshohe Päckchen stehen dort auf Paletten, eingepackt in Plastikfolie. Der Parkplatz gehört zur EBG Group, die unter anderem Verteilerkästen für Energieversorger herstellt.

Was sich hier stapelt, sind Teile, die die Firma nicht verbauen kann, weil ihr dazu weitere Teile oder Kapazitäten in der Produktion fehlen. Viele von ihnen hat das Unternehmen vorbestellt, damit die Produktion nicht noch stärker beeinträchtigt wird.

Hans Dieter Storzer, Geschäftsführer des Mittelständlers, läuft an der verpackten Ware vorbei. Es gebe zwar ein großes Lager, sagt er, doch weil es bereits voll sei, nutzten sie nun auch den Parkplatz. „Das ist eine absolute Ausnahmesituation, so was hatten wir noch nie“, sagt Storzer. „Aber es geht ja nicht anders.“


Ein Lager innen, eines außen – so improvisiert die EBG Group in Lünen

Die Corona-Pandemie, das gestrandete Schiff im Suezkanal, der Brexit, der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und Chinas No-Covid-Politik – all das hat dazu beigetragen, dass die Lieferketten weltweit auseinandergerissen sind. Es ist jetzt klar, wie riskant die lange übliche Just-in-time-Beschaffungspraxis der deutschen Industrie war.

Da kamen Teile oft erst wenige Stunden oder Minuten vor der Montage bei den Produzenten an. Um Kosten für die Lagerung zu sparen, gingen die Unternehmen das Risiko ein, dass bei der punktgenauen Planung etwas schiefgeht.

Toyota arbeitete in den Fünfzigerjahren als erstes Unternehmen so, viele folgten, von Opel und Mercedes-Benz bis hin zum deutschen Mittelstand. Geschichten wie die des Fahrzeug-Ausstatters Eissmann waren keine Seltenheit: Der lieferte von 2003 an teils stundengenau über Ländergrenzen hinweg Teile für Porsche. Ein Auftrag, den die Firma ohne Just-in-time-Lieferung nie bekommen hätte.


„Wir arbeiten am Anschlag“: Hans Dieter Storzer in seinem Büro in Lünen

Lange schien es, als wäre dieses System das Maß aller Dinge, als würden die Zahnräder der Globalisierung perfekt ineinandergreifen. Doch diese Zeit ist nun vorbei. 2021 klagten 60 Prozent der Unternehmen über Versorgungsengpässe, im Juli 2022 waren es bereits 73 Prozent – das vor allem auf Kostenreduzierung hin konzipierte System funktioniert nicht mehr.

Eine Ifo-Umfrage unter 5000 Firmen ergab, dass mehr als 40 Prozent der Industrieunternehmen ihre Beschaffung umstellen wollen. Viele wollen mehr lagern und sich nicht mehr von einzelnen Zulieferern abhängig machen. Die Firmen wollen mehr Sicherheit – und verzichten dafür auf Marge.

Lieferzeit: ein Jahr

Wie tiefgreifend der Wandel ist, zeigt sich in Lünen selbst an den Europaletten. Über Jahrzehnte hatten diese einen konstanten Preis. Dann wurde Holz knapp, und jetzt zahlen die Unternehmer pro Palette etwa zweieinhalb mal mehr als zuvor.

Lange Zeit konnten sie etwa Steuerungen für Geräte einfach dann bestellen, wenn sie die brauchten, jetzt müssen sie ein Jahr lang darauf warten. „Wir als Mittelständler stehen unten auf der Liste, weil wir weniger abnehmen als sogenannte A-Kunden“, sagt Storzer. „Hätte mir jemand im Januar dieses Jahres erzählt, wie es werden würde, hätte ich es nicht geglaubt.“

Und da hat er noch gar nicht die Krise bei Mikrochips, die gestiegenen Transportkosten oder die Sorge vor einer Gasknappheit erwähnt. All das bedeutet mehr Aufwand für den Einkauf, bei der Absprache mit den Kunden und Lieferanten. „Wir haben dreißig Teller in die Luft geworfen und hoffen, dass wir sie alle jongliert bekommen“, sagt Storzer. „Wir arbeiten am Anschlag.“

Das Unternehmen beschäftigt weltweit rund 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, 100 davon in Lünen. 60 Prozent des Umsatzes macht es mit Verteilerkästen für Energieerzeuger, darüber hinaus kümmert es sich bei Veranstaltungen wie der Berliner Fanmeile um die Stromversorgung und beteiligt sich am Aufbau intelligenter Netze. Etwa 50 Millionen Euro Umsatz macht die Gruppe im Jahr.

