Theodor Itten

Das sagt der Psychotherapeut Theodor Itten. Ein Gespräch über den Nutzen und die Gefahren massiver Selbstüberschätzung.





brand eins: Menschen, denen man einen gewissen Größenwahn nachsagt, werden heute gefeiert. Ist dieser Charakterzug gesellschaftlich anerkannter als früher?

Theodor Itten: Das sehe ich so. Viele Investoren erwarten heute große Ideen und große Auftritte von Unternehmensgründern und Managern. Das kann gefährliche Züge annehmen. In einem sehr interessanten Artikel wird vorgeschlagen, Führungskräfte vor der Einstellung auf gängige Persönlichkeitsstörungen zu testen. Dabei könnte beispielsweise herauskommen: „Du bist ein guter Manager, aber auch ein Narzisst, und einen solchen möchten wir nicht in einer hohen Position haben.“ Ich habe in meiner therapeutischen Praxis etliche Manager mit derartigen Problemen gehabt, unter denen vermutlich viele Menschen gelitten haben. Daher denke ich, dass man über diese Idee zumindest nachdenken sollte.

Muss Größenwahn negativ sein? Gibt es nicht auch die visionäre Variante?

Größenwahn muss nicht per se schlecht sein. Die massive Selbstüberschätzung des eigenen Ichs kann ungeheure Energie freisetzen – vorausgesetzt, der Größenwahn ist nicht pathologisch. Für entsprechende Führungspersönlichkeiten sind Checks and Balances hilfreich, die sie einbremsen und korrigieren. Wenn diese sich allerdings nur mit Ja-Sagern umgeben, wird es gefährlich. Jemand wie Elon Musk weiß hingegen sehr wohl, wo seine Grenzen liegen – zumindest hat es den Anschein.

Was verstehen Sie unter Größenwahn?

Größenwahn ist nicht als eigenständige Krankheit klassifiziert, er gilt als Charakterstörung oder Symptom. Denn in fast allen Fällen tritt er bei Menschen auf, die unter einer Persönlichkeitsstörung leiden. Das kann eine narzisstische Störung sein, bei welcher der Patient sehr auf sich selbst konzentriert ist. Größenwahn kann aber auch in der manischen Phase einer bipolaren Störung auftreten, in der sich manche Menschen fantastische Dinge zutrauen und sehr unvernünftig handeln.

Wie äußert sich das Phänomen?

Wie der Name sagt, handelt es sich um einen Wahn. Es kommt tatsächlich vor, dass sich Menschen – so wie im Klischee – für berühmte Persönlichkeiten halten. Häufiger und weniger auffällig ist die Überschätzung der eigenen Person: Menschen meinen etwa, sie seien besonders begabte Künstlerinnen oder Künstler. Sie sind nicht in der Lage, ihre Leistungen korrekt einzuschätzen, und versuchen, nach außen ein Lügenkonstrukt aufzubauen, damit das niemand merkt.

Ist ein gewisses Maß an Selbstüberschätzung nicht nützlich für die Außendarstellung?

Es kommt auf das Maß an. Massive Selbstüberschätzung endet in aller Regel katastrophal. Ich hatte einen Patienten, der meinte, sehr gut mit Geld umgehen zu können. Er investierte aber in ein Schneeballsystem und verspielte so rund 500 000 Euro. Danach bettelte er seine vermögenden Freunde an, bis es zum großen Knall kam und sein Ruin nicht mehr zu verbergen war. Größenwahn kann Menschen, Familien und ganze Unternehmen zerstören. Weil die Betroffenen diese Gefahr nicht erkennen, kommen sie meist viel zu spät zur Therapie.

Wenn jemand zu Ihnen kommt: Wie erkennen Sie das Phänomen?

Ich achte auf typische Merkmale. Dazu gehören die Überhöhung des eigenen Ichs, die Fähigkeit, sich und andere zu täuschen, sowie „Angst-Arroganz“. Letzteres bedeutet, dass jemand auf Angriff schaltet, wenn ich versuche, seine Lügen zu enttarnen.

