Ran an die Konsole!

Wer sich entspannt neues Wissen aneignen will, sollte es mal mit Lernspielen versuchen.





• Biep – Biep – Biep – Biiiieeeep. Der durchgehende Ton eines EKG-Geräts, das den Herzstillstand signalisiert, ist ein alarmierendes Geräusch. Auch beim Spielen von „Asystole“ macht es nervös. Obwohl der Ton in diesem Fall nur anzeigt, dass die Zeit abgelaufen und die aktuelle Runde zu Ende ist.

Asystole ist ein Kartenspiel – der Timer kann im Netz heruntergeladen werden –, das Medizinstudierenden und jungen Ärztinnen und Ärzten Wissen vermitteln soll. Grob gesagt, funktioniert es wie eine Mischung aus Lern-Karteikarten und dem Klassiker „Tabu“. Die Spielenden schlüpfen abwechselnd in die Rolle von Patienten, die ihre Krankheit beschreiben müssen, ohne dabei eine Reihe von naheliegenden, aber verbotenen Wörtern zu benutzen. Bei Rheuma müssen sie also ohne Begriffe wie „Gelenke“, „Finger“ oder „Schmerzen“ auskommen (die meisten Krankheiten und Tabu-Begriffe sind freilich medizinisch komplexer). Je mehr Begriffe ein Team errät, bevor die Zeit abläuft und das Smartphone den EKG-Ton erklingen lässt, umso mehr Punkte bekommt es. Präzision und Schnelligkeit zählen – vor allem aber das, was nach der Partie hängen bleibt.

Dass Spiele das Lernen fördern können, ist seit Langem bekannt und wissenschaftlich nachgewiesen. So kam beispielsweise eine Metaanalyse von 39 Studien zu dem Ergebnis, dass digitale Spiele den Lernerfolg effektiver fördern als klassische Bildungsangebote und dafür sorgen, dass das Gelernte besser behalten wird. Trotzdem haftet ihnen – sei es analog mit Karten oder digital am PC oder an der Konsole – immer noch etwas Unseriöses an. Ganz nett vielleicht, aber mehr auch nicht.

Dabei birgt spielerischer Wissenserwerb großes Potenzial. Er kann gestresste Lehrkräfte entlasten, individualisiertes Lernen ermöglichen und für zusätzliche Motivation sorgen. Denn wenn das Aneignen neuer Fähigkeiten Spaß macht, taucht eine Frage niemals auf: „Und wofür sollen wir das später mal brauchen?“ In Deutschland sind Lernspiele nicht erst seit den Homeschooling-Tagen der Pandemie beliebt: In einer Umfrage der Online-Englischschule Novakid unter 10 000 Familien gaben 83 Prozent der Eltern an, dass ihre Kinder solche Games mögen.

Es gibt nicht nur Angebote für Schulkinder, sondern für verschiedenste Altersklassen und Ansprüche. Die Idee, mit Asystole ein Spiel zu entwickeln, dass angehenden Medizinerinnen und Medizinern das Lernen erleichtert, kam Johanna Ludwig und Sven Jungmann während ihres Studiums. „Wir haben uns im wahrsten Sinne des Wortes über einer Leiche kennengelernt“, sagt Ludwig. „Wir arbeiteten am Anatomietisch zusammen und stellten fest, dass wir im selben Dilemma steckten wie viele in diesem anspruchsvollen Fach: Wir wollten Zeit mit unseren Kommilitoninnen und Kommilitonen verbringen, hatten aber permanent ein schlechtes Gewissen, wenn wir uns nicht auf unsere Prüfungen vorbereiteten.“

Asystole (der Name leitet sich vom Fachbegriff für Herzstillstand ab) erlaubt beides. „Als wir das Spiel in einer frühen Version getestet haben, konnten wir beobachten, dass es der Runde nicht nur Spaß machte, sondern sich darüber zwanglose Gespräche über den Stoff ergaben“, so Ludwig. Inzwischen arbeitet sie als Unfallchirurgin in einem Berliner Krankenhaus, ist ehrenamtlich für die Ärztekammer tätig und bewertet für eine große Stiftung Gesundheits-Apps.

Die medizinische Aus- und Weiterbildung zu verändern ist ihr ebenso ein Anliegen wie Sven Jungmann, der sich inzwischen beruflich mit Gesundheits-Start-ups beschäftigt. „Ich bin fest davon überzeugt, dass sich unsere Art zu lernen ebenso verändern wird wie unsere Kommunikation“, sagt Ludwig. „Früher hat man sich hingesetzt und in aller Ruhe einen Brief geschrieben. Heute schickt man je nach Anlass eine Mail, eine Sprachnachricht oder ein kurzes Video. Auch das Lernen wird flexibler und spielerischer werden und sich in unseren Alltag integrieren, statt nur aus einsamem Pauken zu bestehen.“

