Wie entsteht das Neue?

Innovation lebt von Wettbewerb. Monopole sind träge und bringen wenig Neues in die Welt. Das ist oft richtig – und manchmal falsch.





• Sind die großen Tech-Unternehmen eigentlich so innovativ, wie sie behaupten? Lange wurde das nicht hinterfragt. Zu offenkundig schien: Apple und Amazon, Google und Facebook, Netflix und Airbnb sind so erfolgreich, weil sie mit ihren Entwicklungen alte Märkte aufrollen oder neue Märkte schaffen.

Lina Khan, die neue Wettbewerbshüterin in Washington, hat die Frage etwas umformuliert: Kann es sein, dass der ungeheure Erfolg von Big Tech in den vergangenen Jahren weniger mit Innovationskraft zu tun hat als mit der Fähigkeit, Wettbewerb zu unterdrücken? Und wenn dem so ist, kann es dann sein, dass die Platzhirsche Innovationen sogar verhindern, indem sie Start-ups davon abhalten, das Neue in die Welt zu bringen?

Als junge Forscherin wurde Lina Khan 2017 zur führenden Kritikerin jener Firmen. Seit Juni leitet die heute 32-Jährige die mächtige US-Kartellbehörde Federal Trade Commission. Sie brachte eine alte wirtschaftswissenschaftliche Frage in die aktuelle Diskussion: In welcher Beziehung stehen Marktkonzentration und Innovation?

Khans kritische Fragen bereiten Managern und Aktionären Sorgen. Vor wenigen Jahren war der Schlachtruf „Break up Big Tech“, „Zerschlagt die Technologie-Riesen“, eine radikale Forderung linker Demokraten. Heute findet er auch überraschend viel Zustimmung bei Marktliberalen und Konservativen im US-Kongress. Dass die Macht von Big Tech gebrochen werden muss, gehört zu den wenigen Themen im polarisierten Amerika, bei denen sich Demokraten und Republikaner zumindest in der Zielrichtung einig sind. Weltweit hat diese Idee ohnehin viele Freunde.


 

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In Brüssel gibt es schon lange eine Allianz gegen die Konzerne, angeführt von Margrethe Vestager. Die dänische Liberale ist stellvertretende EU-Kommissionspräsidentin und Kommissarin für Digitales. Auch in China wird dem mächtigen autokratischen Regime die Marktmacht der Digitalplattformen zu groß – nicht die der amerikanischen, sondern die der chinesischen. Bisher sollten nationale Firmen für China den Weltmarkt erobern. Nun bekommen Unternehmen wie Alibaba und Tencent, Didi und Baidu überraschend viel wettbewerbsrechtlichen Druck aus dem chinesischen Wirtschaftsministerium.

„Das Silicon Valley war schon mal innovativer.“

Wer Justus Haucaps Aussagen in Gastkommentaren, sozialen Medien und seinem Podcast verfolgt, merkt schnell: Der Düsseldorfer Wettbewerbsökonom ist ebenfalls kein Fan der amerikanischen Tech-Giganten. Er fordert mehr Fusionskontrolle und weniger Laisser-faire. Ähnlich wie Lina Khan kritisiert er sogenannte Killer-Akquisitionen – die Konzerne kaufen oft innovative Start-ups zu überzogenen Preisen, um sich Wettbewerb früh vom Hals zu schaffen. Und auch Haucap hat den Eindruck: „Das Silicon Valley war schon mal innovativer.“ Google hat einst den Zugang zu Information revolutioniert. Aber welchen gesellschaftlichen Nutzen schafft zum Beispiel Instagram?

Der liberale Ökonom beschreibt die Innovationskraft des kalifornischen Turbokapitalismus als Kurve in Form eines umgedrehten U in einem Koordinatensystem. Die waagerechte Achse steht für den Wettbewerb, von hohem Konkurrenzdruck bis zum Monopol. Die senkrechte Achse steht für die Zahl der Innovationen. Die Stelle, an der die Kurve des umgedrehten U beginnt, beschreibt einen Markt mit vielen kleinen Anbietern, enormem Konkurrenzdruck und geringen Margen. Dann hat gewöhnlich kein Unternehmen das Geld, in großem Stil in Forschung und Entwicklung zu investieren. Entsprechend wenig Neuerungen entstehen.

Wo die Kurve sich wieder gegen null senkt, steht das Monopol, das keinen Anreiz hat, in neue, bessere Produkte zu investieren. Darüber hinaus sorgen Monopolisten dank ihrer finanziellen Ressourcen und politischen Verbindungen dafür, dass auch kein Konkurrent mit echten Neuerungen Fortschritt schafft – zum Beispiel indem sie fragwürdige rechtliche Zulassungshürden durchsetzen, die kleine Konkurrenten kaum überspringen können.

