„Die Pandemie erteilt uns eine Lektion“

Katastrophen lehren uns, dass sich plötzlich alles ändern kann. Die Kulturwissenschaftlerin Eva Horn über die Chancen und Risiken großer Krisen.





Eva Horn, 55, ist Professorin für Germanistik an der Universität Wien. Ihr 2014 beim S. Fischer Verlag erschienenes Buch „Zukunft als Katastrophe“ gilt als Standardwerk. 2020 erhielt sie den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste Berlin.

brand eins: Frau Horn, wie sieht Ihre Zwischenbilanz nach gut einem Jahr Pandemie aus?

Eva Horn: Wir wissen vor allem immer deutlicher, dass wir nicht genug wissen. Zu Beginn der Pandemie hatte man ein Gefühl des Ausnahmezustands: Die Sicherheit der Routinen wurde unterbrochen. Inzwischen ist dieser Zustand selbst zu einer Art Routine geworden.

Die Politik muss permanent Entscheidungen unter Ungewissheit treffen. Wenn zu wenig gesichertes Wissen zur Verfügung steht, entsteht eine Kakofonie der Meinungen. Tausende echte oder selbst ernannte Experten machen konkurrierende Deutungsangebote, von seriösen Wissenschaftlern bis zu Verschwörungstheoretikern, die behaupten, Bill Gates sei an allem schuld.

Auch die Wissenschaftler sind sich über die richtigen Mittel der Pandemiebekämpfung nicht immer einig. Vieles, was eben noch als Stand der Wissenschaft galt, muss wenige Monate später korrigiert werden. Dass führt dazu, dass das Vertrauen in die Wissenschaft nachlässt.

Gehört es nicht zum Wesen der Forschung, Modelle immer wieder zu überprüfen und zu korrigieren?

Deshalb sind es oft die Wissenschaftler selbst, die darauf hinweisen, wie begrenzt ihre Erkenntnisse sind. Die Öffentlichkeit, die in der Pandemie Heilserwartungen an die Wissenschaft hat, missversteht das oft als Zeichen der Inkompetenz. Aber gerade die Reflexion ihrer Erkenntnisgrenzen zeichnet seriöse Wissenschaft aus. Unterschiedliche Positionen können zum Beispiel von den unterschiedlichen Perspektiven verschiedener Fachdisziplinen rühren.

In der Talkshow-Öffentlichkeit wird das stark personalisiert, als ginge es nur um persönliche Eitelkeiten oder einfach um Meinungen. Das dramatisiert die wissenschaftliche Kontroverse zum Schaukampf – statt zu verstehen, dass sich diese unterschiedlichen Perspektiven ergänzen, aber eben auch wirklich mal aus guten Gründen widersprechen, wenn es um ein so komplexes Geschehen wie eine Pandemie geht.

Wird eine Öffentlichkeit, die nicht versteht, wie Naturwissenschaftler arbeiten, zum politischen Problem?

Was wir gegenwärtig sehen, ist, dass die Politik sich von Stimmungslagen der Öffentlichkeit treiben lässt – vielleicht auch aus Angst davor, dass Populisten und Verschwörungstheoretiker die gereizte Stimmung für sich nutzen. Es ist ja nicht nur die Öffentlichkeit, die Wissenschaft nicht versteht, sondern es sind auch Politiker, die wissenschaftlichen Beraterinnen und Beratern nur dann zuhören, wenn es zu ihrer Linie passt.

Aber es hat auch etwas mit den Medien zu tun: »Fox News«, »Russia Today« oder die »Bild«-Zeitung arbeiten aktiv an der Konfusion der Öffentlichkeit mit, indem sie Wissenschaft verzerrt darstellen oder gezielt Verschwörungstheorien verbreiten.


Katastrophen und Pandemien schaffen chaotische Informationszustände. Es fehlen klar erkennbare Kausalitäten und allgemein akzeptierte Erklärungen. Das ist ein idealer Nährboden für Verschwörungstheorien.
Eva Horn

Weshalb entstehen derzeit solche Märchen?

