Prinzip Kindergarten

Niemand weiß, welches Wissen wir im kommenden Jahrzehnt benötigen, um die Probleme dieser Welt zu lösen. Was also sollen wir lernen?





• Die Kasseler Innenstadt ist an diesem Nachmittag wie aus-gestorben. In der Wilhelmsstraße kann man das Siechtum des Einzelhandels studieren – oder kosmischen Elementarteilchen lauschen.

Ausgerechnet ein ehemaliges Bettengeschäft haben sich ein pensionierter Physiklehrer und ein Investor ausgesucht, um das Land pädagogisch voranzubringen. Im Eingangsbereich der Ladenfläche, eingerichtet als gemütliche Lounge, piept ein Synthesizer. Das Instrument ist mit einem Detektor für kosmische Myonen verbunden und wandelt die eingefangenen Teilchen in Töne um.

Die Installation ist ein gutes Beispiel für das, was Klaus-Peter Haupt – er lässt sich von allen nur „KP“ nennen – als Revolution im Bildungswesen bezeichnet. Eine Graswurzelbewegung für neues Lernen, das soll dieser Futurespace sein. Der kleine Physiklehrer mit zotteligem weißem Haar hat mit solchen Dingen schon Erfahrung.


Mars-Rover: Schülerinnen und Schüler der Jacob-Grimm-Schule in Kassel lernen im Futurespace durch Experimente


Kosmische Teilchen, die zu Musik werden (rechts), lehren sie zudem einiges über Physik

Der Astrophysiker konnte sich nach dem Studium mit der Welt der Wissenschaft nicht recht anfreunden, studierte daher noch Mathematik auf Lehramt und wechselte in den Schuldienst. Er wollte Schüler zum Denken anstiften. Nicht dem ewigen Kreislauf folgen von Hausaufgaben besprechen, neuen Stoff lehren, Hausaufgaben aufgeben. In seinem Unterricht drehten die Gymnasiasten auch mal Spielfilme. Er gründete einen Physikclub, später Clubs für andere Fächer. Daraus entstand das Kasseler Schülerforschungszentrum Nordhessen, in dem heute rund 400 Schülerinnen und Schüler in ihrer Freizeit forschen. Klaus-Peter Haupt sagt: „Was Menschen am meisten motiviert, ist doch, etwas zu schaffen, das es vorher noch nicht gab.“ Eigentlich wäre er längst in Rente – dann kam aber diese Idee mit dem Futurespace.

Der pensionierte Lehrer gehört zu jenen Menschen, die sich mit dem Problem beschäftigen, dass viele Jobs, in denen wir in zehn oder zwanzig Jahren arbeiten, noch nicht existieren. Was wir dafür also wissen sollten? Ungewiss. Aber was wir können sollten, liegt auf der Hand: denken.

Das mag banal klingen, ist es aber nicht. Zumindest nicht in einem Bildungswesen, das Köpfe nach Lehrplan füllt, statt sie zu stimulieren. Das Wissen abfragt, statt es anzuwenden. Gute Schüler und Studentinnen können heute nicht selten vor allem gut auswendig lernen.

Physik lernen mit Musik

Den Teilchendetektor im Futurespace konstruierte ein ehemaliger Schüler von KP. Die Sound-Installation steuerte ein Künstler bei. Das Gebilde gehört zum Projekt Physik und Musik. Beim Klang des Synthesizers lernt man etwas über die Relativität von Zeit. Ein Myon zerfällt nach kaum zwei Mikrosekunden, das sind zwei Millionstel Sekunden. „Sie entstehen aber in der Atmosphäre zehn Kilometer über der Erdoberfläche“, erklärt Haupt den Kindern. Dass sie es in dieser Zeit von da oben bis in die Wilhelmsstraße 2 in Kassel schaffen, liege an der Relativität von Zeit. „Die Dinger sind so schnell unterwegs, dass Zeit für sie langsamer als für uns vergeht.“


„KP“: So nennt sich der Kasseler Mathematik-, Physik- und Philosophielehrer Klaus-Peter Haupt. Auch im Ruhestand arbeitet er weiter an unkonventionellen Lernkonzepten

Das könnte ein Lehrer seinen Schülern auch in einem Klassenraum erklären, so wird es ja auch üblicherweise gemacht – nur ist die Frage, ob das noch reicht, um Menschen für die Zukunft fit zu machen. Lukasz Gadowski bezweifelt das. Der ehemalige Schüler von KP, Gründer von Spreadshirt sowie Mitgründer von StudiVZ und Delivery Hero, investiert heute in Flugtaxis, saubere Energien, Fleisch aus dem Labor und in den Futurespace in Kassel. Er sagt: „Wir erleben immer wieder Bewerber, die auf den Zeugnissen nur Einser haben. Im Gespräch merkt man dann: Die können gar nicht kreativ denken.“

Vor fast 30 Jahren entwickelte Mazur die sogenannte Peer Instruction. Dabei erarbeiten sich Studentinnen und Studenten in Vorlesungen das Wissen gruppenweise selbst. Mazur lebt in Lincoln, Massachusetts, beschäftigt sich noch immer mit seinem Lebensthema Pädagogik und redet sich dabei schnell in Rage.

brand eins: Wie sieht Ihr Unterricht heute aus, Herr Mazur?

