Li Jin

Li Jin ist der Star der Creator-Economy-Bewegung. Mit Worten und Risikokapital kämpft sie für die Rechte von Online-Publizisten.





Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 03/2022.

• Am 8. Oktober 2019 erschien ein Text, den man als das Manifest der Creator Economy bezeichnen kann. Der Titel: „The Passion Economy and the Future of Work.“ Geschrieben hatte ihn eine Mitarbeiterin von Andreessen Horowitz, eine Wagniskapitalfirma mit Sitz im Silicon Valley. Ihren Namen kannte damals kaum jemand. Heute wird Li Jin als Vordenkerin verehrt. „Sie ist der Investor-Guru für Online-Creators“, überschrieb die »New York Times« im Herbst 2021 ein Porträt über die 31-Jährige, die im Alter von sechs Jahren mit ihrer Familie von China in die USA ausgewandert war.

Nach der Schule hatte sie in Harvard ein Englisch-Studium begonnen. Auf Druck der Eltern, denen finanzielle Sicherheit wichtig war, wechselte sie das Fach zu Statistik und absolvierte Praktika bei Banken. Mit 23 kam sie ins Silicon Valley, mit 26 zu Andreessen Horowitz.

In ihrem Text, der im Blog ihres Arbeitgebers veröffentlicht wurde und sogleich große Aufmerksamkeit in den sozialen Medien erregte, stellt Li Jin die These auf, dass jedes Individuum dank neuer Plattformen seine einzigartigen Fähigkeiten zu Geld machen könne. Dann analysiert sie, was die Passion Economy von der Gig Economy unterscheidet, jener Wirtschaftsform, die einst neue Freiheiten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer versprach, dann aber zunehmend für unterbezahlte Clickworker, Uber-Fahrer und Essenauslieferer stand. In der Gig Economy hangeln sich Menschen von Auftrag zu Auftrag, während die Passion Economy ein kontinuierliches Einkommen ermöglichen soll.

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Die Gig Economy verlangt laut Li Jin standardisierte Dienstleistungen, die Passion Economy hingegen fördere Individualität. Beide Wirtschaftsformen basieren auf Online-Plattformen, beide versprechen die Stärkung selbstständigen Unternehmertums. Doch die Rolle der Plattform, so hebt Li Jin hervor, sei völlig verschieden.

Ein Paradebeispiel der Gig Economy ist der Fahrdient Uber. Die Plattform bringt auf effiziente Weise Angebot und Nachfrage zusammen, sie ist der Mittler, der dem Fahrer Kunden zuführt und den Preis berechnet. Fahrer, die mehr verdienen wollen, müssen häufiger fahren. In der Passion Economy hingegen gebe es keinen solchen Intermediär, der Creator stehe in direktem Kontakt zu seinen Kunden. Wolle er seinen Umsatz vermehren, müsse er nicht unbedingt die Zahl seiner Arbeitsstunden erhöhen, sondern könne versuchen, seine Kundschaft auszuweiten, sodass mehr Menschen für das beste-hende Produkt zahlen. Die Plattform sei sein Dienstleister, nicht umgekehrt.

Als Li Jin das schrieb, gab es bereits Leute, die als Newsletter-Autorinnen, Podcast-Produzenten oder Lehrerinnen auf verschiedenen Plattformen erfolgreich waren. Sie hat die Creator Economy nicht erfunden, aber wie keine andere propagiert. Zunächst mit Texten, die das Potenzial dieser Art von Ökonomie aufzeigten und empfahlen, die oft belächelten Influencer und andere Publizistinnen auf Youtube oder Instagram als potenzielle Investitionsobjekte zu betrachten. „Sie hat die ganze Creator-Economy-Bewegung im Silicon Valley initiiert“, sagt Marina Mogilko, eine Youtuberin, die sich mit unterhaltsamem Englisch-Unterricht ein stattliches Publikum aufgebaut und daraus ein Geschäft gemacht hat.

Im Mai 2020 verließ Li Jin Andreesen Horowitz und machte sich selbstständig – mit einem eigenen Wagniskapital-Fonds (Atelier Ventures). Sie investiert ausschließlich in Unternehmen, deren Produkte und Dienstleistungen sie für geeignet hält, Creators zu fördern. Dazu gehören Pearpop (hilft Tiktok-Größen, Geld zu verdienen, indem Fans ermöglicht wird, gegen Bezahlung Duett-Videos mit ihren Idolen aufzunehmen), Stir (unterstützt Kreative bei der Verwaltung ihrer Finanzen) und Plattformen wie Substack und Patreon.