Stellen Sie sich Eisenspäne auf einem Tisch vor. Wenn man einen Magneten auf den Tisch legt, ordnet sich das Chaos dieser Eisenspäne. Genau das machen Verschwörungstheorien: Sie bringen eine scheinbare Ordnung in eine unüberschaubare Situation. Große, disruptive Ereignisse wie Katastrophen und Pandemien schaffen chaotische Informationszustände. Es fehlen klar erkennbare Kausalitäten und allgemein akzeptierte Erklärungen. Das ist ein idealer Nährboden für Verschwörungstheorien. Der Klassiker sind die Erzählungen, die nach dem Terroranschlag am 11. September 2001 zirkulierten, zum Beispiel, dass es ein Inside-Job der US-Geheimdienste gewesen sei. Das setzte schon am Tag nach dem Anschlag ein.

Der 12. September 2001 ist die Geburtsstunde einer neuen Kultur der Verschwörungstheorien: Es sind nicht mehr irgendwelche irren Nerds, sondern gewöhnliche Leute, die der offiziellen Berichterstattung prinzipiell misstrauen und sich im Internet die passenden Elemente für ihre alternativen Erklärungsmuster suchen.

Verschwörungstheorien haben in den USA eine lange Tradition, von Spekulationen über die Hintergründe der Ermordung John F. Kennedys bis zur angeblich inszenierten Mond-Landung. Was ist das Neue?

Früher wurde das mit Flugblättern in Subkulturen verbreitet, heute in digitalen Massenmedien. 20 Jahre nach dem 11. September 2001 verbreitet ein sehr dichtes, breit gefächertes Netzwerk völlig ungefiltert seine „alternativen Wahrheiten“. Das ist eine Parallel-Öffentlichkeit mit Pseudo-Experten, einer Protest-Popkultur und lukrativen Geschäftsmodellen. Der Impuls, nicht alles zu glauben und selbst nach der Wahrheit zu suchen, ist eigentlich die Grundidee der Aufklärung. Aber dieser kritische Impuls wird bei den Verschwörungstheorien mit Ressentiments vergiftet und verrennt sich so heillos ins Irrationale.

Im historischen Vergleich fällt auf, dass die Spanische Grippe nach dem Ersten Weltkrieg mit 25 bis 50 Millionen Toten im kollektiven Gedächtnis keine großen Spuren hinterlassen hat. Diese Pandemie wurde offenbar nicht als Katastrophe wahrgenommen, obwohl sie mehr Menschenleben gekostet hat als der gesamte Erste Weltkrieg. Sind wir empfindlicher geworden?

Bei der gesellschaftlichen Verarbeitung von Katastrophen geht es immer um ihre Interpretation. Für die vom Ersten Weltkrieg geprägten Menschen waren die Toten und Verstümmelten, der Zusammenbruch der Wirtschaft und die Inflation die großen Katastrophen. Die schwere Grippewelle in dieser Situation passte nicht ins kognitive Schema. Und so wurde die Spanische Grippe hingenommen wie andere Krankheiten.


Es ist die Interpretation eines Geschehens, das die Katastrophe überhaupt erst herstellt.
Eva Horn

Warum schenken wir einer Infektionskrankheit heute so große Aufmerksamkeit?

Wir haben eine andere Vorstellung von Katastrophen. Und wir sind keine von einem Krieg schwer traumatisierte Gesellschaft. Damals wurde eine Erkrankung wie die Spanische Grippe vor allem als individuelles Problem gesehen. Heute verstehen wir Corona als Problem der gesamten Gesellschaft. Das Virus hat nicht nur eine Wirkung auf den menschlichen Körper, sondern auch auf Wirtschaft, Politik und das soziale Gefüge. Es ist die Interpretation eines Geschehens, das die Katastrophe überhaupt erst herstellt.

Sie schreiben in einem Ihrer Aufsätze, dass uns Corona eine „Lektion erteilt“, schmerzhaft, aber lehrreich. Welche ist das?

