Kulturbranche

Wir können auch anders

Die Pandemie wird den Kulturbetrieb verändern. Und sie zeigt, was schon lange schiefläuft. Gut so – finden ein Intendant, eine Schauspielerin, ein Museumsleiter, eine Regisseurin und ein Konzertveranstalter.





• Seit vielen Monaten sind Kultureinrichtungen geschlossen. Viele nutzen das, um sich zu wandeln: Theater produzieren Filme, Museen stellen interaktive Bildarchive ins Netz, Orchester treten außerhalb der Konzertsäle auf. Die Krise zeigt aber auch, welche Probleme es in der Branche schon lange gibt – zum Beispiel unter welch schlechten Bedingungen viele Künstler arbeiten müssen, besonders die Freiberufler.

Finanziell ist die Pandemie für viele verheerend. Aber sie bietet Kulturschaffenden und ihren Institutionen auch die Möglichkeit, den Reset-Knopf zu drücken.

So sehen das zumindest fünf Künstlerinnen und Kulturmanager, die sich schon vor der Pandemie nicht auf die Routinen des Betriebs verlassen haben. Sie skizzieren, was sich in der Pandemie verändert hat – und wie es danach weitergehen könnte.

Der Theaterintendant und Regisseur Milo Rau: 

Milo Rau, 44, ist einer der einflussreichsten Regisseure des politischen Dokumentartheaters. Der Intendant des belgischen Schauspielhauses NT Gent hat unter anderem im Kongo, im Irak, in Belgien, in Russland und im brasilianischen Regenwald Stücke mit örtlichen Akteuren und Aktivistinnen aufgeführt.

„Unser Theater ist seit mehreren Monaten geschlossen, die Zeit haben wir genutzt, um Bücher und Filme zu machen. Für unseren Film „Das Neue Evangelium“ haben wir mit mehr als 100 Kinos in Deutschland und Österreich zusammengearbeitet. Die Zuschauer konnten beim Kauf der Online-Tickets auswählen, welche Kinos an den Einnahmen beteiligt werden. Diese neuen Distributionskanäle wollen wir auch nach der Pandemie nutzen. Einen anderen Film, die „Kolwezi Hearings“ zu Menschenrechtsverletzungen im Kongo, haben wir im Oktober gratis gestreamt, allein im Kongo mit 10 000 Live-Zuschauern.

Wir spielen open air, weil uns Aufführungen in geschlossenen Räumen zu riskant sind – und nicht mehr nur abends. Weshalb muss man immer dann Theater spielen, wenn alle schon müde von der Arbeit sind? Nächstes Jahr wollen wir im Frühling 32 antike Tragödien aufführen, im Freien, morgens von acht bis zehn Uhr. Wir wollen viel stärker als bisher die Theaterräume des 19. Jahrhunderts verlassen und in die Peripherie gehen.

Wir diskutieren derzeit unsere gesamte Arbeitsweise: Wie schaffen wir eine CO2-neutrale Inszenierung? Ist der enorme Output an Produktionen eigentlich sinnvoll? Muss man ein Theater wie eine Fabrik führen, die immer neue Premieren herstellt? Wir Stadttheater sind zu Produktionsmaschinen geworden, mit einem Tempo, bei dem man kaum dazu kommt, die eigene Arbeit zu reflektieren. Wir wollen in Zukunft länger proben, die Stücke nach Möglichkeit öfter zeigen und länger im Spielplan halten. Darüber denkt man zurzeit in vielen Theatern nach.

Viele Arbeitsschritte funktionieren auch virtuell ausgezeichnet. Wir haben schon Theaterproben auf Zoom gemacht – eine Zeit lang geht das. Ich arbeite oft mit politischen Aktivistinnen und Aktivisten zusammen, etwa mit Indigenen in Brasilien, die sich gegen die Zerstörung des Regenwaldes wehren. In der Pandemie haben wir uns über das Internet verlinkt – schnell fanden sich Hunderte zusammen. Früher hätten wir dafür aufwendige Kongresse organisieren müssen.

