Influencer: Sophia Thiel, Louisa Dellert, Katharina Weber

Influencerinnen widmen sich ihrer Parallelwelt auf Social Media mit Haut und Haar. Das kann krank machen. Drei Frauen zeigen, wie es nach einem Zusammenbruch weitergehen kann.





• Dass etwas falsch läuft, merkt Katharina Weber im Urlaub in Mexiko. Sie sitzt mit ihrem damaligen Freund bei Sonnenuntergang an einem Traumstrand, bald soll es zum Abendessen in ein angesagtes Restaurant gehen. Aber sie kann sich an nichts erfreuen. Stattdessen hämmert in ihr die immer gleiche Frage: Wo kriege ich noch ein Foto her?

Dass sie kein Fitnessvorbild mehr sein kann, begreift Louisa Dellert, nachdem sie, nur noch 46 Kilogramm schwer, beim Training zusammenbricht und man ein Loch in einer ihrer Herzklappen entdeckt.

Dass sie die Kontrolle verloren hat, schwant Sophia Thiel, als man neue Fotos von ihr nicht für ihr eigenes Bodybuilding-Magazin verwenden will. Sie ist zu mollig geworden.

Drei Influencerinnen sind das, deren Körper und Geist eines Tages die Zusammenarbeit aufkündigen und damit alles infrage stellen, was ihr Leben bis dahin dominiert hat: beliebt, bewundert und vor allem einflussreich in den sozialen Medien zu sein. Bis sie schlappmachen, können sie bestens von und mit ihrem Körpereinsatz leben.

Zehntausende (Weber), Hunderttausende (Dellert), Millionen (Thiel) Anhängerinnen und Anhänger verfolgten auf Instagram und Youtube, wie sie posierten, trainierten und scheinbar gesünder, schöner und glücklicher lebten als die Masse. Je mehr ihnen dabei zusahen, desto besser verdienten die drei jungen Frauen durch Werbung. Dass sie unter immer höherem Druck standen und darunter zunehmend litten, sollte keiner merken.

Heute sind alle drei anders aufgestellt, aber nicht jede auf neue Art.


Spricht heute über ihre Essstörung statt über Diät-Tipps: Sophia Thiel

Mit Sophia Thiel kann man genau da weitermachen, wo man vor 2019 mit ihr aufgehört hat: bei einem Workout auf Youtube. Das erste Trainingsvideo, das Thiel Ende März 2021 nach knapp zwei Jahren Auszeit online stellt, ist „für Beginner“ und 20 Minuten lang. Die Übungen sind profan, jede Abfolge wird ein zweites Mal wiederholt, keine Dehnung am Schluss. Aber man schwitzt. Und Sophia Thiel schnauft. Das ist neu. Sie ist nun dunkel- statt surferblond und geschätzt 20 Kilogramm schwerer als in ihren Videos von 2018.

Thiel war im Frühjahr 2019 allein nach Los Angeles geflohen, in der Hoffnung, „einfach nur“ durch Training und mit Diät wieder in Form zu kommen. Stattdessen, erzählt sie, habe sie dort den Ess-Attacken, unter denen sie seit ihrer Schulzeit litt, freien Lauf gelassen. Zwischenzeitlich wog sie fast 100 Kilo.

Jetzt ist Thiel zurück in den sozialen Medien und dicke im Geschäft. Das patente Mädchen aus Rosenheim von einst, das seit 2014 mit seinem brettharten Sixpack und einem Minimalgewicht von 50 Kilogramm bei 1,72 Meter Größe Furore gemacht hat, handelt jetzt, gern vom Doppelbett ihrer Münchener Dachgeschosswohnung aus, mit Bekundungen zur Ursache der neuen Rundungen. Standen über Thiels Videos früher Überschriften wie „Inneres Beinfett loswerden – endlich schlanke Beine“, tragen sie heute Titel wie „Ich habe eine Essstörung“. Während sie auf Instagram über Kontrollverlust, Selbsthass und andere Begleiterscheinungen ihrer Bulimie plaudert, ploppen in ihren Storys – dem nur für begrenzte Zeit verfügbaren Video-Tagebuch auf Instagram – bunte Botschaften auf wie „Therapy is cool“. Ein Filter namens „Baby Freckles“ zeichnet ihr animierte Sommersprossen auf die Nase. Sie ist jetzt 26.

