Seltene Doppelbegabung

Karl Leo ist Physikprofessor und Unternehmer. Die Geschichte eines Ausnahmetalents.





Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 01/2022.

Karl Leo ist Professor für Optoelektronik am Institut für Angewandte Photophysik der Technischen Universität Dresden. Als Unternehmer will er als Nächstes Solarfolien vermarkten

• Es muss im Jahr 2011 oder 2012 gewesen sein. Den Zeitpunkt weiß Karl Leo nicht mehr so ganz genau. Sehr gut erinnert er sich hingegen an den verwunderten Blick eines Verkäufers im Dresdner Apple-Store. Der Professor für Optoelektronik verglich gemeinsam mit seinen Kindern den Bildschirm des neuesten iPhones mit dem seines Samsung-Smartphones. Kräftige Farben, scharfes Bild – Leo stellte fest, dass sein Gerät in diesen Kategorien besser war, obwohl es weniger gekostet hatte. Das freute ihn, denn in seinem Smartphone steckte eine Technik, der er Mitte der Neunzigerjahre einen entscheidenden Schub gegeben hatte: organische Leuchtdioden, kurz OLED. Leo erzählte dem Verkäufer, dass die Technik in seinem koreanischen Handy zum großen Teil aus Dresden stamme – damit überraschte er ihn. Überhaupt ist es eine Geschichte, die nur wenige kennen.

Zehn Jahre lang hatten Karl Leo und zwei Doktoranden der Technischen Universität die organischen Leuchtdioden entwickelt, 2001 gründeten sie dann die Firma Novaled. Die Firma hielt viele Patente. Als der forschende Unternehmer im Apple-Store stand, bereitete die Firma gerade den Börsengang in New York vor. Doch es kam anders.

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Denn zwei Jahre später, 2013, kaufte der Samsung-Konzern, bereits Kunde und Kooperationspartner, Novaled für 240 Millionen Euro. Viel Geld für eine kleine Firma mit 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dachte man damals. Doch Samsung hatte früh erkannt, wie groß das Potenzial von OLED war. Heute sind organische Leuchtdioden in nahezu allen hochwertigen Smartphones und Tablets verbaut, inzwischen auch in jenen von Apple. Auch in Bildschirmen und Fernsehern finden sich die farbenfrohen organischen LED immer öfter, meist unter der technischen Bezeichnung AMOLED.

Der Markt für organische Leuchtdioden wächst seit Jahren rasant. Samsung nutzt und verwertet die Novaled-Patente und investiert weiter in die Technik. Und Karl Leo arbeitet derweil mit anderen Ausgründungen an neuen Innovationen.

An guten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mangelt es nicht in Deutschland. Zwei Nobelpreise haben dies im Herbst wieder belegt. Auch viele Rankings zeigen: Die großen Forschungsgesellschaften wie die Max-Planck-Gesellschaft, die Helmholtz- und die Leibniz-Gemeinschaft, die deutschen Akademien der Wissenschaften, Bundesforschungseinrichtungen und auch die vielen Forschungsinstitute an Universitäten müssen den Vergleich mit anderen Wissenschaftsnationen nicht scheuen. Bei den Patentanmeldungen in den Technikwissenschaften stehen die Forscherinnen und Forscher ebenfalls gut da. Nur bei der ökonomischen Verwertung des Wissens sieht es weniger gut aus.

Die Wissenschaftler an den Top-Universitäten und Forschungseinrichtungen in den USA, Großbritannien und der Schweiz etwa gründen im Schnitt pro Mitarbeiter bis zu siebenmal so oft Start-ups auf Grundlage ihrer Forschungsergebnisse aus wie ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen. Zu diesen Ergebnissen kam das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Jahr 2018.

Karl Leo hat seit 1999 acht Firmen ins Leben gerufen. Der gebürtige Freiburger ist hierzulande einer der wenigen Wissenschaftler, die auch unternehmerisch groß denken können. Was ist das für ein Mann, und was kann man von ihm lernen?