Einer der großen Vorteile von Lernspielen ist, dass sie Leistungsdruck und die Angst, Fehler zu machen, reduzieren können. Es gehört bei Spielen zum Konzept, zu scheitern und es erneut zu versuchen, die Strategie zu ändern, sich nach und nach zu steigern – oder auch anerkennen zu müssen, dass jemand anderes besser ist. „Leider geht es im Schulunterricht immer noch viel zu oft um das Endprodukt, also die Note, statt um den Prozess des Lernens. Dabei ist genauso wichtig, wie man Wissen erwirbt, Zusammenhänge versteht und Probleme löst“, sagt Dagmar Wolf, Bereichsleiterin Bildung bei der Robert Bosch Stiftung. „Wir müssen uns mehr um den Prozess kümmern. Dazu gehören auch Herumprobieren und Scheitern – und dabei können Lernspiele einen wertvollen Beitrag leisten.“

Fünf Lernspiele für Kinder und Erwachsene

Minecraft
In dem Bauklötzchenuniversum ist alles möglich: zum Beispiel Welten, die von Schülerinnen und Schülern gemeinsam mit Lehrkräften gebaut wurden und in denen erneuerbare Energien, das Leben der Bienen oder Architektur behandelt werden. Auch die Internationale Raumstation ISS wurde nachgebaut und lässt sich virtuell erkunden.

Orwell
spielt in einer Gesellschaft, in der der Staat Zugriff auf die Kommunikation und die privaten Daten seiner Bürgerinnen und Bürger hat. Man schlüpft in die Rolle eines Ermittlers, der die Drahtzieher eines Bombenanschlags ausfindig machen muss. Dabei gilt es permanent, zwischen Datenschutz und der öffentlichen Sicherheit abzuwägen.

CodinGame
Eine Trainingsplattform, auf der man spielerisch Programmiersprachen wie Java, Swift oder C++ lernen kann. Ranglisten und die Möglichkeit, gegen Freunde anzutreten, sollen den Anreiz erhöhen. Firmen bietet die Plattform die Möglichkeit, gezielt nach Menschen mit den benötigten Fähigkeiten für eine offene Stelle zu suchen.

Assassin’s Creed (Entdeckermodus)
In der Spielreihe „Assassin’s Creed“ kämpft man sich seit 2007 durch verschiedene Epochen – und das relativ blutig. In der Folge „Origins“, die im alten Ägypten spielt, gibt es erstmals einen Lernmodus: Ohne Zeitdruck und Gewalt kann man Pyramiden erkunden und sich über ägyptische Handwerkstechniken und Rituale informieren – alles erstellt von Fachhistorikern im Auftrag des Spieleherstellers Ubisoft. Auch die Folgen „Odyssey“ (antikes Griechenland) und „Valhalla“ (Wikinger) haben einen friedlichen Erkundungsmodus.

Rocksmith+
Während man bei „Guitar Hero“ auf einer Plastikgitarre herumschrubbt, benötigt man für „Rocksmith“ mehr Geduld und Fingerspitzengefühl – und eine echte Gitarre. Mithilfe eines speziellen Kabels wird diese an den PC oder die Spielekonsole gekoppelt, und man kann Schritt für Schritt Tonleitern und Akkorde üben, Zupftechniken lernen oder ganze Songs einstudieren.

Was ein gutes Spiel ausmacht

James Paul Gee, ein emeritierter amerikanischer Linguistikprofessor, hat sich wie kaum ein anderer mit der Wechselwirkung von Spielen und Lernen beschäftigt. In seinem Aufsatz „Good Video Games and Good Learning“ beschreibt er, wie er Anfang der 2000er-Jahre durch seinen damals sechsjährigen Sohn Sam erstmals in Kontakt mit Videospielen kam, den positiven Effekt bei seinem Sohn sah und sich selbst ein Spiel kaufte. Es war „schwierig, langwierig und komplex. Ich scheiterte oft. (…) Ich merkte, wie ich Lernmuskeln benutzte, die ich seit meinem Studium der theoretischen Linguistik nicht mehr so stark beansprucht hatte“, schreibt Gee. „Und während ich mich abmühte, kam es mir in den Sinn: Viele junge Menschen geben Geld für Spiele aus – also für etwas, das schwer, langwierig und komplex ist. Als Pädagoge wurde mir klar, dass dies genau das Problem ist, vor dem unsere Schulen stehen: Wie bringt man jemanden dazu, etwas Schwieriges, Langwieriges und Komplexes zu lernen – und trotzdem Spaß dabei zu haben?“

Gee widmete seine weitere Karriere dem Thema und stellte Kriterien auf, die sinnvolle und gute Lernspiele ausmachen. Etwa dass sie einen in eine neue Identität schlüpfen lassen und Interaktion und Kreativität ermöglichen. Oder dass sie sich den Spielenden anpassen, sie herausfordern und ihnen gleichzeitig ein Gefühl von Eigenverantwortung geben.

