Creator Economy

Die Creator Economy ist kein Zufall, sondern Teil der Internet-Evolution.





• Was ist das Wichtigste, wenn es um Transformation geht: Technik, Innovationen? Eine tolle Organisation, eine klare Strategie? Ein schneidiges Management? Weitsicht? Visionen?

Nein, die wichtigste Tugend bei der Transformation ist Geduld. Wer Neues in die Welt bringen will, braucht einen langen Atem. Und auch das ist nicht genug: Zusätzlich zur Geduld braucht es Gleichmut. Denn die meisten Menschen mögen keine Veränderung, weil sie fürchten, dadurch etwas zu verlieren. Deshalb reden sie gern alles schlecht, was ihre gewohnte Position bedroht, selbst dann noch, wenn das Neue längst Realität ist. Doch aus der kann sich niemand ausloggen.

Wie der Übergang klingt, konnte man im Oktober 2019 hören. Man feierte das 50-jährige Jubiläum des Internets. Das ist an sich schon ein schwieriges Datum, denn das Netz hat viele Vorläufer und Ideengeber. Es entstand für das US-Verteidigungsministerium und wurde weitergereicht an Universitäten, die aus dem Ding etwas machen sollten. Aber gut. Irgendwo muss man ja anfangen.

Jedenfalls verbanden am 29. Oktober 1969 Techniker an der University of California in Los Angeles einen Rechner über die Telefonleitung mit einem Computer, der mehr als 500 Kilometer weiter nord-westlich an der Universität Stanford stand. Ein Programmierer in Los Angeles sollte das Wort Login übertragen:

Die Geschichte mit den zwei Buchstaben wurden rauf und runter beschrieben und in den traditionellen Medien ausgebreitet. Die Botschaft war klar: Das Internet war von Anfang an Murks. Ein Garantiefall. Alles Loser.

Nun konnte vor zweieinhalb Jahren nicht einmal der rückständigste Mensch offen behaupten, dass dieses ganze Internet Murks sei. Das Netz ist – insbesondere seit sich aus den zaghaften Anfängen mit dem L und O ab 1989 das World Wide Web entwickelte – die Leittechnologie der Digitalisierung und damit der Wissensökonomie und der Transformation schlechthin. In der Pandemie hat es uns den Hintern gerettet. Aber in Zeiten, in denen um Schutzimpfungen Glaubenskriege entbrennen, gibt es natürlich auch Leute, die an den Erfolg des Webs nicht glauben.

In den späten Neunzigerjahren, das Web war spät, aber dann doch in Deutschland angekommen, galt das Internet als „Schmuddelnetz“, so die »Bild«-Zeitung, ein Urteil, das viele traditionelle Medien teilten.

Nur wenig später aber rochen angesichts der steigenden Nutzerzahlen und besserer Bandbreiten, die mehr Anwendungen ermöglichten, die alten Eliten Blut. Plötzlich war alles toll, was mit dem Internet zu tun hatte, und das Schlagwort von der New Economy wurde reichlich unkritisch und wenig hinterfragt für alles verwendet, was irgendwie einen Internetanschluss hatte oder versprach. Dafür gab es jede Menge Geld. Vor allem Banker und Börsenleute sangen das Lied der Neuen Wirtschaft, hinter der aber nur die alte Masche stand, schnell Kasse zu machen.

Nach dem Crash von 2000 wäre es an der Zeit gewesen, diese Situation gründlich und nüchtern zu analysieren und aus Fehlern zu lernen, stattdessen wurde die New Economy erst einmal totgesagt, weil das einfacher ist, als sich einer Innovation konstruktiv zuzuwenden.

Wertvolle Zeit verstrich, während die digitale Transformation weiterging und sich neue, bessere und funktionierende Geschäfte etablierten. Die Großen der Branche, Google und Facebook alias Meta, die heute unter anderem als Plattformen der Creator Economy dienen, entwickelten sich, während man sich in Europa mit Häme begnügte – und gern: „Das musste ja so kommen!“ rief, wenn gelegentlich jemand hinfiel.

Für die alte Welt und Wirtschaft bestanden und bestehen das Internet und die Digitalisierung nach wie vor aus L und O. Das sind keine guten Bedingungen für Transformation.

Damit das nicht falsch verstanden wird: Die sachliche Auseinandersetzung mit Experimenten und den Ursachen ihres Scheiterns ist wichtig. Der Publizist Sascha Lobo hat das bereits 2014 gefordert, als er im Zusammenhang mit den großen Platzhirschen Google, Facebook und Amazon vom „Plattform-Kapitalismus“ sprach, ein Begriff, der gern bemüht wird, wenn es um Häme und allgemeine Kapitalismuskritik geht, der allerdings nicht verstanden wurde. Wie Lobo bereits damals klarmachte – übrigens auch in einer furiosen Rede auf dem Branchen-Event Republica –, reicht es nicht, das Neue doof zu finden. Man muss es besser können.