Er sitzt in seinem hellen Eckbüro an der Technischen Universität in Dresden. Dieses Jahr ist der Halbleiterforscher 61 Jahre alt geworden. Er ist groß und schlank, sieht jünger aus, vielleicht liegt es am Rennradsport. Seine badische Herkunft hört man ihm auch nach fast drei Jahrzehnten in Sachsen noch an. Der Professor hört aufmerksam zu und nimmt sich vor jeder Antwort ein paar Sekunden Zeit. Auf die Frage, wie ein Forscher zum Gründer wird, sagt er: „Für mich zumindest steht am Anfang der Drang, Dinge wirklich zu verstehen. Den hatte ich schon als Kind. Und dann kommt eben der Hang zum Praktischen, zum Anfassbaren, dazu.“

Er erzählt eine Geschichte, um das zu illustrieren. Es war 1970, er zehn Jahre alt. Im Garten seiner Familie stand ein alter Benzinrasenmäher, der nicht mehr anspringen wollte. Der Junge schraubte das Gerät auseinander und probierte zwei Tage lang, es wieder zum Laufen zu bringen. Die Eltern hatten irgendwann Mitleid und baten ihn, endlich aufzugeben. Doch er schaffte es, den Anlasser und dessen Problem zu verstehen. Es fehlte nur ein spezielles Werkzeug für eine bestimmte Schraube. Leo lieh es sich von einem Freund der Familie – und der Rasenmäher funktionierte wieder.

Im Gymnasium faszinierte ihn vor allem die Chemie. Sein Hang zum Praktischen ließ ihn auch über ein Ingenieurstudium nachdenken, doch es wurde „die fundamentalste der Naturwissenschaften“, so nennt er die Physik. Von 1986 an promovierte er bei Hans-Joachim Queisser, ein deutscher Halbleiterpionier im Silicon Valley und Solarzellenforscher. Für seine Doktorarbeit erhielt Leo einen Wissenschaftspreis und ein zweijähriges Forschungsstipendium in den damals berühmten Bell-Laboratories des amerikanischen Telefonkonzerns AT&T. Die Ideen-Fabrik, die Technikpioniere aus aller Welt anzog, entwickelte mit Transistoren, Mikroprozessoren, Lasern und Glasfaserkabeln die wichtigsten Bausteine des digitalen Wandels und brachte viele Nobelpreisträger hervor (siehe auch brand eins 09/2021: „Wie entsteht das Neue?“).

Karl Leo klingt nostalgisch, wenn er über seine Zeit dort spricht. „Die haben uns immer gesagt: ‚Forscht, woran ihr Lust habt, wenn ihr es für vielversprechend haltet.‘ Geld war genug da. Reisekostenabrechnungen gab es keine, sondern eine Kreditkarte, Vertrauen und einen kurzen Kontrollblick des Chefs am Ende des Monats.“ Als in Deutschland die Mauer fiel, machte Leo in den Bell-Labs Messungen zur optimalen Leitfähigkeit in traditionellen Halbleitern auf Siliziumbasis. Wenn er ein mathematisches Problem nicht lösen konnte, ging er in ein Nachbarbüro. Da saßen weltberühmte Forscher und „und halfen mal eben beim Durchrechnen“. Der Abschied fiel ihm nicht leicht. Doch im Osten des wiedervereinigten Deutschlands taten sich für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie ihn große Chancen auf.

1993 wurde Karl Leo an den Lehrstuhl für Optoelektronik der Technischen Universität Dresden berufen. In der Nachwendezeit herrschte in Sachsen Aufbruchsstimmung. Der Ministerpräsident Kurt Biedenkopf träumte von einem Silicon Saxony. Leo versuchte in seinen Forschungsgruppen eine Atmosphäre wie in den Bell-Labs zu schaffen. Denn dort hatte er gelernt: „Die wirklich spannenden, bahnbrechenden Entdeckungen finden sich, wenn man gar nicht gezielt nach ihnen sucht.“ Genau das bestätigte sich im Jahr 1994.

Entgegen der vorherrschenden Meinung vieler Festkörperphysiker stellten sein Team und er fest: Wenn man den sogenannten organischen Halbleitern – das sind Kohlenwasserstoffverbindungen mit ähnlichen Eigenschaften wie Silizium – ein klein wenig hochleitende Stoffe beimischt, kommen sie mit einem Fünftel der elektrischen Spannung aus, ohne ihre opto-elektronischen Eigenschaften zu verlieren. Auch für sie gilt also: Strom rein, Licht raus. Nur viel besser. „5 Volt reichten, wo sonst 25 nötig waren“, sagt Leo. Ihnen war klar: LED könnten dank dieser Entdeckung mit weniger Strom heller leuchten. Außerdem wären Solarzellen ohne teures Silizium möglich.