So punktgenau getaktet wie bei einem Automobilhersteller war die Produktion in Lünen nie. Es gibt kein Fließband, dafür Handarbeit und Kleinserien. Material kauften die Unternehmer in der Menge, dass für die Produktion genug vorhanden war – aber auch nie deutlich mehr, um nicht zu viel Kapital in den Lagern zu binden.

Als Reaktion auf die Krise hat Storzer angefangen, die Lagerbestände zu erhöhen. Bei den Lieferanten nehmen er und seine Kollegen größere Mengen ab als früher, stellen mehr Vorprodukte her und bunkern alles in den Lagern. „Die Prioritäten haben sich verschoben. Eine stabile Versorgung ist aktuell wichtiger als der Preis, auch wenn wir nicht jeden Mondpreis bezahlen können.“

Höhere Kosten im Einkauf

Allein ist das Unternehmen damit nicht. Während jahrelang die Kostenoptimierung an erster Stelle stand, empfiehlt das Beratungsunternehmen Accenture den Firmen nun, von Just in time zu Just in case überzugehen.

Christian Wibbe, Mitglied der Geschäftsleitung bei der auf Lieferketten spezialisierten Beratung Miebach Consulting, beobachtet dieses Umdenken bereits: „Nicht mehr die kostengünstigste Lieferkette ist beim Mittelstand das Ziel, sondern eine strapazierfähige“, sagt er.

Große Unternehmen setzen bei dieser Umstellung auf mehrere Lieferanten für die gleichen Teile, was die Kosten für Absprachen und den Einkauf erhöht. Einige wenige wie etwa die Modemarke Hugo Boss holen die Produktion wieder näher an sich heran. Nearshoring nennt sich der Trend, der ebenfalls die Kosten steigen lässt, weil die Löhne in Europa in der Regel deutlich über denen in Südostasien liegen.

Dass die Unordnung auf den Weltmärkten selbst an mächtigen Konzernen nicht spurlos vorbeigeht, zeigt das Beispiel Amazon. Dessen Vorstandsvorsitzender Andy Jassy begründete das schlechte Geschäft im vergangenen Jahr mit den hohen Investitionen in den Ausbau seiner Liefer- und Lagerinfrastruktur.

Für kleine Mittelständler sei die Umstellung auf mehrere Lieferanten oder auch Nearshoring „meist unmöglich“, sagt der Berater Wibbe. „Es ist zu teuer, in der Organisation zu aufwendig, und die meisten kleineren Unternehmen haben gar nicht die Marktmacht, mehrere Quellen anzuzapfen oder die Produktion nach Deutschland zu verlagern.“

Mittelständler setzen für ihre Just-in-case-Strategie deshalb auf erhöhte Lagerhaltung, wie eine Studie des Ifo-Instituts zeigt. Sie füllen Hallen mit Mikrochips, Rohstoffen oder Vorprodukten, um nicht bei jeder Lieferschwierigkeit alle Bänder anhalten zu müssen.

Neue Lagerflächen zu mieten oder zu bauen ist allerdings teuer, die Flächen sind rar, und die Nachfrage steigt, wie Zahlen von Immobiliendienstleistern wie JLL oder CBRE zeigen. Problematisch ist für viele Firmen, dass dann mehr Kapital im Lager gebunden und weniger Liquidität vorhanden ist.

Kann ein Unternehmen jedoch wegen zu geringer Lagerhaltung nicht liefern, verursacht das ebenfalls Probleme: sinkende Reputation, fehlenden Umsatz, womöglich weniger Aufträge. „All das müssen Mittelständler bedenken“, sagt der Berater Wibbe. „Am Ende ist es eine Gratwanderung für jedes Teil.“


Oben: Rohmaterialien im Lager der Firma Troester; rechts: Fertigungshalle

Dass sich der Aufwand, mehr zu lagern, lohnen kann, zeigt Bernd Pielsticker mit der Firma Troester. Um Risiken zu reduzieren, setzt der Geschäftsführer seit je auf einen Mix aus Just in time und Just in case. „Wichtig ist für uns, dass die Materialien verfügbar sind. Sind sie das nicht, verschenken wir ein unglaubliches Potenzial“, sagt er. Dafür verzichtet er auch auf Marge. „Wir beschaffen lieber jetzt Materialien zu einem Preis, der in unserer Kalkulation liegt, als darauf zu hoffen, dass er fällt und wir mehr daran verdienen.“ In der Krise bringt ihm das gefüllte Lager einen entscheidenden Vorteil: „Wir können agieren.“

150 Millionen Euro Umsatz macht das Unternehmen aus Hannover im Jahr unter anderem mit Vorprodukten für Reifen oder Ummantelungen von Kabeln in der Dicke von Oberschenkeln. Das Besondere sind die Maschinen, die solche Produkte erzeugen, sie heißen Extruder. In der Montage schrauben Mitarbeiter die Maschinen wochenlang zusammen und brauchen dafür unter anderem zugelieferte Motoren. Etwa 50 Prozent der eingekauften Teile kommen mehr oder minder just in time.