Was man aber nicht verstehen will, kann man weder besser machen noch – auch so ein Aberglaube – amtlicherseits regulieren. Gute Regeln entstehen nicht durch Häme oder Mitleid, sondern durch Professionalität und Branchenkenntnis. Für Creators und Plattformen braucht es faire Provisionsmodelle, offene Marktzugänge und klare Kante, sprich: Sanktionen, wenn De-facto-Monopole den Wettbewerb be- oder gar verhindern.

Aber noch viel wichtiger wäre Einsicht bei all jenen, die an der Realität vorbeidenken. Die Creator Economy ist eine Alternative zu jener Form von Lohnarbeit, wie sie die Industriegesellschaft hervorgebracht hat – und die immer weniger Zukunft hat. Sie ist gleichsam eine Ökonomie der Alternativen, der Vielfalt und der Selbstbestimmung, auch wenn all dies sich erst abzeichnet. Aber das kennen wir schon von den Ls und Os und den Start-Abbrüchen am Anfang aller neuen Dinge: Es geht erratisch, fehlerbehaftet, nicht perfekt zu. Aber es ist eine Alternative für Menschen, die ihre Produkte, ihre Ideen, ihre Dienstleistungen und ihre Wünsche ins Netz bringen wollen.

Die Creator Economy ist, bei allen Defekten, Mängeln, Fehlern und zwielichtigen Influencerinnen und Influencern, die es natürlich auch gibt, eine weitere, wichtige Stufe auf dem langen Weg zu einer Ökonomie der Selbstbestimmung. Dazu war das Web immer gedacht.

Der Vordenker Paul Saffo hat in einem Gespräch mit dem Journalisten John Markoff von der »New York Times« (auf Youtube zu sehen) klargemacht, dass die Creator Economy die zeitgemäße Antwort auf die grundlegende Veränderung der Arbeitswelt in der digitalen Transformation ist. Veranstaltet wurde diese hellsichtige Session von der Long Now Foundation, zu deren Mitgründern ein gewisser Stewart Brand gehört – ein Mensch, der sich auf Geduld, Gleichmut und Transformation versteht.

Als zwischen Stanford und Los Angeles das erste L und O versandt wurde, im Jahr 1969, arbeitete Brand an der Blaupause des Geschäftsmodells, das die Creator Economy heute breit umsetzt. Brand war damals eine Ikone der Hippie-Bewegung. Der berühmte Tom Wolfe hatte ihn 1968 in seiner Essaysammlung „Der Electric Kool-Aid Acid Test“ porträtiert. Kurz darauf organisierte Stewart Brand das große Hippie-Treffen in San Francisco. Und danach entwickelte er seinen „Whole Earth Catalog“, ein Verzeichnis alternativer Läden, Produzenten und Dienstleister in Kalifornien (und später darüber hinaus).

Das war kein Almanach wie jeder andere. Er zeigte ganz bewusst, dass es eine andere Form von Wirtschaft und Unternehmertum neben der etablierten Vorstellung davon gab. Nicht perfekt, aber vorstellbar.

In seiner wohl berühmtesten Rede hat Apple-Mitgründer Steve Jobs im Jahr 2005 Brands Arbeit als den Motor seiner eigenen Bemühungen benannt, als sein großes Vorbild für das, was heute das wertvollste Unternehmen der Welt ist. Den Whole Earth Catalog nannte er „eine der Bibeln meiner Generation“, die vorwegnahm, was Google später einführen sollte: den Zugang zu Informationen, die gleichsam auch Zugang zu Märkten sind – Teilhabe.

Darum geht es. Brand hat recht gehabt, mit Geduld, mit Ausdauer. Als Jobs über all das sprach, auch schon wieder vor fast 17 Jahren, zitierte er die letzten Worte auf der Rückseite des Whole Earth Catalog von 1974, einer besonderen Ausgabe, nachdem Brand das regelmäßige Erscheinen 1972 vorerst hatte einstellen müssen. Danach erschienen drei weitere Bände, aber nur auf dem von 1974 stand, was Jobs den Studenten zurief: „Stay hungry. Stay foolish.“ Bleibt hungrig, also interessiert, neugierig, offen. Und bleibt auch ein bisschen naiv und töricht, denn Neues gibt es nur durch Versuch und Irrtum.

Genau das tut die Creator Economy, wie jeder Teil der Transformation, auch. Stewart Brand hat gesagt, dass „wir uns in die Zukunft voran irren, und gerade das Silicon Valley ist dabei brillant“. Wer wirklich an großen Erfolgen teilhaben wolle, der solle sich ein Projekt aussuchen, „das seit 20 Jahren scheitert – und darauf aufbauen“. Denn das habe sich bei allen großen Erfolgen der Digitalisierung bisher bewährt. Und klar. Häme ist leichter. Logout weniger Arbeit. Aber das wäre nun wirklich töricht, nein, sogar dumm. ---