Ihr neues Gewicht macht die Botschaften glaubwürdig. Thiels Geschäftsmodell besteht jetzt darin, die von ihr jahrelang verleugnete Diskrepanz zwischen Schein und Sein zur Hauptsache zu machen. Der Kampf von Körper und Seele wird seit Frühjahr 2021 zu einer Art Daily Soap auf den sozialen Medien und damit zum werbeträchtigen Content: Body and Mind – werden sie sich je vertragen? Hilft eine neue Liebe? Und wie kann man daraus ein Start-up entwickeln? Sonntag kommt ein neues Video auf Youtube. Bleibt dran!

Bei knapp 40 000 Followern stieß Katharina Weber an eine Art digitale gläserne Decke; sie kam einfach nicht auf höhere Zahlen. Die junge Frau aus dem Stuttgarter Raum, damals Studentin in München, konnte sich das zunächst nicht erklären. Mittlerweile hat die heute 28-Jährige berufsbegleitend einen Master in Markenkommunikation erworben – und so eine Ahnung: Nach einem Update der Plattform damals bestrafte der Algorithmus offenbar Profi-Nutzerinnen wie Weber, wenn sie einen oder gar zwei Tage lang aussetzten. Gestattete sie es sich, wie 2017, zum Zeitpunkt ihres größten Erfolgs als Influencerin, einmal nichts zu posten, verlor sie im Nu hundert Fans am Tag. Neue waren kaum zu gewinnen. Ihre sorgfältig inszenierten Fotos auf Instagram, auf denen sie zuletzt neben ihrem Lebensstil auch Schmuck und Kleidung gegen Bezahlung präsentierte, hatten mit einem Mal nur noch 600 statt wie kurz zuvor bis zu 8000 Likes pro Stück.

Hohe Follower-Zahlen, viele Likes und nette Kommentare, die über ein bloßes Herzchen hinausgehen, sind aber die harte Währung im Influencer-Geschäft. Sie bilden die Grundlage für lukrative „Kooperationen“ mit Unternehmen, also für Einnahmen durch Werbung.

Als vor drei Jahren manche ihrer neuen Posts nicht einmal mehr in den Instagram-Feed ihrer besten Freundinnen eingespielt werden, obwohl sie sich so viel Mühe wie immer gegeben hat, beginnt Katharina Weber am Sinn ihres Tuns zu zweifeln. Doch von ihrem Aha-Erlebnis am Strand von Mexiko bis zum Abschied vom Influencerinnen-Dasein sollte es noch mal ein halbes Jahr dauern: „Man gibt damit ja auch vieles auf.“

Foto: Louisa Dellert

Louisa Dellert einige Monate lang auf Instagram zu folgen ist unerwartet anstrengend, erschöpfend und zeitraubend. Wie erst muss es sein, sie selbst zu sein? Nach einem Videotelefonat mit der 31-Jährigen wird deutlich: Es ist anstrengend, erschöpfend und zeitraubend.

Tatsächlich, sagt sie, mache sie sich seit längerem Gedanken, ob sie das eigentlich noch so wolle. Immer online sein, dauernd was posten, sich selbst unter Druck setzen, vor allem aber: sich diesem Hass und der Häme auszusetzen, die so krass zunähmen. Sie ist zu dem Schluss gekommen: nein. Ab Herbst oder wenigstens gegen Ende des Jahres, werde sie etwas ändern oder sich etwas ändern, doch in jedem Fall erst nach der Bundestagswahl. Sie fühle da eine gewisse Verantwortung.

