Start-ups: Legal Tech

Mit Softwarehilfe durch den Paragrafendschungel

Wer ein juristisches Problem hat, muss nicht mehr zwangsläufig zum Anwalt gehen. Als digitale Alternative bieten sich Legal Techs an. Was dürfen diese Firmen? Wem nützen sie? Und was bedeuten sie für unser Rechtssystem?





• Mit einem Mal war der Luftraum nahezu leer. Als im Frühjahr vergangenen Jahres die Covid-19-Pandemie die Welt mit voller Wucht traf, blieben überall Flugzeuge am Boden. Kaum einer wollte oder durfte mehr fliegen. Anfang Mai lag die Zahl der Abflüge weltweit 70 Prozent unter dem Vorjahr. Viele Menschen, deren Flüge gestrichen worden waren, fragten sich, wie sie nun ihr Geld zurückerhalten sollten. Einer EU-Richtlinie zufolge müssen die Fluggesellschaften ihnen zwar den Ticketpreis erstatten, doch viele machen das nicht einfach so – und ein Rechtsstreit ist aufwendig und teuer. Das schreckt viele Kunden ab.

Inzwischen gibt es aber einige Firmen, die sich darauf spezialisiert haben, Kunden bei solchen Angelegenheiten zu unterstützen. Wie zum Beispiel die Firma Flightright aus Berlin. Das Portal bietet Menschen Hilfe an, deren Flüge ausgefallen sind oder sich verspätet haben. Philipp Kadelbach und Sven Bode haben das Unternehmen 2010 gegründet, seit 2019 gehört es zum Medienkonzern Medien Union. Kadelbach ist nach wie vor der Geschäftsführer.

Im vergangenen Jahr half Flightright nach eigenen Angaben rund 350 000 Fluggästen bei ihren Problemen. Das funktioniert so: Potenziell Geschädigte schildern auf der Flightright-Seite ihren Fall. Das Unternehmen lässt sich dann – sofern eine Aussicht auf Entschädigung besteht, was automatisiert geprüft wird – die Forderung überschreiben. Gelingt es ihm, das Geld einzutreiben, behält es einen prozentualen Anteil an der Streitsumme ein. „Manchmal reicht schon eine einfache Aufforderung an die Airline, endlich zu zahlen. Falls nicht, müssen wir uns überlegen, ob wir vor Gericht ziehen“, sagt Kadelbach.

Bei Firmen wie Flightright spricht man von Legal Technology. Darunter fallen zu- dem IT-Lösungen für Rechtsfragen, sowohl für Kunden als auch für die Juristen selbst. Lange Zeit tat sich die Branche mit der Digitalisierung schwer, doch in den vergangenen Jahren hat sich einiges getan – was sich auch am Erfolg der auf diesem Gebiet tätigen jungen Firmen ablesen lässt.

2019 setzten Legal Techs in Europa 3,6 Milliarden Euro um, 2025 könnten es laut einer Statista-Erhebung bereits knapp 5,2 Milliarden sein. Weltweit könnte der Umsatz im selben Zeitraum von 14,1 auf 20,6 Milliarden Euro steigen. Im Vergleich mit anderen Branchen ist das allerdings noch überschaubar. So setzten sogenannte Fintech-Start-ups 2018 bereits 122,6 Milliarden Euro um – und könnten dies 2030 auf 408,5 Milliarden steigern.

Der größte Legal-Tech-Markt sei zwar weiterhin die USA, aber auch in Ländern wie Frankreich, Spanien oder Ungarn wachse die Branche, so die European Legal Tech Association. Der europäische Branchenverband erwartet ein Wachstum auf dem gesamten Kontinent. Auch in Deutschland gibt es inzwischen eine ganze Reihe erfolgreicher Legal Techs wie Flightright.

Die Firma mit 140 Mitarbeitern setzt unter anderem auf Software mit Algorithmen, um zu entscheiden, in welchen Fällen es sich lohnt, gegen eine Fluggesellschaft zu prozessieren. Diese beurteilt etwa, ob hier europäische Verordnungen greifen. In der Szene sei man mittlerweile bekannt, sagt Philipp Kadelbach. „Manche Fluglinie zahlt deswegen auch deutlich schneller als noch zu unseren Anfangszeiten.“ Im Extremfall lässt Flightright Flugzeuge pfänden. Bislang zahlten Fluggesellschaften spätestens dann, wenn der Gerichtsvollzieher auftauchte.

