Umbau statt Abriss

Seit Jahrzehnten wird neu gebaut – statt vorhandene Substanz zu erhalten. Fachleute aber fordern, gar nichts mehr abzureißen. Denn alte Gebäude neu zu nutzen stärkt die Gemeinschaft und schont die Umwelt.




• Der Anblick zerstörter Häuser, besonders wenn es sich um alte und mit Erinnerungen behaftete Gebäude handelt, erzeugt bei Bürgerinnen und Bürgern regelmäßig Wut und Trauer. Die gängige Stadtpolitik, profitträchtigen Neubau dem Erhalt alter Bausubstanz vorzuziehen, schreckt in vielen Kommunen nicht einmal vor dem Denkmalschutz zurück. Und die Erwartung an das Kommende weckt meist weitere negative Gefühle. Denn seit Jahrzehnten geht es bei Neubauten selten um Qualität, Originalität oder das Entwerfen identitätstauglicher Orte. Es geht um Effizienz und Gewinn – und so sehen neue Gebäude dann meistens auch aus.

Als im September dieses Jahres rund 170 Baufachmenschen aus Verbänden, Universitäten, Architekturbüros und -zeitschriften einen offenen Brief an die Bundesbauministerin Klara Geywitz schickten, in dem sie ein sofortiges „Abrissmoratorium“ forderten, mag sich mancher gewundert haben, was Leute, die davon leben, dass gebaut wird, zu solch einer radikalen Forderung animiert haben könnte. Doch nach Jahren interner Debatten und Kongresse zum nachhaltigen Bauen, die lediglich zu politischen Absichtserklärungen führten, ist der Frust unter verantwortungsvollen Planerinnen und Planern riesig.

„In Deutschland entstehen jedes Jahr 230 Millionen Tonnen Bau- und Abbruchabfälle, was 55 Prozent des gesamten deutschen Abfalls ausmacht“, heißt es in dem Brief und weiter: „Der Gebäudesektor hat zum zweiten Mal in Folge sein Emissionsminderungsziel verfehlt. Um das Sektorziel 2030 zu erreichen, ist eine jährliche Minderung von Treibhausgas-Emissionen um 5,5 Millionen Tonnen nötig – mehr als das Doppelte als der derzeit erreichte Wert.“ Zusammengefasst lautete der Vorwurf an die Baupolitik und -industrie: Ihr redet viel und tut wenig.

Abgesehen von ein paar Feigenblattprojekten, die den Medien als vorbildlich ökologisch präsentiert werden, herrscht in deutschen Stadtentwicklungsgebieten das nackte Grauen. Stahlbetonskelette, die eine sehr giftige Emissionsbilanz haben, recken sich aus den Baugruben – sei es im Frankfurter Bankenviertel, in den monotonen neuen Stadtrandsiedlungen Münchens oder in der Hamburger Hafencity. Der Herstellungsprozess des Zements inklusive Transport und benötigter Energie entlässt pro Tonne des billigen Baumaterials eine Tonne Kohlendioxyd in die Luft. Für deutsche Baustellen werden so aktuell 35 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr erzeugt, Tendenz steigend.

Das Problem des Mangels an Wohnraum würde ein sofortiger Stopp von Abrissen allein jedoch nicht lösen. 17 642 Gebäude wurden laut offizieller Statistik 2021 in Deutschland abgerissen, wodurch 1,4 Millionen Quadratmeter Wohnfläche verloren gingen. Angesichts der Ambition der Bundesbauministerin, jährlich 400 000 neue Wohnungen zu bauen, hätte der vollständige Erhalt all dieser Gebäude lediglich dann für dieselbe Zahl an Wohnungen gesorgt, wenn diese jeweils nur 3,5 Quadratmeter groß gewesen wären. Ohne umfangreichen Neubau lassen sich die Ziele der Wohnraumversorgung also nicht erreichen.