Gender-Debatten, Bodyshaming, Frauenrechte, der Kampf gegen Hass und Fake im Netz, Neonazis, Parteipolitik – eigentlich gibt es fast nichts, worum sich Dellert nicht schert. Beschied sie an einem Tag ihren Followern noch, sie wolle sich lieber nicht zur Gewalt im Nahen Osten äußern, tut sie es am nächsten Tag doch irgendwie, gebrieft von einer Jura-Doktorandin aus Nordrhein-Westfalen. Die beschäftigt sie für Recherchen, „damit ich nicht totalen Mist erzähle“. Hinzu haben sich eine Frau für die Pressearbeit und ein Partner für den Politik-Talk-Podcast „Lou“ gesellt, den sie seit Ende 2019 anbietet.

Man wird sehen, ob Dellert es lassen kann, sich über etwas aufzuregen. Denn das ist im Wesentlichen ihre Methode. Das wird einem erst nach einer Weile klar, weil sie so scheinbar gelassen das schöne Hochdeutsch ihrer niedersächsischen Heimat spricht. Und sie spricht viel. Ob Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Zigarettenkippen am Sandstrand, immer ist da etwas, wogegen sie ist oder wofür alle anderen zu sein haben. Dauernd macht sie sich „megaviele Gedanken“, ist schnell mal „krass enttäuscht“.

Wenn ihr beim Joggen durch ihre Wahlheimat Prenzlauer Berg Bauarbeiter aus einem Auto hinterherrufen, filmt sie sich mit dem Handy ins Gesicht und sagt: „Wow. Es ist einfach so ätzend, so ätzend. Wann bitte macht das bitte ’ne Frau mit ’nem Typen? Es kotzt mich einfach an.“

Seit ihr Zusammenbruch ihrer Laufbahn als dürr gehungerte Fitness-Influencerin 2016 den Riegel vorschoben, ist Dellert thematisch erst auf Selbstliebe umgestiegen, dann auf Umweltschutz, schließlich auf lebensweltlichen und politischen Inhalt generell. Der ist durchsetzt von Werbung für als ökologisch-korrekt deklarierte Kleidung oder Haushaltsprodukte, von der sie lebt. Reklame für Protein-Shakes und dergleichen konnte sie seit ihrer Herzoperation nicht mehr machen.

Weil ihr die Umsätze fehlten, die früher bei 9000 bis 14 000 Euro im Monat gelegen hatten, in Ausnahmefällen sogar bei 20 000, rief sie ihre Follower 2019 auf, sie mit Geld zu unterstützen: für die Bahncard 100, den Kameramann, die Recherchehelfer. Fernsehsender und Zeitungen, die alten Medien, entfachten darüber einen Sturm der Empörung. Getroffen zog Louisa Dellert sich eine Zeit lang zurück. Doch das Geld kam trotzdem rein. Mittlerweile, sagt sie, habe sie wieder das Niveau ihrer Zeit als Fitness-Influencerin erreicht. Zu ihren Werbepartnern zählt sie nun neben mehreren Bundesministerien unter anderem die Deutsche Telekom.

Der Grünen-Bundesvorsitzende Robert Habeck, der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil oder auch Christian Lindner, der Vorsitzende der FDP, führten schon Gespräche mit Dellert. Claudia Roth, die ehemalige Sprecherin der Grünen, bot sich im Juni an, mit ihr auf Instagram gegen frauenverachtende Texte im Deutsch-Rap zu stänkern. Sie alle wollen nur ihr Bestes, und das ist Dellerts Reichweite: 469 000 Follower hat sie, Stand Mitte Juli 2021. Als Eine-Frau-Show erreicht Dellert damit online täglich gut 100 000 Menschen mehr als der »Stern« wöchentlich Magazine verkauft.

Wie eine Reporterin reist sie auch durchs Land, um Geschehnisse zu beobachten, Selbsterfahrungen zu machen und zu teilen, nur eben in eigenem Auftrag. Als sie zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt die AfD-Wahlplakate abfilmt und kritisch kommentiert, schreibt ihr eine Anhängerin: „Ich finde Deine Arbeit gut und wichtig. Aber warum zeigst du kein Wahlplakat der CDU oder FDP?“ Dellert antwortet: „Hey! Weil ich keine Journalistin bin und machen kann, was ich möchte.“ In Interviews spricht sie von „den Medien“, als sei sie kein Teil davon.