„Unser Angebot ist so niedrigschwellig, da kommen auch Leute, die sonst wahrscheinlich nicht geklagt hätten“, sagt Kadelbach. Verlockend für sie ist, dass sie die Arbeit von Flightright nur im Erfolgsfall bezahlen. Der Firmenchef glaubt allerdings nicht, dass sich solche Ansätze auf jedes Rechtsgebiet übertragen lassen.

Mit der auf Arbeitsrecht spezialisierten Rechtsanwaltskanzlei Chevalier aus Berlin hat seine Firma vor drei Jahren ein Portal gegründet, um Prozesse auch auf diesem Gebiet zu automatisieren. Das sei aber nur bedingt möglich gewesen. „An einer Kündigung des Arbeitsplatzes zum Beispiel hängt viel mehr als an einem verspäteten Flug, da wollen die Mandanten dann doch mit jemandem reden“, sagt Kadelbach, „da geht es auch um Empathie, das kann kein Algorithmus leisten.“

Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Start-ups, die sich wie Flighright auf verhältnismäßig einfache Rechtsvorgänge konzentrieren. Geblitzt.de etwa übernimmt Bußgeldverfahren im Verkehrsrecht. Nutzer laden ihre Bußgeldbescheide hoch – dann werden diese analysiert und gegebenenfalls von Partnerkanzleien angefochten. Geblitzt.de ist ein Software-Anbieter. Die Partnerkanzleien zahlen der Firma Lizenzgebühren für die Nutzung ihrer Software. Aufgrund dieser Einnahmen kann Geblitzt.de die Bußgeldbescheide kostenlos prüfen.

Auf der Plattform Smartlaw können sich Kunden Verträge zu bestimmten Themen erstellen lassen, zum Beispiel Arbeits-, Miet- und Darlehensverträge. Die Firma wirbt damit, dass ihre Kunden innerhalb weniger Minuten einen individuellen und rechtssicheren Vertrag erhalten. Smartlaw ist allerdings auch ein gutes Beispiel für die Konflikte, die sich in den vergangenen Jahren rund um die neuen Firmen entzündet haben.

Das liegt am Rechtsdienstleistungsgesetz. Es bestimmt, dass gewisse Tätigkeiten nur von Juristen erbracht werden dürfen. Jene nämlich, die sich um fremde Angelegenheiten drehen und eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls erfordern. Was aber auch Nichtjuristen anbieten dürfen, ist die Durchsetzung unstreitiger Ansprüche oder Hilfe bei Vertragsabschlüssen und -kündigungen. Im Prinzip alles, wo nur schematisch Rechtsnormen angewendet werden.

Smartlaw wurde in dieser Frage kürzlich zum Streitfall. Die Hanseatische Rechtsanwaltskammer Hamburg hatte Wolters Kluwer, den hinter Smartlaw stehenden Fachverlag, verklagt und 2019 vor dem Kölner Landgericht recht bekommen. Ein Jahr später kassierte das Oberlandesgericht das Urteil allerdings wieder. Von einer Tätigkeit in fremder Angelegenheit könne keine Rede sein, das Smartlaw-Programm sei zu einer „Tätigkeit“ gar nicht in der Lage, urteilte es. Allerdings darf Smartlaw seither nicht mehr mit „Rechtsdokumenten in Anwaltsqualität“ werben.

Endgültig entschieden ist der Fall noch nicht. Die Hamburger Rechtsanwaltskammer kündigte Revision an. Und das Oberlandesgericht ließ offen, ob das Urteil auch auf fortgeschrittenere Software anzuwenden sei.

Generell stehen Anwälte Legal Techs aber eher positiv gegenüber. Denn von manchen Angeboten profitieren sie selbst. Auf der Plattform Advocado etwa können Kunden ihre Rechtsprobleme schildern und Angebote von Anwälten einholen, die sich dort registriert haben. Für diese ist das ein zusätzlicher Kanal für die Gewinnung von Mandanten.

Dazu kommt eine ganze Reihe von Anwendungen, die Juristen die tägliche Arbeit einfacher machen sollen.

Noch ist dieses Geschäft verhältnismäßig klein. Doch auch hier hoffen neue Akteure auf ein großes Wachstum. Eine von ihnen ist Sophie Martinetz. Die österreichische Juristin hat Future-Law gegründet, ein Kompetenzzentrum für Legal Tech und Digitalisierung, das unter anderem Anwälte und Firmen in diesem Bereich berät und zusammenbringt.