Allerdings hat die Forderung nach vielen neuen Wohnungen eher mit politischen und sozialen Fehlentwicklungen zu tun als mit einem tatsächlichen Mangel an Gebäuden. Denn die Bevölkerung in Deutschland stagniert. Die aktuellen Prognosen des Statistischen Bundesamtes bis 2035 sehen trotz krisenbedingter Zuwanderung, etwa durch ukrainische Flüchtlinge, keine dramatische Veränderung in der stetig flachen Kurve auf die Bundesrepublik zukommen.

Foto: © Philippe Ruault

Einst schäbiges Hochhaus, heute luftige Residenz: ein Projekt des Pariser Architektenbüros Lacaton & Vassal.

Die Single-Haushalte forcieren die Nachfrage

Der Wille, derart viele neue Wohnungen zu schaffen, ist also statistisch nicht zu rechtfertigen. Es sind andere Faktoren, die für die enorme Nachfrage verantwortlich sind: der steile Anstieg von Single-Haushalten und der kontinuierlich wachsende Flächen- bedarf pro Kopf. Immer weniger Menschen leben in immer größeren Haushalten. Der massenhafte Verkauf staatlicher Wohnfürsorge an Investoren seit den Neunzigerjahren sowie das Aufheben der Sozialbindung nach rund 15 Jahren hat außerdem einen bedrückenden Mangel an bezahlbaren Wohnungen verursacht. Und unregulierte Immobilienspekulation hat zur Folge, dass sich die Mieten in den vergangenen Jahren völlig von der Gehaltsentwicklung abgekoppelt haben. In Berlin etwa stiegen sie zwischen 2009 und 2019 um mehr als 100 Prozent.

All dies sind Probleme, die politisch gelöst werden müssen, nicht mit dem Betonmischer. So könnten etwa Gewerbeimmobilien, die wegen Covid und Home Office brach liegen, zu Wohnungen umgebaut werden, was enormen Druck aus dem Mietmarkt nähme. Architektinnen und Architekten werben außer- dem schon lange für flächensparende Konzepte wie Clusterwohnungen, also Verbünde mit mehreren Apartments, deren Bewohner sich Küche, Bäder und Gemeinschaftsflächen teilen. Allerdings scheitern solche Vorschläge für eine weniger verschwenderische, aber ökologisch dringend gebotene Lebensweise bislang an hartnäckigem Anspruchsdenken und Vorurteilen – etwa dem, erwachsene Menschen könnten nicht in Wohn- gemeinschaften leben.

Foto: © Simon Menges (Architektur: David Chipperfield Architects)

Kloster und Krankenhaus wurden zum Firmenhauptquartier: das Gebäude Jacoby Studios im Zentrum von Paderborn

Die Graue Energie muss berücksichtigt werden

Und so setzt auch die Bundespolitik weiter auf konventionellen Massenwohnungsbau, was ein großes Problem verursacht: „Die beiden zentralen baupolitischen Zielsetzungen – die Schaffung von 400 000 neuen Wohnungen pro Jahr und die CO2-Neutralität bis 2045 – widersprechen sich diametral, solange die aktuelle Praxis von Abriss und Neubau beibehalten wird“, heißt es in der Pressemeldung der Aktion Abrissmoratorium.

Um den Unterschied zwischen Neu- und Umbau bei der Umweltbelastung zu begreifen, muss man über die sogenannte Graue Energie sprechen. Bislang wurde für die ökologische Bewertung eines Gebäudes meist nur die Energieeffizienz herangezogen. Der indirekte Energiebedarf jedoch, der bei Abbau, Herstellung und Transport der Materialien, bei Fertigung, Bau und Installation eines Gebäudes anfällt, wurde schlicht ignoriert. Eine klimagerechte Betrachtung bezieht diese Faktoren, die man Graue Energie nennt, mit ein. Und dann wird offenbar, dass rund 80 Prozent der Schadstoffbilanz des Bauens im Rohbau steckt, eine Komplettentker- nung und -sanierung aber nur ein Fünftel der CO2-Emissionen produziert, die ein Neubau verursacht.

