Tino Sehgal

Tino Sehgal ist einer der erfolgreichsten Künstler der Gegenwart. Seine Werke waren auf der Documenta, der Biennale und in den wichtigsten Museen der Welt zu sehen. Oder besser: zu erleben. Sehgal instruiert Darsteller und Darstellerinnen, die dann mit dem Publikum in Kontakt treten. Es geht um tanzende, singende oder andersartig kommunizierende Körper.

Ein Gespräch über seine Arbeit, die er selbst „konstruierte Situationen“ nennt.





brand eins: Herr Sehgal, Ihre Kunst besteht hauptsächlich aus Tanz, Gesang und Gesprächen, es geht um Austausch. All das war während der Lockdowns kaum möglich. Hat die Pandemie das Verhältnis zu Ihrem Lebensthema verändert?

Tino Sehgal: Für mich ist das, was zwischen Menschen passiert, durch Corona noch greifbarer geworden. Wie Energie sich aufbaut, zirkuliert und multipliziert wird, wenn Menschen einander begegnen. Die Seelen tanzen oder schwingen dann zusammen. Als ich Ihnen vorhin die Hand gegeben habe, war das mein dritter oder vierter Handschlag in anderthalb Jahren. Nun habe ich eine ganz andere Wahrnehmung von dieser Begrüßungsform: Die Handfläche ist ein sehr weicher Ort, und beim Handschlag berühren sich die Innenseiten. Vor der Pandemie haben wir den Handschlag als etwas Formelles, Distanziertes empfunden, heute merken wir, wie intim er auch ist.

Springen wir 20 Jahre zurück. Sie sind nach eigener Aussage aus politischen Gründen Künstler geworden. Wie kam das?

Ich wuchs in einem extrem kulturfernen Haushalt auf, in Böblingen-Sindelfingen. IBM, Hewlett-Packard und Daimler haben dort einen Standort. Ich aber war einer, der aus Prinzip in kein Auto eingestiegen ist. Mein Umfeld waren Dritte-Welt-Läden. Ich war stark im Umweltschutzbereich engagiert und wurde beispielsweise mal gebeten, bei einer Anhörung des Verkehrsministeriums zum Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs zu sprechen. Mir ist damals klar geworden, dass der Politik die Hände gebunden sind, solange sich die Werte der Menschen nicht ändern. Dazu wollte ich beitragen. Ich habe deshalb nach dem Abitur entschieden, Tanz und Volkswirtschaftslehre zu studieren. Das war mir auch als konzeptuelles Statement wichtig.

Und wieso ausgerechnet Tanz?

Ich habe gern auf Partys getanzt und bin sehr viel Skateboard gefahren. Tanzen war für mich wie Skateboarden, bloß ohne das Objekt. Schon damals war es mir wichtig, mich mit einer Kunstform zu beschäftigen, die keine Ressourcen verbraucht – wie eben der Tanz. Und weil es mir um unsere von der Ökonomie dominierte Gesellschaft und ihre zentralen Werte ging, habe ich mich zusätzlich ganz bewusst nicht für Politologie oder Soziologie, sondern für Volkswirtschaftslehre in Berlin entschieden. Mich haben Phänomene wie der sogenannte Kōbe-Effekt interessiert. In der japanischen Stadt gab es 1995 ein schweres Erdbeben. Der darauffolgende Wiederaufbau ließ die Wirtschaft des gesamten Landes wachsen. Wie kann es sein, dass eine Volkswirtschaft von Zerstörung profitiert? Eine ähnliche Frage stellt sich heute in unseren Überflussgesellschaften, die mehr produzieren, als sie brauchen. Das hat auch zur ökologischen Krise geführt.

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