Die Erkenntnis, dass man auch als Anwalt nicht mehr um moderne Technik herumkommt, habe sich in den vergangenen fünf Jahren durchgesetzt, sagt sie. „Mittlerweile sind alle auf der Suche nach Lösungen, die ihnen die Arbeit vereinfachen.“ Allerdings wollen viele Kanzleien und Rechtsabteilungen möglichst umfassende Lösungen haben. „Da müssen wir dann bremsen und aufzeigen, was heute erst möglich und was sinnvoll ist.“

Dafür macht Future-Law zunächst eine Prozessanalyse in der Kanzlei. Ein Anfang sei zum Beispiel die Einführung digitaler Signaturen. Allein dieser Schritt spare enorm viel Arbeitszeit ein. Die Umsetzung übernehmen andere Firmen, die Future-Law vermittelt.

„Wenn es um automatische Vertragsgenerierung geht, wird es schnell komplizierter“, sagt Martinetz. Dafür müsse man ein System entwickeln, oft reiche ein Entscheidungsbaum: Wenn X zutrifft, folgt Y. Allerdings lasse sich damit nicht jeder Vertrag abbilden.

Die Digitalisierung von Prozessen könnte Juristen künftig auch die Datenanalyse erleichtern. Damit will das Berliner Start-up Legal OS Geld verdienen. Im Gegensatz zu Future-Law ist keiner dort Jurist. „Wir sehen uns eher als Infrastruktur-Start-up“, sagt Charlotte Kufus, die zum Gründungsteam gehört. Legal OS bietet eine digitale Vertragserstellung an, die es Laien einfacher machen soll. Wenn in einem Arbeitsvertrag zum Beispiel stehen soll, dass es im Trennungsfall eine Abfindung gibt, erinnert die Software an der passenden Stelle daran, dass die Abfindungssumme noch festgelegt werden muss.

Nun arbeiten die Gründer daran, dass Arbeitgeber die Daten aus den Verträgen analysieren können. Etwa wie viele Abfindungen fällig werden oder wie viele Arbeitsverträge in den kommenden drei Monaten auslaufen. Das Start-up hat 2019 für diese Idee 2,2 Millionen Euro Investorengelder eingesammelt. Für den kanadischen Industriekonzern Bombardier bearbeitet es inzwischen rund 7000 Arbeitsverträge im Jahr.

„Auch viele Juristen spüren Kostendruck, das hilft Angeboten wie unserem“, sagt Charlotte Kufus. Hinzu komme, dass viele im Laufe der Pandemie gute Erfahrungen mit Technik gemacht hätten, viele Ängste würden langsam abgebaut. „Der Robot Lawyer wird nicht kommen, das haben mittlerweile die meisten mitbekommen.“

Das bestätigt auch Christian Duve, Vorstandsmitglied beim Deutschen Anwaltverein und zuständig für Legal Tech. „Komplexe Rechtsprobleme kann bisher kein Programm lösen, und das wird so schnell auch nicht passieren.“ Intelligente Software merke vielleicht, ob die Miete zu hoch ist, aber ob zum Beispiel Käufertäuschung vorlag, das erkenne sie nicht. Grundsätzlich freut er sich über die Modernisierung in seiner Branche, nicht nur wegen der einfacheren Arbeitsprozesse. „Viele Legal-Tech-Angebote senken die Hemmschwelle für die Verbraucher, sich anwaltliche Hilfe zu nehmen“. ---

Legal Tech ist nicht nur eine Spielwiese für Start-ups. Auch etablierte Dienstleister bieten entsprechende Lösungen an – seit Jahrzehnten. Der Anwalt Josef Kurth aus dem nordrhein-westfälischen Düren entwickelte zum Beispiel bereits 1978 die Kanzleisoftware „Anno Text“. Mit dieser können Anwälte digital diktieren, Mahnverfahren oder Zwangsvollstreckungen vorantreiben. Seit 2009 ist Anno Text ein Produkt des Fachverlags Wolters Kluwer.

Neue Technik kann auch die Gerichtsverfahren verändern. In Dänemark gibt es bereits den digitalen Zivilprozess: Über ein eigens eingerichtetes Portal kommunizieren Gericht, Anwälte und Prozessbeteiligte miteinander. Sie reichen dort Schriftsätze ein, auch das Urteil wird hochgeladen. Mit dem Upload gilt es als verkündet. Einsendungen per Post sind nur noch in Ausnahmefällen möglich, das Faxgerät haben die dänischen Gerichte ganz abgeschafft.

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