Ich finde es hervorragend, dass in der Pandemie der Tourismus, auch der Kulturtourismus, zum Erliegen gekommen ist. Statt mit großen Theaterproduktionen und einem riesigen Aufwand weltweit zu 20, 30 Festivals zu touren, ist es sinnvoller, Produktionen zu zeigen, deren Technik in einen kleinen Lieferwagen passt. Außerdem bedeutet Nachhaltigkeit für uns, dass wir gemeinsam mit unseren Partnern im Amazonas-Gebiet, im Kongo, in Süditalien oder in Mossul im Irak langfristige Projekte vor Ort entwickeln. Das sind mehr als 10 oder 15 Jahre lang gewachsene Arbeitsbeziehungen. Wir wollen kulturelle Infrastrukturen schaffen, in der nicht alle nur auf die nächste große Premiere hinarbeiten.“

Die Schauspielerin und Aktivistin Lisa Jopt:

Lisa Jopt, 1982 geboren, ist Mitgründerin und Vorsitzende des Ensemble- Netzwerks, das sich für bessere Arbeitsbedingungen an den Bühnen einsetzt.

„In der Pandemie haben viele Freiberufler erlebt, dass die Theater ihre Verträge ersatzlos gekündigt haben. Nach dem Gesetz trägt der Unternehmer, also das Theater, das Betriebsrisiko. Es muss seine Angestellten auch bezahlen, wenn Vorstellungen ausfallen – selbst im Falle höherer Gewalt. Dazu zählt eine Pandemie. Die allermeisten Schauspielhäuser haben aber in den Verträgen mit den Gastkünstlern Klauseln, die das Risiko auf diese abwälzen. Das ist rechtlich höchst fragwürdig, wurde aber bisher nie vor Gericht verhandelt. Auf diese Klauseln beriefen sich viele Theater, wenn sie ihren freien Schauspielern, Regisseurinnen, Bühnen- und Kostümbildnern oder Musikerinnen die vertraglich vereinbarten Gagen nicht bezahlten, weil Proben oder Vorstellungen im Lockdown ausfielen. Aufgrund dieser branchenüblichen Vertragsgestaltung, die immer nur im Kleingedruckten auftaucht, liegt das Risiko also allein bei den Gastkünstlern. Das muss unbedingt geändert werden.

Die Freiberufler an den Theatern sind für den Arbeitgeber in der Regel billiger als die Festangestellten. Dabei sind die Bühnen auf die Freischaffenden angewiesen. In den vergangenen 30 Jahren ist die Zahl der Premieren und Theater-Aufführungen massiv gestiegen, gleichzeitig wurde an den Ensembles gespart. Die Zahl der künstlerischen Festangestellten ist im Verhältnis zu den aufgeführten Stücken geschrumpft. Ohne die vielen Freien könnten die Bühnen ihre hochtourigen Betriebe nicht aufrechterhalten. Trotzdem muten sie ihnen relativ unsichere und schlechte Arbeitsbedingungen zu. Ein Beispiel: Die Mindest-Abendgage für Gastschauspieler beträgt 150 Euro* – inklusive Vorbereitung und Anreisezeit, oft ohne die Garantie einer Mindestanzahl von Vorstellungen im Monat. Freie Schauspieler ermöglichen den Theatern eine neoliberale Flexibilität. Schon deshalb müssten sie eigentlich besser bezahlt werden als die Festangestellten.

Vor der Krise haben sich viele Theaterschaffende als Einzelkämpfer verstanden. In der Pandemie haben sie ihre Rechtlosigkeit erlebt – und hatten Zeit, sich besser zu informieren. Sie begreifen sich zum ersten Mal als Gruppe mit gemeinsamen Anliegen und engagieren sich stärker in den Interessenverbänden. Seit März vergangenen Jahres sind sehr viele Künstlerinnen und Künstler in das Ensemble-Netzwerk oder die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger eingetreten. Sie organisieren sich, auch wenn das ihrer Natur vielleicht zuwiderläuft.

Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Schauspieler sich emanzipieren: Am Theater Krefeld Mönchengladbach hat das Ensemble in diesem März mit Zustimmung der Intendanz seinen künftigen Schauspieldirektor gewählt. Ich glaube, das ist erst der Anfang. Dieses neue Selbstbewusstsein kann den Theaterbetrieb verändern und dazu beitragen, seine Ungerechtigkeiten zu korrigieren.“

*Die Mindest-Gage bei Gastverträgen beträgt 200 Euro pro Vorstellung. Für die Übernahme kleiner Rollen oder Partien ist eine Abweichung von bis zu 25 Prozent möglich.

Der Museumsdirektor und Medienkünstler Peter Weibel: 

Peter Weibel, 77, hat schon Medienkunst gemacht, als viele Kollegen Computer noch für bedrohliche Rechenmaschinen hielten. Er lehrte an Kunsthochschulen in Wien, Kassel, Sydney und an der State University of New York und leitet seit 1999 das Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe, inzwischen eines der wichtigsten Museen für Medienkunst weltweit.