Das entsprechende Verfahren heißt im physikalischen Fachjargon Dotierung und wird bei Silizium-Halbleitern seit Jahrzehnten angewendet. Bei kohlenstoffbasierten Halbleitern wurde es bis dahin nicht in Betracht gezogen. Seine Publikationen zu Dotierungen für organische Halbleiter machten Karl Leo zu einem der meistzitierten Wissenschaftler seines Fachgebiets und brachten ihm viele Wissenschafts- und Innovationspreise ein. Die Schriften bildeten auch die Grundlage für rund 50 Patente. Vor allem aber führte Dotierung als Basisinnovation zu vielen Ausgründungen des Lehrstuhls. Diese schufen Arbeitsplätze in der Region und machten die Gründer zu wohlhabenden Menschen.

Was Karl Leos Kolleginnen und Kollegen über ihn sagen, erinnert an die Rasenmäher-Geschichte: „Kämpfertyp. Ungewöhnlich hartnäckig.“ Oder: „Bohrt die ganz dicken Bretter und sucht nach Lösungen für Probleme, die andere erst gar nicht angehen würden.“ Klaus Müllen war viele Jahre Direktor des Max-Planck-Instituts für Polymerforschung in Mainz. 13 Jahre älter, in einem fachlich angrenzenden Gebiet, hat er Leos Karriere beobachtet. Er sagt, Leo habe „die extrem seltene Doppelbegabung absoluter wissenschaftlicher Brillanz in der Grundlagenforschung, verbunden mit der Energie, Lust und Fähigkeit des Gründers und Managers.“ Außerdem sei es ihm gelungen, die richtigen Leute um sich zu scharen – die wissenschaftlich begabt waren, aber auch Lust hatten, ihre Erkenntnisse anzuwenden.

Zu diesen Leuten gehörte Ende der Neunzigerjahre Jan Blochwitz-Niemoth. Mit ihm und einem weiteren Post-Doktoranden gründete Karl Leo 2001 dann die Firma, die Samsung kaufte. Blochwitz-Niemoth sagt über seinen ehemaligen Professor: „Der macht einfach. Der hat keine Angst zu scheitern, sondern sagt: ,Was soll schon passieren. Mehr als scheitern können wir ja nicht.‘“

Was bedeutet Scheitern für ihn? Karl Leo nimmt sich in seinem Eckbüro wieder Zeit, bevor er antwortet. Die eigentlich relevante Frage sei für ihn, warum der Transfer von Forschung zur Anwendung so selten funktioniere. „Welche Verhinderungslogiken halten jene Forscherinnen und Forscher davon ab zu gründen, die eigentlich Lust dazu hätten?“

Er selbst habe immer wieder erlebt, dass die Hürden vor, während und nach einer Gründung im deutschen Forschungssystem höher seien als anderswo. Hochschulbürokratie, die rechtlichen Fragen rund um geistiges Eigentum, das mit öffentlichem Geld erschaffen wurde und dann von einem Spin-off verwertet werden soll. Der mühsame Zugang zu Wagniskapital in Europa. Die generelle Technikskepsis.

Auf dem runden Tisch vor ihm liegt eine dünne, halbtransparente Folie, ungefähr so groß wie ein DIN-A4-Blatt. In der Folie sind Dünnschicht-Solarzellen eingeschweißt. Ihr Wirkungsgrad ist zwar deutlich geringer als der von Zellen auf Silizium-Basis, aber die Solarfolie ist leicht und billig und lässt sich auf Fassaden und Dächer kleben, die das Gewicht von Paneelen nicht tragen können. Es ist die Erfindung von Heliatek, Leos zweiter großer Ausgründung. Die Firma ist kurz davor, die Folie in Massenherstellung auf den Markt zu bringen. Sollte die Technik so erfolgreich werden wie die Displays, könnten organische Halbleiter aus Dresden der Welt einen noch viel größeren Dienst erweisen. Es bräuchte dann nur noch eine billige Batterie, um die Energie aus den Folien zu speichern. Das können organische Halbleiter nicht. Diese physikalische Hürde ist selbst für einen Karl Leo zu groß. ---

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