Sie reklamiert die Narrenfreiheit für sich, alles, was sie für wichtig hält, richtig zu finden. Passieren Fehler, werden auch die zu Content: Kaum empfiehlt sie eine Ferienwohnung von Airbnb weiter, wuchert deren Mietpreis in solche Höhen, dass sie tagelang damit zu tun hat, einerseits die Empfehlung zurückzunehmen, ohne andererseits dem Vermieter zu schaden. Lustig ist ihre Mitteilsamkeit auch: Einmal versucht sie sich vor laufender Kamera in einen Neopren-Anzug zu zwängen, scheitert dabei grandios – und postet genau das unerschrocken.

Wie Sophia Thiel hatte auch Katharina Weber in ihrer Abiturzeit angefangen, sich auf Instagram zu inszenieren; sie nannte sich dort seit 2012 „inabella_“. Die junge Frau aus Ditzingen bei Stuttgart war wie so viele ihrer Generation auf die Heidi-Klum-Show „Germany’s Next Topmodel“ abgefahren und hatte sich bei einer Agentur angemeldet. „Natürlich habe ich nie einen Auftrag bekommen, dafür war ich viel zu klein“, sagt sie. Auf Instagram aber interessieren ihre 1,58 Meter nicht. Hier kann sie mit ihrer Ästhetik punkten. „Ich hatte immer Spaß daran, Fotos zu inszenieren“, sagt Weber.

Als sie 2013 nach dem Abitur Florida und Australien bereist, bringt das zusätzlich „Reisecontent“. Binnen kurzer Zeit gewinnt sie 2000 Follower. Noch staunt sie bloß. Die erste „Kooperationsanfrage“ kommt formlos per E-Mail: Ob sie Lust habe, einen Tee zu präsentieren? Hat sie. Ihr Lohn ist der Tee.

Ihre Anhänger-Zahlen steigen, sie beginnt, Bestätigung darin zu suchen und tut sich mit einem Fotografen zusammen: Er bekommt ihre Zeit als Model, sie die Fotos. Als sie nach neun Monaten 8000 Follower erreicht hat, will sie die Zehn sehen. Die Werbeanfragen werden professionell. Es gibt jetzt Verträge und statt Naturalien Geld, 100 Euro bis 150 Euro für einen Post, den sie noch so gestalten kann, wie sie will. Uhren, Modeschmuck und mittelpreisige Kleidung werden ihre Schiene. Beim Friseur muss sie nichts mehr zahlen. Auf Reisen wird sie gesponsert. 2016 heuert sie einen Manager für Influencer-Marketing an. Er bekommt 15 Prozent ihrer Umsätze. 2000 bis 2500 Euro erwirtschaftet sie jetzt im Monat. Damit liegt sie knapp unter dem weltweiten Einkommensschnitt von Influencern mit mehr als 1000 Followern, die überhaupt Geld verdienen, wie eine aktuelle Studie zeigt (siehe Randspalte auf Seite 47). Aber es ist ziemlich viel für eine schwäbische Studentin in München, die jetzt immer in die angesagtesten Clubs der Stadt kommt.

Auf ihrem Profil wirkt ihr Leben federleicht, als wären immerzu Ferien. In Wahrheit hat sie einen durchgetakteten 12- bis 14-Stunden-Tag. Morgens 5.30 Uhr ins Fitnessstudio. Erste Aufnahmen, Bildbearbeitung. Ab in den Job, damals bei Payback. Danach wieder Aufnahmen, Bildbearbeitung, Hochladen. Dann zur Uni, studieren. Lernen. 19 Uhr Kommentare auf Instagram checken. Früh schlafen, weil: 5.30 Uhr Fitnessstudio.