„Die Schließung der Museen in der Pandemie ist das Beste, was der Kunst passieren konnte. Museumsdirektoren, die den Erfolg ihrer Ausstellungen an der Masse der Besucher messen, sind eine Fehlentwicklung. Das Museum ist keine Unterabteilung der Hotellerie und des Tourismus. Die Annahme, dass man Gemälden näherkommt, wenn man möglichst nah vor ihnen steht, ist infantil. In jedem Museum gibt es die Aufforderung: Bitte nicht berühren. Wächter und Alarmanlagen sorgen dafür, dass das Verbot eingehalten wird.

Zu behaupten, Kunsterleben hätte etwas mit Naherfahrung und Tastsinn zu tun, widerspricht dem Wesen der visuellen Kunst. Wir sehen Bilder. Wir tasten und lutschen sie nicht ab. Genauso wie wir Musik hören und nicht die Musiker und ihre Instrumente begrapschen. Nur kleine Kinder müssen alles in den Mund stecken und anfassen, um es zu erfassen, weil sie lernen, sich auf die Fernsinne, also Sehen, Hören und Riechen, einzulassen. Ein Kunstbetrieb, der virtuelle Begegnung mit einem Kunstwerk für irgendwie unecht hält, verhält sich wie ein Säugling, der alles anfassen muss.

Als Ergebnis dieser Dummheit werden Menschenmassen durch die Blockbuster-Ausstellungen der immer gleichen Klassiker der Moderne geschleust wie durch Disneyland. Der Besucher sieht vor allem die Masse der anderen Besucher. Er hat keine Chance, sich intensiv mit einem Gemälde auseinanderzusetzen. Das ist das gemeinsame Kunsterlebnis, das in der Pandemie angeblich so vermisst wird. In den Event-Ausstellungen feiert die Masse der Besucher sich selbst, die ausgestellte Kunst ist dafür nur der Vorwand.

Die Pandemie kann der Kultur der Fernmedien wie Fernsehen, Radio und Internet nichts anhaben. In dieser Kultur leben wir seit Jahrzehnten. Es gibt kulturelle Naherlebnisse, Theatervorstellungen, Konzerte, Lesungen – aber die meisten Menschen sehen öfter Filme als lebende Schauspieler im Theater. Sie hören Musik eher im Stream als im Konzertsaal. Gleichzeitig pflegt der Kulturbetrieb nostalgisch die Illusion der Nähe. Dass das in der Pandemie mit Karacho implodiert, ist großartig.

Die angeblich authentische Begegnung mit dem angeblich einmaligen Kunstwerk im Museum ist eine Art Religionsersatz. Davon leben die Museen. Die physische Nähe zur ausgestellten Reliquie soll die geistige Auseinandersetzung mit der Kunst ersparen. Dieser Kitsch ist der Versuch, die zivilisatorische Entwicklung des Menschen zurückzuschrauben in eine fiktive Geborgenheit der Nähe. Aber wir leben nicht mehr in Horden in Höhlen. Die moderne Zivilisation beruht auf Distanz, nicht auf ständigem Körperkontakt. Ein Kunstbetrieb, der das nicht begreift, ist reaktionär. Deshalb ist der Event-Kitsch eine Übung in infantiler Regression. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass kein Mensch Museen braucht, die Kunst-Events als Spektakel der Nähe inszenieren. In diesem Sinne ist jedes geschlossene Museum ein Geschenk an die Kunst.“

Die Regisseurin Helgard Haug:

Helgard Haug, 1969 geboren, kreiert mit ihren Kollegen Daniel Wetzel und Stefan Kaegi im Regie-Kollektiv „Rimini Protokoll“ seit 21 Jahren neue Formen des Schaupiels – zum Beispiel, indem sie eine Daimler-Hauptversammlung zu einer großen Theaterinszenierung erklären und mit 200 Zuschauern besuchen. Ihre Idee: Man muss nur genau hinsehen – dann ist sehr vieles Theater.