Eric Mazur: Ich sage den Leuten, die meine Vorlesungen besuchen wollen, immer: ‚Ihr werdet denken, ich lehre in einem Kindergarten.‘

Wieso das?

In meinen Kursen herrscht Chaos, es ist laut und ein heilloses Durcheinander. Meine Studenten arbeiten in Gruppen und lösen gemeinsam relevante Probleme.

Und was machen Sie?

Ich bin Coach, Moderator, ich begleite und motiviere sie. Außerdem stelle ich maximal vielfältige Lerngruppen zusammen – von der Lernleistung über die Herkunft bis hin zu eigenen Interessen.

Setzen Sie immer noch auf das Konzept der Peer Instruction?

Es funktioniert immer noch sehr gut. Aber ich habe gelernt, dass die entscheidende Frage nicht ist, wie wir Bildung vermitteln, sondern wie wir sie bewerten.

Das heißt?

Die Universität verlangt von mir, dass ich meine Studenten am Ende des Kurses mit einer Zahl bewerte. Ich gebe aber keine Noten mehr. Bei mir erhält zudem jeder eine zweite Chance und darf eine Arbeit noch mal korrigieren. Die Kursteilnehmer lösen Aufgaben im Team und können dafür alle Informationsquellen nutzen. Das entspricht der Realität, in der die Absolventen später arbeiten werden.

Wenn Sie keine Noten geben, wie bewerten Sie dann?

Ich liefere ein Narrativ. Der Student arbeitet gut mit seinen Kommilitoninnen und Kommilitonen zusammen, sein Wissen im Feld X wendet er gut an, auf dem Gebiet Y braucht er oder sie noch mehr Grundlagenwissen und so weiter.

Ihr Konzept wenden auch Unternehmen an.

Ja, vor allem in der Ölindustrie, der Luftfahrt und dem Ge-sundheitswesen. Auch dort gibt es Situationen, für die man das richtige Verhalten nicht lernen kann, sondern gemeinsam nachdenken muss, um eine Lösung zu finden.

Für Fälle, die nicht in dicken Handbüchern beschrieben sind?

Für Herausforderungen, die wir nicht kennen, bevor wir vor ihnen stehen. Ich denke mir reale Szenarien aus, für die es nicht die eine richtige Antwort gibt, und präsentiere den Teilnehmern mehrere Möglichkeiten zu reagieren. Dann trifft jede und jeder eine Wahl, und ich bitte sie, diese Entscheidungen zu begründen. Anschließend versuchen sich die Teilnehmer gegenseitig von ihren Ansätzen zu überzeugen. So werden Denken und Entscheiden verknüpft.

Welche Kompetenzen erfordert so ein Vorgehen?

Vor allem Teamfähigkeit. Was nützt Ihnen der beste Ingenieur, wenn niemand mit ihm arbeiten mag? Es gibt bei dem Thema übrigens einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Wirtschaft und Bildungswesen.

Welcher ist das?

In der Wirtschaft kennen wir meist das erwünschte Ergebnis, aber nicht den Weg dahin. Den müssen wir entdecken. An der Universität und in den Schulen ist das umgekehrt: Der Weg ist vorgeschrieben, das Ergebnis unbekannt. Wir bewerten, ob das Ergebnis richtig ist – sollten aber vielmehr den gewählten Weg evaluieren.


Wie bestimme ich DNA? Das erklärt Heike Ziegler, Futurespace-Mitarbeiterin, einem Kasseler Biologie-Leistungskurs

Gilt das auch für Universitäten?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein Kollege hat mal ein ganzes Semester lang sämtliche Phänomene der physikalischen Mechanik am Beispiel von Baseball erklärt. Eine schöne Idee eigentlich, Baseball ist voll von Physik. Zum Ende des Semesters sind ihm aber die Fragen ausgegangen, für die Prüfung nahm er ein Beispiel aus dem Football. Die Studenten gingen auf die Barrikaden, beklagten, dass sie Football im Unterricht gar nicht behandelt hätten. Das passiert, wenn man das Denken verlernt.

Was ist für Sie das ideale Lernkonzept?