Das „beispiellose Branchenwachstum der vergangenen fünf Jahre“ (Branchenanalyst Ibis World) von 6,2 Prozent lässt die deutschen Abrissfirmen jubeln, dabei könnte die Kreislaufwirtschaft eine der wesentlichen Säulen einer echten Bauwende sein. Die von der EU-Kommission im Green Deal beschworene und für die Mitgliedsstaaten im Kreislaufwirtschaftsgesetz verbindlich formulierte Maxime von strenger Müllvermeidung, Ressourcenschutz und effizientem Recycling wird mit Abrissbirnen niemals zu erfüllen sein.

Szenenwechsel aus der lethargischen Politik in die lebendige Praxis, wo es eindrucksvolle Beispiele gelungener Gebäudetransformation gibt. So wurde der Umbau einer Stofffabrik mit markantem Sägezahndach in einen Komplex mit 46 Loftwohnungen und digitalem Gründerzentrum rund um einen großen Innenhof in Kempten jüngst mit zwei Architekturpreisen ausgezeichnet – vor allem wegen der kommunikativen Atmosphäre, die dadurch entstanden war. Viele solcher originellen Wiederbelebungen sind verbunden mit einer Ermunterung zu Nachbarschaft, etwa durch Gemeinschaftsflächen oder neue Angebote im Viertel.

Auch die Reanimierung einer Kloster- und Krankenhaus-Hinterlassenschaft aus dem 17. Jahrhundert in Paderborn, die David Chipperfield mit einem integrativen Konzept aus Alt und Neu für ein Firmenhauptquartier ermöglicht hat, ist ein starkes Beispiel dafür, was Bauen im Bestand erreichen kann. Allerdings sind solche außergewöhnlich komplexen Projekte mit archäologischen Vorbereitungen meist darauf angewiesen, dass ein privater Bauherr die ideelle und finanzielle Verantwortung übernimmt. Der Gründer des Familienbetriebs, Franz Jacoby, der sich das aufwendige Projekt aus Verbundenheit zur Stadt leistet, gesteht ein: „Wirtschaftlich ist das nicht.“

© Peter Landers (Architektur: WilkinsonEyre)
© Patricia Parinejad (Architektur: Gruentuch Ernst Architects)
© Markus Gröteke, Berlin

Vom Kohlekraftwerk zum Luxus-Tempel: die Battersea Power Station in London. 

War mal ein Frauengefängnis: das Hotel Wilmina in Berlin-Charlottenburg; Fotos

In Hannover wohnen Studenten in der Kirche

Für die meisten gewöhnlichen Sanierungen gilt das nicht, denn in der Mehrzahl der Fälle ist Reparatur für die Eigner billiger als Vollersatz. Dass mit Geduld und klugen Konzepten alte Substanz nicht nur gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Wert bewahrt, sondern vielfach auch finanziellen dazugewinnt, das zeigen Gründerzeitquartiere, die nach dem Krieg eigentlich Platz für die Moderne machen sollten. Und schon lange als Bau-Phönixe bekannt sind ehemalige Industrie- und Infrastrukturgebäude, die – umgewandelt in Museen und andere kulturelle Einrichtungen – sehr viele Menschen anziehen.

Zu den berühmtesten Beispielen solcher Metamorphosen zählt der Bahnhof d’Orsay in Paris, der nach dem Krieg einem riesigen Hotel weichen sollte und heute ein Museum mit rund drei Millionen Besuchern jährlich ist. Oder die Kunstgalerie Tate Modern, die nach der Renovierung durch Herzog & de Meuron in das zuvor 20 Jahre verfallende Gebäude der Bankside Power Station in London einzog. Private wie staatliche Akteure des Kulturbetriebs retten beeindruckende Bauwerke, die ihren ursprünglichen Zweck nicht mehr erfüllen. Die Zeche Zollverein in Essen, das Museum Küppersmühle in Duisburg, das Kulturzentrum Kampnagel in Hamburg oder die Baumwollspinnerei in Leipzig: Viele der kulturell spannendsten Orte der Republik galten – ökonomisch betrachtet – einmal vorschnell als nutzlos.