Wie gehen Sie dann konkret vor?

Ich höre mir die Geschichte des Patienten an und versuche zu beurteilen, ob seine Einschätzung der Wirklichkeit mit der Realität übereinstimmt. Dabei muss man genau sein. Ich hatte mal jemanden, der sagte, er könne jederzeit Nicolas Sarkozy, den ehemaligen französischen Präsidenten, anrufen, sie seien beste Freunde. Das hätte bei diesem reichen Schweizer durchaus sein können, deswegen muss man in solchen Fällen den Kontext, die jeweilige Lebensgeschichte ausleuchten. Dabei versuche ich, eine wichtige Unterscheidung zu treffen: zwischen einer Lüge und Verlogenheit. Ersteres ist ein Einzelfall, Letzteres ein Lügensystem – der Betreffende täuscht also notorisch.

Wieso ist dieser Punkt so wichtig für Sie?

Ich habe in meiner Berufspraxis festgestellt, dass sich Menschen mit Größenwahn in Wahrheit minderwertig fühlen. In ihrer Kindheit wurde oft zu viel von ihnen verlangt, sie konnten dem nicht entsprechen und mussten versagen. Durch Lügenkonstrukte bauten sie sich früh eine Gegenwelt auf. Nicht alle Lügner sind größenwahnsinnig, aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass jemand, der notorisch lügt, dorthin abdriftet. Dabei wissen Menschen mit einem Hang zu Größenwahn durchaus, dass sie lügen. Sie haben deshalb große Angst, entlarvt zu werden. Tritt dieser Fall ein, kann das befreiend sein, weil die Anstrengung, das Lügengebäude aufrechtzuerhalten, nun wegfällt. Dann beginnt die Zeit der eigenen Wahrhaftigkeit.

Wann beginnt die Flucht in die Gegenwelt, von der Sie sprachen?

Die entscheidende Phase ist der Übergang zum Erwachsenen. In der Kindheit und frühen Jugend ist ein gewisser Größenwahn gut. Wir brauchen in dieser Zeit Idole und Visionen, träumen davon, ein Rockstar oder großartiger Fußballspieler zu sein. Das treibt uns an. Später, im Alter zwischen 16 und 24 Jahren, werden solche Träume mit der Wirklichkeit konfrontiert, und wir merken idealerweise, was wir wirklich gut können, und was nicht. Manchen Menschen fehlt diese Konfrontation mit der Realität, oder sie wollen diese nicht wahrhaben – und beginnen mit der Konstruktion ihres Lügengebäudes.

Ist der Realitäts-Check schwieriger geworden, seit es in den sozialen Medien vor allem um Selbstinszenierung geht?

Die Versuchung, sich besser darzustellen, als man ist, wird durch Instagram und andere Plattformen größer, keine Frage. Aber das eigene Image aufzupolieren ist noch lange kein Größenwahn. Die meisten Jugendlichen verstehen, dass das, was sie im Netz sehen, mit der Realität wenig zu tun hat. Und sie verwechseln ihre Posts auch nicht mit der eigenen Identität. Außerdem erleichtert das Internet die Prüfung größenwahnsinniger Behauptungen. Wenn ich damit angebe, Professor in Harvard zu sein, dann schauen Sie auf die Website der Universität und entlarven mich. Das war früher viel schwieriger. ---

Theodor Itten, 69, ist im Ruhestand und der Partnerin zuliebe gerade nach Hamburg umgezogen. In seinem neuen Heim stapeln sich Dutzende Bücher in Regalen, über Schränke und auf dem Boden verteilt. Zuvor hatte der Psychotherapeut lange eine eigene Praxis in St. Gallen, war Vorstandsmitglied der Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (ASP) und von 2008 bis 2011 ihr Präsident. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter „Größenwahn – Ursachen und Folgen der Selbstüberschätzung“.