Ich würde meinen Studenten ein Problem und ein Budget geben – dann sollen sie es lösen.

Lasst die Schüler frei …

Das Sender-Empfänger-Prinzip ist in der modernen Pädagogik längst passé. Schülerinnen und Schüler sind nicht mehr Trichter, in die Wissen zu füllen ist, sondern werden befähigt, sich dieses unter Anleitung gemeinsam zu erarbeiten. Dafür ist Freiraum wichtig: gedanklich, aber auch im räumlichen Sinne. Der Klassenraum eignet sich zum Lernen nur bedingt.

Die Hellerup School in einem Vorort Kopenhagens hat ihre Klassenräume 2018 daher komplett abgeschafft. 650 Schülerinnen und Schüler bewegen sich seitdem in einem buchstäblich freien Raum, mäandern zwischen Lern- und Aufenthaltsinseln, ein munteres Durcheinander. Dieses Konzept erlaubt aktives Lernen: Dinge sollen nicht nur mit dem Kopf begriffen werden, sondern auch mit den Händen. Eine Werkbank ist oft die bessere Schulbank, vor allem dann, wenn Schülerinnen und Schüler Werkzeuge frei nutzen, wann immer sie wollen.

Die Nuvu School in den USA hat die Klassenräume gegen sogenannte Studios getauscht, die im Zwei-Wochen-Rhythmus neu gestaltet werden, abhängig von den Projekten – etwa zur Zukunft der Städte –, die die Schüler dort umsetzen. Am Ende präsentieren sie ihre Ergebnisse.

Auch die Fächergrenzen erodieren. Das finnische Bildungssystem arbeitet seit 2020 mit einem neuen Curriculum, das zwar nicht die Fächer abschafft – das Wissen aber ungehindert durch die Disziplinen fließen lässt. „Poikki opetussuunnitelma“ heißt das schöne Wort für „schulfachübergreifend“.


Lukasz Gadowski hat mit seinem ehemaligen Lehrer Klaus-Peter Haupt den Futurespace entwickelt und zum Teil finanziert

Deutschland ist bei der Entwicklung neuer Lernkonzepte nicht gerade ein Vorreiter, der Lehrplan ist hierzulande oft ein schwer zu überwindendes Hindernis. Immer mehr Schulen schaffen es aber zumindest, blockweise Zeiten für freie Projekte einzurichten, in denen Schülerinnen und Schüler an eigenen Themen arbeiten.

Der Futurespace in Kassel ist nach diesen Ansätzen ausgerichtet. Schulklassen aus der Stadt und Umgebung besuchen Kurse wie „Der genetische Fingerabdruck“ oder „Physik und Musik“. Für Grundschülerinnen und Grundschüler gibt es Formate zu Magnetismus oder Elektrizität – Angebote, für die in Schulen Zeit, Technik oder Know-how fehlen. Um etwa genetische Fingerabdrücke zu erstellen, braucht es ein PCR-Gerät. Auch unterschiedlich aufgebaute Orgelpfeifen, mit denen man den Geheimnissen der Schallausbreitung auf die Schliche kommen kann, gehören nicht zur Grundausstattung einer Schule.

… und regt sie zum Experimentieren an

Die Schüler treffen die Lehrer vor den Kursen in der Lounge, erhalten einen ersten Input, dann wechseln sie in Gruppen zu den verschiedenen Lerninseln, um eigenständig zu arbeiten. Beim genetischen Fingerabdruck zum Beispiel entnehmen sie selbst Proben ihrer Mundschleimhaut, isolieren unter Anleitung ihre DNA und sequenzieren sie. Der genetische Fingerabdruck steht für hessische Abiturklassen sogar im Lehrplan – nur fehlen in den Schulen dafür oft Technik und Wissen.

Im Futurespace mikroskopieren Kinder auch Muschelkrebse oder Wasserflöhe, experimentieren mit Halbleitern oder Solartechnik. Zwischendurch tauschen sie sich mit ihren Lehrerinnen und Lehrern aus, erhalten weitere Anregungen – und ganz zum Schluss noch etwas „Wissen to go“. Die Betreiber der Einrichtung wollen das Equipment der Lerninseln künftig auch Schulen zur Verfügung stellen, damit die Experimente auch dort gemacht werden können.

Im Mai 2021 haben Klaus-Peter Haupt und Lukasz Gadowski das Konzept für den Futurespace entwickelt, im September eine gemeinnützige GmbH gegründet und im November die Räume gemietet. Im Juni dieses Jahres wurde der Futurespace eröffnet. Er wird unter anderem durch Spenden und Geld von Gadowski finanziert. „Mit einer Förderung durch öffentliche Töpfe wäre dieses Tempo nicht umsetzbar gewesen“, sagt Haupt. Er ist Geschäftsführer, Gadowski fungiert als Gesellschafter. Inzwischen arbeiten mehr als ein Dutzend Menschen in der Einrichtung – vier Festangestellte, Minijobber, Praktikanten. Die meisten sind ehemalige Schüler von KP.