Auch Dagmar Wolf ist vom Potenzial digitaler Lernspiele überzeugt: „Computer, Smartphones oder Tablets haben eine starke Anziehungskraft auf Schülerinnen und Schüler“, sagt sie. Gut gemachte Lernspiele könnten sie motivieren, sich mit einer Sache auch über einen längeren Zeitabschnitt auseinanderzusetzen. Das funktioniert auch bei Erwachsenen. Apps wie „Duolingo“, mit denen man eine neue Sprache lernen kann, setzen auf Gaming-Elemente, um das Einprägen von Vokabeln und Grammatik kurzweiliger zu gestalten. Wer Lektionen absolviert oder sich über einen gewissen Zeitraum täglich einloggt und Spanisch oder Koreanisch übt, erhält Auszeichnungen und eine Spielwährung, mit der man seine Spielfigur individualisiert kleiden kann. „Yousician“, wo man lernen kann, Gitarre zu spielen, oder „SoloLearn“, eine Programmier-LernApp, gehen ähnlich vor.

„Was Spiele von anderen Medien unterscheidet, ist die Interaktivität“, sagt Jens Bahr, der mit seiner Firma Off the beaten track in Kiel Lernspiele entwickelt. „Ich kann Entscheidungen treffen, Figuren steuern, das Geschehen beeinflussen. Bei guten Spielen lernt man nach und nach Dinge dazu und wendet vorher Gelerntes an. Man hat die Möglichkeit, verschiedene Strategien durchzuspielen und zu sehen, welche besser funktionieren. Dadurch sammelt man Erfahrungen und wendet Wissen an.“

Ein Spiel, das Bahr und sein Team veröffentlicht haben, heißt „Musiculum“. Kinder ab acht Jahren können darin verschiedene Instrumente kennenlernen. Begleitet werden sie dabei von dem tollpatschigen Elefanten Bombastico, dem chaotischen Affen Fragmento und dem neugierigen Papagei-Mädchen Glissandra. Spielerisch wird nicht nur vermittelt, wie welches Instrument klingt, sondern auch, wie es funktioniert, wie die Töne entstehen und welche Rolle ein Instrument im Zusammenspiel mit anderen übernimmt. „Es ist kein Spiel, das einem beibringt, wie man Klavier spielt“, sagt Bahr. „Sondern eher eines, das einen an unterschiedliche Instrumente heranführt, um idealerweise herauszufinden, ob man lieber Klavier oder Schlagzeug lernen möchte.“ Beim Kindersoftware-Preis Tommi, der Ende Oktober verliehen wird, ist das Spiel in den Kategorien Bildung und Apps nominiert.

Aktuell entwickelt Jens Bahr mit der Hochschule Frankfurt eines mit ernstem Hintergrund: „Fallbeispiel Thomas“ soll im Studium der sozialen Arbeit eingesetzt werden. Es erzählt die wahre Geschichte von Thomas, der als Kind misshandelt wurde und erst im Heim und dann in Pflegefamilien lebt. „Das ist kein Spiel mit Levels und Highscores, sondern eine interaktive Geschichte“, sagt Bahr. „Anhand dieser sollen Studierende gelingenden Kinderschutz kennenlernen und Empathie einüben.“ Statt fern der Praxis die Gesetzeslage, Theorien und Methoden der sozialen Arbeit zu studieren, nehmen Studierende im Spiel selbst die Rolle als Fachkraft im Jugendamt ein. Sie führen Dialoge mit dem Kind und anderen Fallbeteiligten, wenden Gesetze an und treffen fachliche Entscheidungen. Sie dürfen auch Fehler machen und erhalten Anregungen zur Reflektion. „An einer Stelle geht es zum Beispiel darum, ein Heim für Thomas auszuwählen“, sagt Bahr. „Diese haben unterschiedlich gut geeignete pädagogische Konzepte. Statt zu sagen, ‚Das sind drei Kriterien für gute Heime, lern die für die Klausur auswendig‘, setzen wir in dem Spiel eher auf fachliches Feedback zur Reflektion eigener Einschätzungen und Entscheidungen.“

Ein Vorwurf, der Lernspielen gelegentlich gemacht wird, ist, dass es dabei vor allem um Punkte oder Highscores gehe. Das wirkliche Interesse am Stoff bliebe auf der Strecke. Jens Bahr hält diese Sorge für unbegründet: „Selbst wenn es am Anfang nur eine Begeisterung für das Medium ist, kann daraus eine Begeisterung für die Inhalte entstehen.“ Er selbst habe beispielsweise mit der Jogging-App „Zombies, Run!“ das Laufen für sich entdeckt. Bei dieser App hört man während des Joggens ein Hörspiel, sammelt virtuelle Gegenstände ein und muss alle paar Minuten einen realen Sprint einlegen, um imaginären Zombies zu entkommen. „Anfangs stand das Spiel im Vordergrund, und ich nutzte es, um meinen inneren Schweinehund zu überwinden“, sagt er. „Aber nach einer Weile fand ich tatsächlich Spaß am Laufen.“

Auch Dagmar Wolf von der Bosch-Stiftung kann mit dem Vorwurf wenig anfangen: „Es wäre schön, wenn alle Menschen zu hundert Prozent intrinsisch motiviert wären zu lernen“, sagt sie lachend. „Aber wer sich an die eigene Schulzeit erinnert, der weiß, dass dem nicht so ist. Von den absoluten Lieblingsfächern abgesehen, waren es da schon meistens die Klassenarbeiten, die einen ans Lernen gebracht haben und nicht das pure Interesse am Lehrstoff, oder?“ ---