„Wir haben uns zu Beginn der Pandemie, im Taumel der Premieren- und Gastspielabsagen, überlegt, wie wir künstlerisch auf diese Situation reagieren können. In gewisser Weise waren wir mit unserer Form von Theater optimal auf diese Krise vorbereitet. Wir experimentieren schon lange mit Formaten auf Distanz. Vor 16 Jahren haben wir in unserer Inszenierung „Call Cutta“ Callcenter-Mitarbeiterinnen in Indien per Skype mit Theaterbesuchern in Deutschland verbunden: eine Performerin im Callcenter, ein Zuschauer in einem Büro in Berlin. Das Gespräch zwischen den beiden Fremden wurde im Lauf der Aufführung immer persönlicher und intimer. Aber natürlich war das eine inszenierte Begegnung. Diesen Ansatz haben wir im Juni vergangenen Jahres weiterentwickelt, zu „Call Cutta at home“. Die Zuschauer waren zu Hause, an einem privaten Ort, und trotzdem in dieser virtuellen Halböffentlichkeit miteinander verbunden. Die Koordinatorin arbeitete in St. Petersburg, eine der Callcenter-Performerinnen war in Lettland, eine andere in Indien, die Zuschauerinnen und Zuschauer kamen aus der ganzen Welt.

Wir arbeiten normalerweise weltweit, unser CO2-Abdruck ist unverantwortlich groß. Weil wir das ändern wollten, haben wir schon vor der Pandemie ein neues Aufführungs-Format konzipiert, die „Konferenz der Abwesenden“. Es wurde am 21. Mai dieses Jahres uraufgeführt. Die Idee: Für Aufführungen muss kein Darsteller und niemand aus dem Team mehr anreisen, es wird auch kein Bühnenbild transportiert. Wir liefern die Instruktionen, die Texte und viele Video- und Audiofiles, alles wird am jeweiligen Ort eingerichtet. Dann übernehmen Gast-Performer die Rollen – manchmal auch in Kombination mit Leuten aus dem Publikum.

Aber obwohl wir Social-Distance-Theater interessant finden, fehlt uns auf Dauer die direkte Begegnung mit dem Publikum und der Bühne. Es ist ein Unterschied, ob man freiwillig darauf verzichtet, weil wir für bestimmte Projekte andere Formate interessant finden, oder ob man keine andere Wahl hat. Ich habe vor der Pandemie ein Stück mit einem am Tourette-Syndrom Erkrankten gemacht. Das brauchte Präsenz auf der Bühne. In der Inszenierung konnten das Publikum und er einander wahrnehmen und sich in einem geschützten Raum einander aussetzen. So eine Begegnung kann wahrscheinlich nur das Theater herstellen. Mit der Erfahrung der Pandemie entsteht eine große Sehnsucht danach. Wie es weitergeht? Die Theater haben im Lockdown weitergeprobt und an Inszenierungen auf Vorrat gearbeitet. Es gibt einen großen Rückstau an Premieren. Nach der Pandemie werden freie Regisseurinnen und Regisseure wie wir viele Absagen bekommen, weil die Theater erst mal all ihre fertigen Stücke zeigen wollen.“

Der Konzertveranstalter Folkert Uhde:

Folkert Uhde, Jahrgang 1965, einer der Gründer des Berliner Radialsystems, arbeitet mit renommierten Klassikmusikern zusammen und entwickelt immer wieder originelle Formate – zum Beispiel Konzerte für Kammermusik, bei denen das Publikum entspannt auf dem Boden liegt. Um die Diskussion zur Zukunft seiner Branche voranzutreiben, hat er den Blog wieweiter.org initiiert.

„Ich meine es nicht zynisch, aber mit den Abstandsregeln hatten wir ganz wunderbare Konzerte. Ich leite die Bachfesttage in Köthen, im vergangenen Herbst mussten sie unter Hygienebedingungen stattfinden. Statt der ursprünglich geplanten 13 Konzerte haben wir 53 gespielt, mit kleinem Publikum in großen Sälen, nie länger als 45 Minuten. Die Stühle standen im Kreis um die Musikerinnen und Musiker, die Zuhörer waren trotz der Abstandsregeln näher an der Musik als in einem konventionellen Konzertsaal. Sie saßen mit zwei Metern Distanz zueinander. Das Getuschel, die Ablenkung durch die Sitznachbarn entfiel. Man war mit der Musik allein, das war ein ganz anderes Hörerlebnis.

Das wollen wir nach der Pandemie unbedingt fortsetzen, auch wenn es bedeutet, dass die Musikerinnen und Musiker drei Konzerte am Tag spielen und nicht nur eines. Der Einlass dauerte wegen der Abstandsregeln länger, man war schon zehn Minuten, bevor das Konzert begann, auf seinem Platz. Das schuf von Anfang an eine ganz andere Aufmerksamkeit und Konzentration. Die Musiker waren hinterher jedes Mal völlig geflasht.