Zum Beispiel, dass wir alle, bis auf einige Wissenschaftler, die möglichen globalen Folgen einer unbekannten Infektionskrankheit aus China völlig unterschätzt haben. Wir sind nicht gut darin, kleine Alarmzeichen ernst zu nehmen, und lassen solche scheinbar marginalen Meldungen gern an uns abprallen, um den Status quo stabil zu halten. Wie fragil diese Sicherheit war, zeigt die Pandemie. Ähnliches gilt für die ökologische Überlastung des Planeten: Der Klimawandel, die Bodenerosion, das Artensterben oder die Folgen des Plastikmülls in den Meeren sind seit Jahrzehnten bestens erforscht. Im Gegensatz zur Pandemie ist das aber eine langsam voranschreitende und damit scheinbar ereignisarme Katastrophe. Ihre Folgen werden massiv sein, aber sie treten nicht so abrupt ein wie die Folgen einer Pandemie. Die Lehre daraus ist, dass wir einen hohen Preis zahlen, wenn wir die entsprechenden Warnungen der Wissenschaft ignorieren.

Aber wie will man sich auf den Ausbruch unbekannter Krankheiten vorbereiten?

Die Pandemie kam nicht überraschend. Experten der Weltgesundheitsorganisation rechnen seit vielen Jahren mit dem Ausbruch großer Epidemien und Pandemien. Eine Befürchtung war, dass sich zum Beispiel multiresistente Tuberkulose ausbreiten könnte. Das geschieht auch, aber langsamer als gedacht. Wenn sich das beschleunigt, werden wir uns wünschen, es gäbe nur Corona. Selbst in den reichen Ländern war die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht vorbereitet. Diese Ignoranz ist eigentlich atemberaubend.

Niemand kann im dauernden Alarmzustand leben.

Richtig, das sieht man ganz gut in einem Land wie Israel, wo man eigentlich jederzeit mit einem Terroranschlag rechnen musste. Aber jeder redet sich ein, dass ihm oder ihr schon nichts passieren wird. Wir haben gelernt, nicht jedes Risiko an uns heranzulassen. Das ist auf individueller Ebene sicher gesund. Aber Fragen der Ökologie oder der öffentlichen Gesundheitsversorgung sind politische Entscheidungen. Das ist etwas anderes als das individuelle Verdrängen von Risiken.

Es ist ein Paradox: Die realen Gefahren werden ignoriert und politisch völlig unzureichend bearbeitet. Auf der anderen Seite pflegen wir eine Art Katastrophenerwartung, die wir zum Beispiel im Genre der Endzeitfilme lustvoll auskosten.

Sind die Kinobilder der Apokalypse, der Zombie-Invasion, des drohenden Untergangs der Menschheit, Versuche, die gefährliche Gegenwart zu verarbeiten?

Es sind Versuche, anzuerkennen, dass wir tatsächlich auf massive Veränderungen unserer Lebensbedingungen zulaufen –, sich diese Einsicht aber gleichzeitig vom Leib zu halten. Im Kinosessel den Weltuntergang zu betrachten bedeutet, andere daran glauben zu lassen. Die ökologische Dauerkrise, die Finanzkrisen – das macht uns bewusst: Da kommt etwas auf uns zu. Wir wissen aber nicht genau, was es sein wird. Also gucken wir uns Katastrophenfilme an, die dieser diffusen Ahnung ein konkretes Szenario verleihen, und identifizieren uns mit Protagonisten, die dann am Schluss doch alle überleben.

Woher rührt das Vergnügen an solchen Fantasien?

Diese Weltvernichtungsfantasien, wie schon die Johannes-Apokalypse in der Bibel, sind in ihrem Ursprung ein Diskurs der Ohnmächtigen. Er besagt: Wartet es ab, irgendwann wird die herrschende Ordnung in einer großen Katastrophe kollabieren, dann sind wir erlöst.

Im Reggae heißt das, zwei Jahrtausende nach der Johannes-Apokalypse in der Bibel, „Babylon must fall“ – das Reich des weißen Mannes wird untergehen.

Das sind Fantasien der Verlierer, die sich aber als die Gerechten sehen. Lange war die Apokalypse auch eine geschichtsphilosophische Figur: Erst vom Ende der Geschichte her kann man sehen, was der Mensch wirklich gewesen sein wird. Interessant ist, dass die romantische Vorstellung des „letzten Menschen“ in jüngster Zeit in Endzeit-Fiktionen wieder auftaucht, etwa in Cormac McCarthys Roman „Die Straße“. Das sind Versuche, aus einer Zukunft des ökologischen Zusammenbruchs auf unsere Gegenwart zurückzuschauen.

