Was wäre, wenn …

… es keine Patente auf Corona-Impfstoffe gäbe?

Ein Szenario.





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• Der bisherige Rekord für die Entwicklung eines Impfstoffes lag bei vier Jahren: So lange hatte es in den Sechzigerjahren gedauert, ein Vakzin gegen Mumps zu entwickeln. Lange blieb dieser Rekord unangetastet. Nun hat ihn die Pharmabranche durch die rasante Entwicklung gleich mehrerer Impfstoffe gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 geradezu pulverisiert.

Doch auf die große Erleichterung folgte erst mal Enttäuschung. Die Produktion geht nur schleppend voran, es gibt zu wenig Impfdosen, außerdem wird Kritik am Patentsystem laut: Es verknappe die Kapazitäten zur Herstellung, kommerzielle Interessen seien für die Pharmafirmen wichtiger, als möglichst viel zu produzieren. Doch was wäre, wenn man die Patente für die verschiedenen Corona-Impfstoffe aufhöbe?

Patente dienen normalerweise dazu, Menschen oder Unternehmen zu erlauben, ihre Erfindungen für einen gewissen Zeitraum exklusiv zu verwerten. Dazu zählt die Herstellung von Produkten oder der Verkauf von Lizenzen, die anderen Firmen die Nutzung des geistigen Eigentums erlaubt.

Der Patentschutz soll Anreize schaffen, in Forschung und Entwicklung zu investieren und dabei Flops zu riskieren, die bei der Arbeit an Neuerungen nun mal dazugehören. Würden also keine Patente auf die verschiedenen Corona-Impfstoffe gewährt oder diese zwangsweise freigegeben, wäre das eine Strafe für die innovativen Firmen, argumentieren Vertreter der Pharmabranche. Auch sei fraglich, so Thomas Cueni, Generaldirektor des Internationalen Pharmaverbands, ob diese in Zukunft wieder zu einer solchen „außerordentlichen Leistung“ bereit wären.

Allerdings war die Aussicht auf Patente für viele Pharmaunternehmen gar nicht der ausschlaggebende Grund, sich an die Erforschung eines Impfstoffs zu machen. „Die meisten großen Unternehmen zeigten erst Interesse, als ihnen die Politik Fördergelder zusagte“, sagt Ellen t’Hoen, Juristin und Patent-Expertin an der Universität Groningen. „Doch wenn die Steuerzahler einen großen Teil des Risikos für die Entwicklungsarbeit tragen, warum sollten dann die Firmen mit den Patenten die Profite abschöpfen dürfen?“

Die Bundesregierung hat drei Pharmafirmen mit insgesamt 750 Millionen Euro unterstützt, weltweit flossen 7,4 Milliarden Euro Fördergelder. Außerdem erfolgt ein Großteil der jahrzehntelangen Grundlagen- forschung, auf denen die mRNA-Impfstoffe aufbauen, an öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen – auch da trug die Allgemeinheit das Risiko mit.

Hersteller wie Johnson & Johnson und AstraZeneca geben ihre Impfstoffe zum Selbstkostenpreis ab, der ihnen zufolge bei drei bis fünf Dollar liegt. Doch so handhaben das nicht alle Firmen: Pfizer beispielsweise, Kooperationspartner der deutschen Firma Biontech, hat der US-Regierung 100 Millionen Impfdosen zum Preis von je 19,50 Dollar zugesagt. Das erste Angebot an die Europäische Union soll laut geleakter E-Mails bei 54 Euro gelegen haben, also bei fast dem Dreifachen. Das streitet der Biontech-Gründer Uğur Şahin jedoch ab.

Die US-Bank Morgan Stanley schätzt, dass Pfizer und Biontech dieses Jahr gemeinsam 13 Milliarden Dollar Umsatz mit dem Impfstoff machen werden. Wie viel die Entwicklung eines Vakzins kostet, lässt sich schwer beziffern, da viel Grundlagenforschung einfließt. Einer Überblicksstudie im Fachblatt »The Lancet« zufolge liegen die Kosten von den ersten präklinischen Tests bis zur Teststufe 2a (erste Tests zu Dosierung und Wirksamkeit an Menschen) bei 31 bis 68 Millionen Dollar. Rechnet man die durchschnittliche Zahl von Fehlschlägen mit ein, steigen die Kosten auf bis zu 469 Millionen Dollar.

Würde eine Abschaffung der Patente dafür sorgen, dass schneller mehr Menschen geimpft werden? Ellen t’Hoen glaubt das nicht. „Gewöhnliche Medikamente lassen sich meist relativ einfach und schnell nachahmen“, sagt sie. „Sobald man das Patent lizenziert, kann man also mit der Produktion loslegen.“ Bei Impfstoffen sei das schwieriger, denn diese würden aufwendig mithilfe lebender Organismen gezüchtet. „Eine Firma bräuchte also neben der Erlaubnis in Form der Patent-Lizenz auch das detaillierte Know-how und die verwendeten Zelllinien, um selbst den Impfstoff herstellen zu können.“ Aus diesem Grund ist auch die Aussage der Pharmafirma Moderna, nicht auf seinen Patenten zu beharren, kein Akt grenzenloser Großzügigkeit.

Kooperationen wie die zwischen dem französischen Unternehmen Sanofi und Pfizer /Biontech sollen dazu beitragen, die Impfstoffproduktion zu beschleunigen, brauchen jedoch auch eine gewisse Zeit, um anzulaufen. Um mehr Firmen in die Lage zu versetzen, bei der Herstellung der Mittel zu helfen, wäre ein frühzeitig geschaffener Pool ideal, über den diese Zugriff auf das nötige Wissen – darunter auch Patente – für die Impfstoffproduk-tion hätten. Die Weltgesundheitsorganisation hat mit dem „Covid-19 Technology Access Pool“ bereits im Mai 2020 eine solche Sammelstelle geschaffen. „Nur leider hat sich bislang kein einziges Pharma-unternehmen daran beteiligt“, so t’Hoen.

Dass ein Impfstoff nicht nur vor der Krankheit schützt, gegen die er entwickelt wurde, wusste bereits der amerikanische Immunologe Jonas Salk, der ein Mittel gegen die Kinderlähmung erfand. Er hilft auch gegen Angst. „Frei von Angst zu sein ist die stärkste aller Emotionen“, sagte Salk in einem Interview. Er hatte die Polio-Impfung unter anderem an sich und seiner Familie getestet. Patentieren lassen wollte er sie nach der Zulassung im Jahr 1955 nicht. Auf die Frage, wem die Rechte am Impfstoff gehörten, antwortete er: „Den Menschen.“ ---

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