Diese kann Pielsticker nicht lagern, weil die Firma Kleinserien produziert und weil es auf Details ankommt. Vereinfacht gesagt: Wenn Pielsticker eckige Deckel vorab bestellt und dann runde Deckel braucht, ist nichts gewonnen. „Auch einen Motor kann ich mir nicht zwölf Monate ins Lager stellen, die Technik darin veraltet zu schnell.“

Auf Vorrat produzieren

Dass die Firma vieles andere bevorratet, hängt auch damit zusammen, dass hier noch selbst gefräst, gebohrt, gedreht und geschweißt wird. Ist die Auftragslage gut, wird für aktuelle Aufträge produziert. Ist sie schlecht, werden Teile im Voraus gefertigt – für den Fall, dass ein Auftrag reinkommt.

Der Vorteil: „Mit der eigenen Mannschaft für die Verarbeitung haben wir Know-how bei uns behalten und uns eine gewisse Flexibilität bewahrt“, sagt Pielsticker. Man sei bei bestimmten Teilen nicht von Lieferanten abhängig, sondern produziere sie selbst.


„Wir können agieren“: Bernd Pielsticker auf dem Gelände der Firma Troester in Hannover

Dass die erhöhte Lagerhaltung Platz und Kapital kostet, stört ihn nicht. Erst 2016 hat die Firma ihr Lager ausgebaut, was ihr jetzt zugute kommt. „Wir sind gut finanziert, eine erhöhte Kapitalbindung ist für uns kein Problem“, sagt Pielsticker.

Reagieren musste die Firma Troester in der Krise dennoch, wie sich bei einem Rundgang durchs Lager zeigt. Dort stehen große Metallrohlinge herum. Zwar räumen die Mitarbeiter diese mit Hebewagen noch fleißig herum, doch viele werden nicht mehr in die Lager passen. „In der Krise haben wir die Sicherheitsbestände um 25 Prozent hochgefahren“, sagt Pielsticker.

Ein Vorbild auch für andere Unternehmen? Ist Just in time vorbei? Manche Fachleute bezweifeln das. Milo Bogaerts, Vorstandsvorsitzender des Kreditversicherers Allianz Trade in Deutschland, Österreich und der Schweiz sagte anlässlich einer Untersuchung im Dezember 2021: „Just in case und Hamstern ist auf Dauer schlicht zu teuer.“ Unternehmen würden „allein wegen der Kosteneffizienz“ zumindest schrittweise zu Just in time zurückkehren. Ähnliches vermutet der Berater Wibbe: Nach der Krise würden Strategien wie Just in case nicht gänzlich verschwinden, aber weniger wichtig werden.

Hans Dieter Storzer von der Lünener EBG stimmt dem zu: „Auf Dauer können wir die Lagerhaltung nicht auf dem Niveau halten. Aber wir werden bei einigen Teilen über höhere Lagerbestände nachdenken.“ ---

Das sagt Hanno Höhn, Einkaufschef bei Mann + Hummel, einem Spezialisten für Filter- und Ansaugsysteme aus Ludwigsburg

„Von den rund 100 000 Teilen, die wir brauchen, um die Automobilindustrie zu beliefern, haben wir immer möglichst viel just in time eingekauft, sodass die Materialbestände maximal für drei bis zehn Tage gereicht haben. Aktuell haben wir den Bestand erhöht. Ist die Krise vorbei, wollen wir aber wieder zur ursprünglichen Beschaffung zurück. Auf Dauer ist erhöhte Lagerhaltung keine Option, weil die Kapitalbindung viel zu hoch wäre. Unsere Lieferanten können sich das nicht leisten, und unsere Kunden wollen das nicht bezahlen, also würden die zusätzlichen Kosten an uns hängen bleiben. Gleichzeitig gibt es gerade eine harte Auslese unter den Zulieferern im Automobilbereich: Sie alle, wie wir auch, müssen den Ausstieg aus dem Verbrennermotor meistern. Liquidität ist deshalb für uns entscheidend. Läge das Geld in den Lagern, würde es für Wandel und Innovation fehlen – das wäre fatal.“