Sie erstellt alle 14 Tage sonntags Zweiwochenpläne, um den richtigen Inhalt zur richtigen Zeit zu produzieren sowie hochzuladen, um so nicht nur ihren eigenen Ansprüchen zu genügen, sondern auch den Vorgaben der Hersteller. „Man erschafft ja eine Welt“, sagt sie, „die Farben müssen wiedererkennbar sein, die Filter stimmen.“

Am Ende werden die Briefings ihrer Vertragspartner bis zu elf Seiten lang sein. Jedes Detail ist darin nun vorgegeben, das Motiv, die Umgebung, die Stimmung, der Tag, die Uhrzeit fürs Hochladen, der Begleittext, die Hashtags, mit denen der Post versehen werden soll. Gleichzeitig fordern die Partner, ihren Account zu durchleuchten: welche Zielgruppen sie erreicht, wie sich Männer und Frauen darin verteilen, ob die Kommentare über Herzchen und Sonnen hinausgehen.

Webers einstige Freude an der Selbstinszenierung wird in ein Korsett gezwängt, ihr Spaß daran allmählich herausgepresst. Sie merkt, dass sie süchtig geworden ist nach der Anerkennung ihres digitalen Ichs. Und dass etwas aus dem Lot gerät. „Wenn ein Post mal nur 300 Likes bekam, war ich richtig enttäuscht. So richtig! Völlig übertrieben. Das hat mich so demotiviert, das Gefühl kannte ich nicht.“

Wie sie heute weiß, hatte sie eine Sucht nach Anerkennung und Belohnung entwickelt, die ungesund war. Sie nennt sich „ohnehin perfektionistisch“ und suchte – immer bei sich –, wo der Fehler gelegen haben könnte, etwa am Foto, das nicht gut ankam. Sie fand ihn nicht, weil es ihn nicht gab.

2018, am Traumstrand in Mexiko, zwischen Master-Stress und Schwimmen mit Delfinen, ist sie abgekämpft statt erholt. Ihren damaligen Freund ärgert ihre ständige Suche nach Foto-Motiven. Zurück in Deutschland geht die Beziehung in die Brüche. „Ich kann ihn im Nachhinein verstehen“, sagt sie. „Wenn da immer so ein Zwerg um dich rumspringt und ruft, ich brauche noch ein Foto, ich brauche noch ein Foto!“

Louisa Dellert hört in Gesprächen mit Journalisten oder Podcast-Moderatorinnen manchmal die Frage heraus, ob Influencerin „eigentlich ein richtiger Beruf“ sei, obwohl sie ihr nicht gestellt worden ist. „Einen Arzt oder Richter fragt man das doch auch nicht“, sagt sie dann gereizt. Ihren Followern berichtet sie in Abständen von einem heraufziehenden Burnout, um sogleich wieder gut gelaunt Abba-Karaoke in die Handykamera zu singen.

Übertreibt sie es wieder, so wie früher als Fitness-Influencerin? Dellert erzählt oft, dass sie damals krankhaft nach Anerkennung gesucht und sich damit so geschadet habe, dass es lebensbedrohlich geworden sei. Aber ist das jetzt so viel anders? Außer Sex und Stuhlgang gibt es scheinbar nichts, was sie nicht teilt, ob Liebeskummer, Dehnungsstreifen an den Oberschenkeln oder die Empörung darüber, dass der Ex-Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen für die CDU als Bundestagskandidat antritt. Ganz gleich, ob sie Plastik aus der Ostsee fischt, ein passendes Kleidchen zum Ausgehen raussucht oder ihre Menstruation „anklopft“ – alles wird gepostet.

