Editorial

Ehrliche Bilanz

• „Weitaus mehr als nur Zahlen“ war ein früherer Slogan von brand eins. Wir wollten uns damit von jenen Wirtschaftsmagazinen absetzen, die vor allem schauten, was unterm Strich steht. Denn auch ein Unternehmen mit satten Gewinnen kann eine üble Bude sein, ein anderes am Rande der Insolvenz eine Perle. Zahlen stehen für uns am Anfang einer Analyse, sie sagen wenig, wenn man sie nicht in Beziehung setzt. Wer einen Kassensturz macht, bekommt deshalb keine endgültige Antwort, wohl aber Hinweise, wie es weitergehen könnte.

Foto: André Hemstedt & Tine Reimer


Das gilt im Großen wie im Kleinen. Den ganz dicken Brocken hat sich Stephan Jansen vorgenommen, der tief in die Staatsfinanzen nach einem Jahr Pandemie eingetaucht ist. Dass Corona teuer war und wird, wussten wir schon. Dass nicht alles glattgelaufen ist, auch. Aber die Zahlen, beleuchtet und in Beziehung gesetzt, decken nicht nur Schwachstellen auf, sie zeigen vor allem, was künftig besser werden kann und muss (S. 32).

Bildung und Gesundheit sind zum Beispiel Themen, bei denen einiges zu tun sein wird. Zahlen helfen da zuweilen nur begrenzt weiter. Die Studie eines renommierten Instituts, das eurogenau ausrechnete, wie viel künftiges Einkommen Schülern durch die Pandemie verloren gehen wird, ist von nahezu bedrückender Zahlenhörigkeit. Den Schulen fehlt es weniger an Geld als an Ideen – wie sonst wäre zu erklären, dass die Milliarden für den schon vor Corona aufgelegten Digitalpakt Schule bislang zu gerade mal zwei Prozent abgerufen worden sind? Die Krankenhäuser, die zurzeit besonders gefordert werden, könnten diese Milliarden gut brauchen. Wichtiger aber wäre, dass sich die Politik grundsätzlich der Frage stellt, ob Gesundheit ein öffentliches oder privates Gut ist und wer dafür bezahlt (S. 54, 96).

Ein Kassensturz kann Probleme offenlegen, die Entscheidung, was daraus folgt, nimmt er einem nicht ab. So hätte die Catering-Firma Kirberg nach dem ersten Corona-Quartal gute Gründe gehabt, den zuvor erwirtschafteten Gewinn aufzuteilen und den Schlüssel umzudrehen. Und auch dem Sozialunternehmen Doing Circular hat die Pandemie erst einmal den schönen Plan verhagelt, mit ihren 3D-Druckern dem Plastikmüll-Problem beizukommen. Drei Bilanzen (davor, während und danach) zeigen, dass Zahlen eben nicht alles sind (S. 40, 46).

Es sei denn, sie sind so desaströs wie beim Praktiker-Baumarkt, der 2013 Insolvenz beantragt hatte. Andreas Molitor schrieb damals über den Niedergang, nun wollte er wissen, wie es den Mitarbeitern, den Märkten, der Branche danach ergangen ist. Erstaunlich gut, fand er heraus, selbst die Gläubiger bekamen mehr als ursprünglich gedacht. War es also gar nicht so schlimm? Und was ist überhaupt wirtschaftlich vernünftig? In Zeiten, in denen chronisch defizitäre Digital-Start-ups an der Börse mit Milliarden bewertet werden, kann man da leicht durcheinandergeraten. Thomas Ramge liefert mit seinem Stück über sogenannte Foie-gras-Firmen eine Orientierungshilfe: Wer Schulden mit einer guten Geschichte verbindet, hat gute Chancen, später an der Börse Kasse zu machen – bleibende Werte entstehen dadurch eher nicht (S. 72, 64).

So ist die ehrliche Bilanz eine gute Gelegenheit, Grundsätzliches zu bedenken – für das Land, die Firma und sich selbst. Und dabei ist gar nicht entscheidend, ob unterm Strich eine rote oder schwarze Zahl steht: „Es ist die Interpretation eines Geschehens“, sagt die Kulturwissenschaftlerin Eva Horn, „das die Katastrophe überhaupt erst herstellt (S. 58).“

Was die Zahlen sagen, bestimmen Sie. ---

Titelbild: Ausschnitt aus „Scheiss Plakat“ des Künstlers Wolfgang Philippi.

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