Esther Wojcicki, 81, lebt und arbeitet als Autorin und Pädagogin in Kalifornien. Sie schloss unter anderem drei Hochschulstudien ab, leitete das Journalismusprogramm der Palo Alto Highschool (als erste Amtshandlung soll sie sämtliche Lehrbücher weggeworfen haben) und ist Mutter dreier außergewöhnlich erfolgreicher Töchter: Susan leitet das Unternehmen Youtube, Anne gründete das Biotech-Unternehmen 23andMe und Janet ist eine erfolgreiche Wissenschaftlerin. Esther Wojcicki stammt aus ärmlichen Verhältnissen und ist ein Kind russischer Migranten. Ihr Buch „How to raise successful people“ wurde ein Bestseller. Heute berät sie Konzerne wie Google und setzt sich an Schulen für neue Bildungskonzepte ein.

brand eins: Was stimmt nicht mit den Schulen, Frau Wojcicki?

Esther Wojcicki: Schauen Sie auf die Führungsetagen der großen Konzerne: Fast jeder erfolgreiche Unternehmer war ein schlechter Schüler. Elon Musk, Steve Jobs – die Liste ist endlos, sie alle hatten Probleme in der Schule.

Wieso?

Weil sie denken, weil sie hinterfragen, weil sie stören.

Wie ließe sich das ändern?

Wir arbeiten derzeit an einer Initiative, mit der wir erreichen wollen, dass Schülerinnen und Schüler in den USA 20 Prozent der Unterrichtszeit für freie Projekte nutzen können.

Sie sind auch Mitentwicklerin von Tract, einer Plattform, auf der Kinder für Kinder Lehrmaterial produzieren und teilen. Mit Elementen aus Computerspielen wie „Minecraft“ erklären sie zum Beispiel die Große Depression im Jahr 1929 und laden zum Online-Workshop ein zu der Frage, wie man heute mit den Erfahrungen von damals ein krisenfestes Unternehmen aufbauen sollte.

Auf diese Weise lernen Kinder, selbstständig zu denken. Das Material ist für Kinder und Jugendliche – aber es richtet sich auch an Lehrer, die es in ihrem Unterricht einsetzen können.

Nicht nur Schulen, auch Firmen stellt es vor große Herausforderungen, dass wir die Berufe von morgen noch nicht kennen. Was tut Ihr Kunde Google dagegen?

Eine Dell-Studie aus dem Jahr 2017 schätzt, dass 85 Prozent der Jobs im Jahr 2030 heute noch nicht existieren. Google bietet über eine eigene Akademie weltweit Online-Karrierekurse an, um Beschäftigte und andere Interessierte fit für Techniken in künftigen Wachstumsfeldern zu machen. Bis zu 400 000 Menschen will die Firma so in neue, besser bezahlte Jobs führen.

Welche Kompetenzen zählen in Zukunft?

Nicht zuerst Fachwissen. Soziale und emotionale Intelligenz bestimmen die Arbeit der Zukunft. Erwachsenen ist das leider nur noch bedingt beizubringen, die Grundlagen müssen bei den Kindern gelegt werden.

Große Pläne in Kassel

Der Futurespace, so sagen es KP und Lukasz Gadowski, soll Lehrkräfte motivieren, ihren Unterricht zu verändern. Die Graswurzel-Revolution soll nicht gegen, sondern mit den Schulen gelingen. „Wir wollen mit dem Futurespace die Bildung ein kleines Stück besser machen“, sagt Gadowski, „das Angebot verbessern und neue Freiräume eröffnen.“

Gegenüber vom ehemaligen Bettengeschäft steht in der Wilhelmsstraße noch ein altes Modegeschäft leer. Die beiden überlegen, hier eine Art Ausstellungsraum einzurichten, voll mit zukunftsweisenden Techniken zum Anfassen und Ausprobieren. Ebenso soll die Idee des Futurespace als Franchise weitere Verbreitung in Deutschland finden. Da ist Gadowski Unternehmer: „Wenn eine Idee funktioniert, will man auch expandieren.“ ---

Wa masterclass 01

Im Artikel sind sich unsere Autoren einig: soziale und emotionale Intelligenz bestimmen die Arbeit der Zukunft, doch dies ist Erwachsenen leider nur noch bedingt beizubringen. In unserer Masterclass „Versuch macht klug. Probleme in Organisationen mit smarten Experimenten lösen“ wollen wir das Gegenteil beweisen.

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