Dient es nur dem kommerziellen Happy End, wenn das Blockbuster-Kino diese Endzeit-Fantasien mit einer Art Reinigung und Katharsis verbindet und die Menschheit am Ende doch noch gerettet wird?

Die Apokalypse-Fantasien beschwören im Hollywood-Kino eine Einheit der Mensch- heit. Das kann man sehr schön in den Filmen von Roland Emmerich sehen: Eine große Solidarität im Angesicht des drohenden Untergangs der Menschheit überwindet alle Gegensätze. Für dieses Pathos muss das Blockbuster-Kino globale, überall gleichzeitig stattfindende Katastrophen inszenieren. Das hat mit dem realen Geschehen nichts zu tun. Katastrophen verlaufen stark segmentiert, sozial und räumlich. Jede Krise hat ihre Gewinner und Verlierer. Die sozialen Gegensätze werden in Katastrophen eher größer als kleiner. Und es gibt das, was es immer gibt: nationale und individuelle Egoismen.

Immerhin nehmen wir große Einschränkungen in Kauf, um die Schwächsten, die Alten und Kranken, zu schützen. Das ist doch ein Akt der Solidarität.

Sehe ich nicht so. Wenn wir uns an die Corona-Regeln halten, dann schützen wir vor allem unser direktes soziales Umfeld und uns selbst. Das ist weniger altruistisch als vernünftig. Es geht auch nicht um den Schutz einzelner Gruppen, sondern um die Arbeitsfähigkeit der Gesundheitsinfrastruktur insgesamt. Das liegt im allgemeinen Interesse. Man sollte die Bekämpfung der Pandemie nicht romantisieren.

Was halten Sie von der verbreiteten Vorstellung, in Extremsituationen werde die Wahrheit über Menschen und Gesellschaften sichtbar?

Die Vorstellung, in der Katastrophe komme so etwas wie „das Reale“ hervor – was immer das auch sein mag –, ist sicher romantisch. Da kocht sich dann jeder sein Süppchen. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben versteht die Pandemie als Bestätigung seiner These, dass unter der dünnen Oberfläche von Demokratie immer der Ausnahmezustand lauert, mit einem autoritären Staat und entrechteten Menschen. Die Fantasien aktueller Verschwörungstheorien sehen in der Corona-Krise das Machwerk einer ominösen internationalen Elite, die das Virus absichtlich in die Welt gesetzt hat. Diese Leute, etwa die Anhänger des Verschwörungsmythos von Q-Anon, sehen die aktuelle Situation als einen Endkampf, in dem es um nicht weniger als die ultimative Konfrontation von Gut und Böse geht. Und sie sind natürlich die Guten.

Jeder sieht, was er sehen möchte. Erfährt man in der Pandemie überhaupt etwas, was man nicht schon wusste?

Ich glaube, dass die Vulnerabilität der Gesellschaft und jedes Einzelnen sichtbar wird, zum Beispiel die gegenseitigen Abhängigkeiten, etwa bei Lieferketten und Infrastruktur, aber auch die Fragilität oder Belastbarkeit von sozialen Beziehungen. Eine andere Lektion der Pandemie ist aber auch: Was man für unhinterfragbar gehalten hatte, wird plötzlich unterbrochen, von Hyperkonsum bis Massentourismus. Es muss nicht alles immer so weitergehen.

Nach der Pandemie wird nicht nur die Frage sein, wie die wirtschaftliche Erholung gelingt, sondern – hoffentlich! – auch, wie diese ökologisch gestaltet werden kann. Dann wäre der Neubeginn nach der Krise eine echte Chance. Das Ziel kann nicht sein, dass die Welt und die Wirtschaft nach der Krise so aussehen, wie vor der Krise. Aber wenn den Regierungen etwa in Deutschland und Österreich nichts Besseres einfällt, als Luftfahrtunternehmen mit Milliardensummen zu stützen, zeigt das, dass sie die Lage nicht verstanden haben. ---

Dieser Artikel ist aus der neuen brand eins:

Zahlen muss man in Beziehung setzen. Dann sprechen sie. Die neue brand eins zeigt, wie es nach dem Kassensturz weitergeht. Aufhören, weitermachen, umdenken, neu anfangen? Egal wie besch... die Bilanz ausfällt: Die Entscheidung, was daraus folgt, nimmt einem keiner ab.