Inzwischen kämpft sie gegen die Plattformen

„Die Herausforderung in der heutigen Kreativwirtschaft besteht darin, dass Kreative reich an sozialem Kapital und arm an finanziellem Kapital sind“, sagt Li Jin. Das will sie ändern und setzt sich für die Rechte der Creators ein. Unter anderem befürwortet sie für deren finanzielle Absicherung ein Grundeinkommen für Kreative, ähnlich dem bedingungslosen Grundeinkommen, allerdings nicht staatlich finanziert, sondern von Plattformen wie Facebook, Twitter, Youtube & Co.

Ihr Ton hat sich in den vergangenen anderthalb Jahren verändert. Sie klingt weniger optimistisch, beklagt die prekäre Lage, in der sich ein Großteil der Menschen befindet, die in den sozialen Medien mit ihren Videos und Textbeiträgen zwar ein großes Publikum anziehen, aber kaum Geld verdienen. Im August 2021 veröffentlichte sie einen Newsletter-Beitrag mit dem Titel: „The creator economy is in crisis. Now let’s fix it.“ Darin zeigt sie die Parallelen zur Gig Economy auf: Die Plattformen der sozialen Medien hätten zu viel Macht, sie seien die Gatekeepers, die den Creators zwar den Zugang zu ihrem Publikum ermöglichten – sie aber so abhängig machten wie Uber seine Fahrer.

Li Jin kritisiert, dass die Plattformen Creators mit Geld anlocken und ihnen neue technische Funktionen an die Hand geben, die allesamt den Zweck hätten, sie an die Plattform zu binden. Umziehen, also ihren Marktplatz wechseln, könnten Creators nicht, ihre unternehmerische Freiheit sei daher stark eingeschränkt. Den Ausweg daraus sieht sie in der sogenannten Ownership Economy. „Stellt euch eine Welt vor, in der Facebook den Nutzern gehört“, sinniert sie in einem Beitrag für den »Economist«. Jedem gehöre dann ein Stück vom Kuchen, und die Nutzer entschieden selbst darüber, welche Daten gesammelt würden und wofür sie zum Einsatz kämen.

In dieser Welt wären die Creators unabhängig. Um das zu erreichen, propagiert Li Jin wortreich das sogenannte Web3, ein dezentrales, auf der Blockchain beruhendes Internet (siehe auch Glossar auf Seite 56). Sie ist zur Aktivistin geworden, aber keine, die politische Eingriffe fordert. Ihre Waffe ist Wagniskapital. Sie sagt: „Investieren ist für mich die Art und Weise, die Welt zu schaffen, wie ich sie sehen möchte.“

Im Herbst 2021 hat sie den Wagniskapitalfonds Variant gegründet, der in Firmen investiert, die die Ownership Economy vorantreiben: Mirror beispielsweise, eine dezentrale Publishing-Plattform, auf der Creators ihre digitalen Werke verkaufen können. Die Verfasserin eines Romans etwa kann dort erste Auszüge des Manuskriptes veröffentlichen und mit einem NFT (siehe Glossar) hinterlegen. Wie beim Crowdfunding können Unterstützer einen NFT-Anteil erwerben und werden so Mitbesitzer des Romans. Bezahlt wird in der Krypto-Währung Ether.

Li Jin fasziniert an diesem Konzept, dass es darin kein Machtzentrum gibt, keinen Vermittler oder Gatekeeper, sondern nur direkte Verbindungen. „Krypto-Netzwerke geben denjenigen Kontrolle, die sie nutzen.“

Es gibt Leute, die Li Jin aufgrund ihrer aktivistischen Attitüde für eine Sozialistin halten, zumal sie in Anlehnung an die Produktionsmittel im Werk von Karl Marx von Kreationsmitteln spricht. Aber anders als der Vordenker des Kommunismus will sie kein Eigentum vergesellschaften. Vielmehr stehen die Mittel, mit denen sie das Problem lösen will, ganz im Zeichen des Silicon-Valley-Kapitalismus: Wagniskapital und Technik. ---


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