Auch Kirchen oder Gefängnisse eignen sich für eine Neubelebung. Doch allein die katholische Kirche hat in Deutschland von den 538 Gotteshäusern, die sie seit 2000 profanisieren musste, 160 abreißen lassen. Dabei könnte allein der spektakuläre Umbau der Gerhard-Uhlhorn-Kirche in Hannover läuternd wirken – denn dadurch entstanden 27 Zimmer für Studentinnen und Studenten sowie vier Sozialwohnungen. Eine ähnlich überraschende Neubelebung widerfuhr dem Berliner Frauengefängnis an der Kantstraße in Charlottenburg, das die Architekten Grüntuch Ernst kauften und in ein Hotel verwandelten.

Allerdings dient die Rettung bedeutender Denkmäler immer öfter elitärer Statuskultur. Ein Beispiel dafür ist das Londoner Schwestermonument der Bankside Power Station, die Battersea Power Station, entworfen vom selben Architekten, Sir Giles Gilbert Scott. Das ehemalige Kohlekraftwerk mit seinen vier prägnanten Schornsteinen an den Ecken, weltberühmt geworden durch das Plattencover von Pink Floyds Album „Animals“, wurde Mitte Oktober neu eröffnet. Der auf dem Rücken liegende Backstein-Dinosaurier, den das Büro Wilkinson Eyre mit denkmalpflegerischer Sensibilität umgestaltet hat, beherbergt nun eine Shopping Mall mit 100 edlen Geschäften, Apple-Büros und 254 Luxusapartments, darunter auch Fünfzimmerwohnungen für knapp zehn Millionen Euro.

Für die Initiatoren des Abrissmoratoriums sind solche Leucht-turmprojekte der Gentrifizierung nicht das Ziel. „Die Erhaltung darf sich nicht auf einen kleinen Teil von repräsentativen Denkmälern beschränken, sondern muss den gesamten Baubestand umfassen“, lautet ihre Forderung. Auch bei Gebäuden, denen kaum jemand eine Träne nachweinen würde, müsse die Option Erhalt geprüft werden.

Als Spezialisten für solche Fälle gelten Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal. Ihr Pariser Architekturbüro liefert seit vielen Jahren Lehrstunden, wie aus sozialen Brennpunkten mit schäbigen Hochhäusern Vorzeigenachbarschaften mit begehrten Wohnungen werden. Mit lichten Fassaden aus Wintergärten und dezenten Eingriffen in die Grundrisse und die Substanz verwandeln sie Schreckenssymbole des anonymen Wohnens in helle, luftige Residenzen.

„Wir denken, dass Abreißen ein Fehler ist. Denn wenn wir diese Quartiere aufmerksam, objektiv, von innen betrachten, sehen wir dort Qualitäten und Kapazitäten“, sagt das Paar, das für seine Pionierarbeit Anfang November in Köln einen der wichtigsten deutschen Architekturpreise erhielt, den Großen Preis des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten (der Autor dieses Berichtes war Mitglied der Jury). Indem das Büro Lacaton & Vassal das verborgene Potenzial von Abbruchkandidaten ausschöpft, wird den Bewohnern ein luxuriöses Ambiente zu alten Mieten beschert.

Das ist die Bauwende, die sich auch in Scheunen und Parkhäusern, Postämtern und Silos umsetzen ließe, also in vielen Baukörpern, die nicht länger für das taugen, wofür sie mal gedacht waren. Bei gut gemachten Umbauten gibt es am Ende nur Gewinner. Bis auf: Abbruchunternehmen. ---