Orgelkonzerte haben wir auf den Marktplatz vor der Kirche übertragen. Der Organist hat erklärt, was er spielt, das wurde auf einer großen LED-Wand angezeigt. Die Leute standen mit einem Bier in der Hand auf dem Platz und hörten komplizierte Orgelstücke von Johann Sebastian Bach. Bei einem anderen Freilichtformat gingen die Besucherinnen und Besucher im Schlosspark spazieren und lauschten der Musik, die vom Schloss auf akkubetriebene Funklautsprecher in den Bäumen übertragen wurde. Manche setzten sich auch unter die Bäume. Der Sound veränderte sich mit dem Standort, die Musik wehte mit dem Wind durch den Park. Auch das ist aus der Not entstanden. Aber es war ein großer Erfolg. Wir werden das wiederholen, völlig unabhängig von Hygiene-Regeln. Ich habe großes Vergnügen daran, mir solche Formate auszudenken. Es ist etwas einfallslos, zu glauben, dass klassische Musik nur im Konzertsaal gut klingt.

Ein anderes Festival, das ich leite, die Montforter Zwischentöne in Österreich, fiel im November mitten in den harten Lockdown mit Ausgangssperre. Der Rundfunksender ORF bot uns eine großzügige Sendezeit an, um die Konzerte dennoch zu verwirklichen. Wir spielten an vier langen Abenden im Landesstudio und hatten alle Freiheiten im Programm. Ein Neue-Musik-Ensemble präsentierte eigens dafür komponierte Radio-Jingles, ein Kabarettist las frei erfundene Nachrichten aus der Zukunft vor. Ein Live-Festival im Rundfunk, es war völlig anders als die herkömmlichen Radio-Programme. Das wäre ohne die Pandemie nie zustande gekommen. Es war großartig, der Sender hat uns schon gefragt, ob wir diese Kooperation fortsetzen wollen. Wenn man in Ausnahmesituationen improvisieren muss, ist plötzlich sehr viel möglich. Diese Offenheit würde ich mir öfter wünschen.

Ich verstehe nicht, weshalb viele Klassikveranstalter nur jammern, statt kreativ mit der derzeitigen Situation umzugehen. Die Welt geht nicht unter, wenn wir ein Jahr lang nicht wie gewohnt die H-Moll-Messe oder die 9. Symphonie aufführen können. Ich fand das in diversen Interviews ausgebreitete Selbstmitleid einiger Stars wie Anne-Sophie Mutter peinlich und egozentrisch. Statt über fehlende Auftritte zu klagen, sollten Künstlerinnen wie sie eine ihrer Abendgagen spenden – davon könnten fünf Freiberufler ein Jahr lang überleben. Wenn sich solche Eitelkeiten samt den obszönen Spitzengagen etwas entzauberten, wäre das ein erfreulicher Nebenaspekt der Krise. Das extreme Gagen-Gefälle in der Klassikbranche ist eigentlich unhaltbar.

Ich glaube nicht, dass das Musikleben in diesem Bereich 2022 wieder so aussehen wird wie 2019 – allein deshalb, weil viele Kommunen in ihren Kulturetats sparen werden. Die Konzertveranstalter sind jetzt schon extrem nervös. Wir werden unser Publikum neu erobern müssen.

Zum Beispiel, indem wir uns viel stärker mit verschiedenen Communitys vernetzen, als einfach als Sahnehäubchen Mozart zu spielen und zu hoffen, dass schon jemand kommen wird. Jugendmusikschulen und Laienmusiker aus den Regionen müssen eingebunden und Begegnungen geschaffen werden. Das geschieht noch immer viel zu wenig. Die alte Arroganz werden wir uns nicht mehr leisten können. Für die Konzerte nach der Pandemie braucht es Experimentierfreude und Formate, die unmittelbarer, direkter und weniger feierlich sind. Und nicht die ewige Routine-Einfallslosigkeit aus „Vier Jahreszeiten“ und „Eine kleine Nachtmusik“. Wenn man sich vor lauter Panik, dass gar keiner mehr Konzertkarten kauft, auf ein paar Klassik-Hits beschränkt, macht man die Sache vollends langweilig und unattraktiv. Das ist tödlich. Den Konzertbesuch als bildungsbürgerliche Pflichtübung gibt es nicht mehr. Das ist doch wunderbar.“ ---

Was brauchen wir für die Zukunft? Trotz und Optimismus, schreibt Gabriele Fischer im Editorial. Und deshalb heißt der neue Schwerpunkt auch "Perspektiven". Im Heft dann ein Blick nach vorn: Wie geht es weiter mit Tourismus, Gastronomie und Kultur? Was bleibt, was kann weg und wo entsteht Raum für Neues?

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