Dellerts Story-Sequenzen wachsen an manchen Tagen auf bis zu bis 50 Stück an: 50 Kurzvideos zu 20 bis 30 Themen auf Instagram, dazu kommen die Fotos, ihre Podcasts und die Einladungen zu Podcasts anderer, Talkshows, Preisverleihungen, öffentliche Debatten, ein zweites Sachbuch („Wir – Weil nicht egal sein darf, was morgen ist“), Recherchereisen, Interviews, ihr Onlineshop für „umweltbewusste Produkte und Zero Waste“, eine Zeit lang auch die Suche nach einer neuen Liebe. Sie liefert Journalisten selbst den ihr passend erscheinenden Begriff für diese Daseinsform: Sie sei für die Menschen, die ihr folgten, „so etwas wie die digitale beste Freundin“ oder, besser noch, wie „eine digitale Schwester“. Weil man Schwestern auch mal doof finden, aber trotzdem gern haben kann. Dass sie womöglich etwas zu sehr diese Schwesterfreundin sein möchte, dass sie gefallen und gemocht werden will, sagt sie nicht. Sie verbucht die dauernde Übersteuerung als „eine Schwäche von mir, es immer allen recht machen zu wollen“.

Ergießen sich Hass und Häme in ihre Accounts, was zunehmend vorkommt in dieser gereizten Zeit, beschäftigt sie sich halbe Tage lang damit, über Texte, Bilder und Videos dagegenzuhalten. Sie lässt die Hater auch von Internetaktivisten anzeigen. Denn, sagt sie, all „diese Personen“, die sie beleidigten, beschimpften oder ihr etwas androhten, müssten das ja nicht: ihr folgen.

Im Frühsommer sieht man Dellert auf einem Instagram-Foto nackt in einem See stehend. Sie dreht den Kopf zur Kamera, bedeckt dabei ihren Busen, ihr Hintern über Wasser leuchtet in der Sonne, die durchs Geäst fällt. Zu diesem Foto schreibt sie (wie die Fehler erahnen lassen, offenbar ziemlich geladen):

„Kurzer reminder bevor gleich wieder jemand Nasenbluten bekommt:

Ich darf posten was ich möchte. Wenn ich entscheide nackt baden zu gehen und das mit der Öffentlichkeit und nicht nur mit den Leuten am See zu teilen, dann ist das okay!

Nackt zu sein ist keine Einladung, um mir zusagen, dass ihr das billig, nuttig oder gewagt findet. Nackt sein bedeutet auch nicht, dass ich meine Arbeit schlechter mache oder nix in der Birne habe.“

Der Akt bekommt allein bis Mitte Juli mehr als 52 700 Likes. Ein Foto zwei Tage zuvor, auf dem sie im Bikini auf einem Surfbrett sitzt und Müll in die Kamera hält, den sie aus dem Wasser gefischt hat, bekommt nur rund 7200. Vielleicht ist es so: Dellert macht sich auch nackig, um gesehen zu werden. Und sie hält aus, von welcher Art „Nachrichten“ sie nach solchen Postings heimgesucht wird: „geh dich begraben du nutte“, „Hackfresse“, „Ekelhafte dreckshure was du bist würdest deinen Vater wohl noch verkaufen.“

Im Mai 2020 beginnt die ehemalige Bodybuilderin Sophia Thiel eine Psychotherapie. Ein Jahr lang hat sie nichts mehr gepostet. Ein Jahr voller vergeblicher Versuche, sich selbst zu helfen, liegt hinter ihr. Coachings, Diäten, Sport, Meditation, Eisbaden, Atemtherapie – „ich habe alles ausprobiert, was es auszuprobieren gab, sogar Esoterisches“, sagt sie. Als sie sich neu verliebt, scheint ihre Essstörung eine Zeit lang wie weggeblasen zu sein, und sie denkt: „Das war’s also! Mir hat nur Liebe gefehlt!“ Dann merkt ihr neuer Freund, dass sie sich heimlich mit Teilchen und Süßigkeiten vollstopft. Und überzeugt sie, sich eine Psychologin zu suchen.

Sie fragt die Therapeutin als Erstes, wann sie wieder online gehen kann. Die bremst sie zunächst. Später antwortet sie ihr: Wenn sie eines Tages die Kamera anschalten könne, ohne sich davor schlecht zu fühlen und sich zu schämen, sei sie so weit.

Thiel will wieder werden, was sie war, ein deutscher Star. Nur, mit welchem Inhalt? Ihre erste Karriere von 2012 bis Anfang 2019 baute auf der Metamorphose von einer pummeligen, von den Jungs gehänselten Abiturientin hin zur beliebten, zierlichen, bis in jede Faser definierten Bodybuilderin auf. Sie trainierte mit Arnold Schwarzenegger in Kalifornien, trat bei der Abnehm-Show „Biggest Loser“ von Sat 1 auf, traf den Rapper 50 Cent, leitete bei einer Fitness-Messe in Köln vor 4000 Fans ein Workout an wie ein Popstar, hatte zum Schluss ein eigenes Magazin. Da ging es ihr längst schlecht.

Ihre 1,3 Millionen Abonnentinnen und Abonnenten auf Instagram heute, Stand Juli, verfolgen die neue, füllige und sichtlich glücklichere Thiel nun dabei, wie sie sich Kaffee kocht oder Hack brät oder am Münchener Marienplatz ein Büro bezieht. Da lässt sie sich um die Ecke erst mal hellblaue Gelnägel machen, wieder ein kleines Video für Instagram. Über Geld redet sie nicht, aber da in ihren neuen Youtube-Videos mittlerweile zwei Werbeblöcke geschaltet werden, scheint sie sich keine Sorgen machen zu müssen. Sie lässt sich filmen, wie sie mit dem Freund einen Notar zur Gründung einer Firma aufsucht oder im Fitnessstudio erstmals wieder ihre Arme entblößt, zu dramatischer Musik. Sie setze überall am Körper gleichmäßig Fett an, sagt Thiel. Anders als früher hat sie nun den Mut, das zu zeigen.

Ihren Therapie-Erfolg zum Content zu machen scheint ein genialer Kniff zu sein: Alle, die es mit der ersten, der „@pumping.sophia.thiel“ nicht geschafft hatten, fit, schlank und begehrt zu werden, können sie nun auch lieb haben: „Endlich ein paar menschliche Kurven, mit denen man sich identifizieren kann. Das tut uns gut. Wir sind keine perfekten Roboter. Jetzt vermittelst du uns keine nahezu unerreichbare Höchstleistung, sondern Vielfalt und Empathie. Dankeschön“, schreibt ihr eine Anhängerin auf Youtube im Juni 2021.

Damit es nicht zu ernst oder langweilig wird, denkt sich Thiel Aktionen aus wie die, sich selbst im Esszimmer zweite Ohrlöcher zu stechen. Im Filmchen dazu blinkt der Warnhinweis: „Nicht nachmachen!“ Die unfreiwillige Komik darin, das bei einer Influencerin zu lesen, entdecken vielleicht nur ältere Leute, die ihre Erlebniswelt noch nicht in die sozialen Medien verlagert haben. Denn vor ihrer zweiten Metamorphose von der ausgehungerten, unglücklichen jungen Frau hin zur saturierten, glücklichen war absolut alles auf Thiels Accounts darauf ausgerichtet, es ihr nachzumachen. Bis auf das, was man nicht sah.

Vor ihrem Zusammenbruch hatte Thiel ihr Essen gramm-genau abgewogen, es für Tage im Voraus gekocht und in Dosen überall mit hingenommen. Sie konnte nie in Restaurants gehen, aus Angst, ihre Bulimie zu verraten. Die nannte sie damals nur ihre „Essproblematik“.

Bodybuilder trainieren und hungern sich auf Wettkämpfe hin, das ist ihre „On-Season“, sagt Thiel. Die meiste Zeit des Jahres aber ist ihr Körper in der Off-Season, er ist weicher, weniger definiert, gesünder letztlich. „Als Influencerin dachte ich, ich kann mir keine Off-Season erlauben. Ich wollte das ganze Jahr on sein. Das konnte nicht gutgehen.“

Das Cover ihres im Mai 2021 erschienenen Selbsterfahrungsbuchs „Come back stronger“ zeigt sie nackt mit einem Bodypainting aus schwarzen Streifen, von dem man annahm, es stelle einen Barcode dar, bis sie auf Instagram mitteilte, es symbolisiere ein Labyrinth. Nur wenige Tage nach Verkaufsstart Mitte Mai ist das Buch auf Platz eins der »Spiegel«-Bestsellerliste für Paperback-Sachbücher. Das Magazin »Women’s Health« hebt sie im Juni auf den Titel, wenn auch reichlich bildbearbeitet. „Das hätte ich nie gedacht, da findet ein Umdenken statt“, sagt Sophia Thiel.

Sie weiß um die Zwickmühle, in der sie steckt: einerseits dem ungesunden Körperkult zu entsagen und andererseits erfolgreich Influencerin bleiben zu wollen. Videos, in denen sie sich nackt macht, ob seelisch oder körperlich, werden zum Teil mehr als drei Millionen Mal abgerufen. Videos dagegen, in denen sie die heilsame Wirkung von Psychotherapien erklärt, erreichen nur rund 70 000 ihrer Anhängerinnen und Anhänger. Thiel sieht es als eine Art Mischkalkulation: „Ich habe schon jetzt mehr Follower als 2019 und bekomme viel weniger Hate.“ 



Im Juni gibt Sophia Thiel bekannt, mit ihrem Freund eine Firma zum Erhalt der psychischen Gesundheit aufzuziehen. Sie spricht von einem „Start-up“ für „Mental Health“. Es gehe um Coachings, sagt sie, „die einer Therapie vorgelagert sein können“. Um Aufmerksamkeit zu erzielen, lässt sie zeitgleich Bilder von sich lancieren, auf denen sie nur von einer Decke verhüllt wird. Mit der Firma will Thiel vorsorgen, denn, so sagt sie: „Ich habe ein Ablaufdatum auf Social Media.“ Und eines mache sie bestimmt nicht: „Wenn ich irgendwann Kinder habe, die in die Kamera zu halten.“

Im Juni hat Katharina Weber neben ihrem Job im Qualitätsmanagement mit einer Geschäftspartnerin einen Onlineshop für Trocken-Floristik eröffnet: Wuestenblumen.de. Ihren Instagram-Account inabella_ hat sie vor gut zwei Jahren gelöscht. Sie sagt, das habe „sofort befreiend“ gewirkt. Dass sie beim Friseur wieder 200 Euro hinblättern musste, sei zwar gewöhnungsbedürftig, aber es wert gewesen. Manchmal klärt sie jetzt in Schulen darüber auf, wie die Suche nach Anerkennung auf Social Media krankhaft werden kann. Auf ihrem neuen Account inarella_ zeigt Weber unregelmäßig neue Bilder von sich und ihrem neuen Freund. Rund 2100 Menschen verfolgen das – so viele wie am Anfang ihrer Karriere.

Im Juni postet Louisa Dellert in ihrer Instagram-Story ein Bild von sich im Bett und dazu die Worte: „GuMooo! Ich hab so viel Scheiße geträumt. Da hilft nur ’ne etwas kalte Dusche jetzt.“ --

Anteil der Instagram-Influencerinnen und -Influencer weltweit mit mehr als 1000 Followern, die mit ihrem Konto Geld verdienen, in Prozent 49
Durchschnittliche Zeit, die sich diese Personen pro Woche mit ihrem Konto beschäftigen, in Stunden 29
Durchschnittliche Einnahmen dieser Personen pro Monat, in Dollar, insgesamt 2970
bei 1000 bis 10.000 Followern 1420
bei mehr als einer Million Followern 15.356

 

Anteil der Instagram-Influencerinnen und -Influencer weltweit, die angeben, von ihren Einnahmen leben zu können, in Prozent 4

Gespräche mit Influencerinnen, einem Philosophen und einem Tänzer. Geschichten über die Zukunft der Mode, über Cyborgs und Heimtrainer. Gedanken über das Verhältnis von Körper und Geist.

Ein Heft voller Schönheit, Kraft und Selbstoptimierung. 😉

Jetzt bei uns bestellen und bis zum 5. August innerhalb Deutschlands die Versandkosten sparen!