Viel Wettbewerb sei also nicht immer gut für den technischen Fortschritt, so Haucap, und wenig Wettbewerb könne, müsse ihn aber nicht verlangsamen. Für ihn laute die interessante Frage: „Wo ist der Scheitelpunkt maximaler Innovation?“ Eine genaue Antwort darauf gebe es jedoch nicht: „Sie fällt in jedem Markt anders aus und ist nicht statisch, sondern verändert sich permanent.“

Um zumindest eine Schätzung abgeben zu können, fragen Ökonomen: Wie viel kostet Innovation in einer Branche? Und wie groß ist die Chance, dass ein neues Produkt gelingt und sich durchsetzt? Bei hohen Kosten und hohem Risiko des Scheiterns, so Haucap, sei eine hohe Marktkonzentration für Innovation grundsätzlich förderlich. So wäre eine extrem kleinteilig zersplitterte Pharmabranche kaum in der Lage, neuartige Medikamente zu entwickeln, weil dies sehr aufwendig und teuer ist. Und gelingt einem David wie Moderna oder Biontech eine bedeutende Erfindung, schließt er sich in der Regel mit einem Goliath zusammen – oder er wächst so schnell, dass er selbst zu einem Unternehmen mit großer Marktmacht wird.

Die Konkurrenz mit Geld ersticken

Wie groß ist die Marktmacht von Google, Amazon, Apple & Co. überhaupt? Auf den ersten Blick zeigt sich: Die Konzerne kaufen viele Start-ups auf, und zwar oft aus strategischen Gründen. Big Tech zahlt viel mehr für eine Übernahme als die junge, innovative Firma selbst bei optimistischer Auslegung der Unternehmenskennzahlen wert ist. Zur Strategie gehört dann nicht nur, die Innovation zu vereinnahmen, sondern die Teams aus raren und teuren Talenten gleich mit. Dann können die Innovatoren nicht mehr für die Konkurrenz spielen. Das erinnert an Uli Hoeneß, der einst wichtige Spieler für Bayern München weggekauft hat, nur um sie dann auf die Bank zu setzen.

Beispiele für diese Strategie sind die Übernahmen von Whatsapp (2014) und Instagram (2012) durch Facebook. Auch Googles Schachzug, mit dem Zukauf von Youtube (2006) die Videowerbung im Netz zu beherrschen, ist Wettbewerbshütern bis heute ein Dorn im Auge. Amazon übernahm mehrere Firmen, die beim Cloud Computing führend waren. „Bei einigen dieser Übernahmen wäre die Rückabwicklung sicher wettbewerbsrechtlich zu rechtfertigen“, sagt Haucap. Doch zugleich sei erkennbar: „In wichtigen digitalen Geschäftsfeldern nimmt der Wettbewerb wieder deutlich zu.“ Die Tech-Konzerne müssten sich neuerdings Konkurrenten stellen.

Zwei Trends befeuern diesen neu entfachten Wettbewerb. Bis vor einigen Jahren konzentrierten sich die aufstrebenden Plattformen auf ihre jeweiligen Paradedisziplinen und ließen andere weitgehend in Ruhe. Google machte sein Geld mit Suche und Video. Facebook baute sein Imperium des sozialen Austauschs auf. Amazon verkaufte online Waren. Microsoft gelang mit Software und Spielen nach langer Schwächephase sein großes Comeback (siehe auch brand eins 01/2017: „Neustart“). Apple ging seinen Weg mit Premium-Hardware und teuren Apps und Inhalten für Privatkunden.

Doch dieser Burgfrieden wird von allen Beteiligten zunehmend aufgekündigt. Auf dem lukrativen Markt des Cloud Computing machen vor allem Amazon, Google und Microsoft einander seit Jahren heftig Konkurrenz. Sie werden dabei zunehmend auch von chinesischen Firmen herausgefordert. Microsoft fischt mit Macht und Geschick mit seinem sozialen Business-Netzwerk Linkedin (Übernahme 2016) in Facebook-Gewässern. Ein großer Teil der Produktsuchen läuft nicht mehr über Google, sondern über Amazon. Das nutzt das Versand-Unternehmen, um selbst mit Werbung Geld zu verdienen. Googles Suchmaschine „Shopping“ wiederum ist die perfekte Vorbereitung, um selbst in den Online-Handel einzusteigen oder Amazon anzugreifen.

Darüber hinaus entstehen gerade viele innovative und hochprofitable Unternehmen. Sie wachsen schnell und lassen sich nicht so einfach kaufen, sondern gehen lieber an die Börse. Sie jagen den Konzernen Marktanteile ab oder erobern neue Märkte, von denen die Big-Tech-Manager bisher dachten: Diese Anwendung decken wir mit unseren Plattformen bereits ab. Facebook bekommt es plötzlich mit Tiktok zu tun. Nutzer wandern scharenweise von Whatsapp zu datensparsameren Messenger-Diensten wie Signal oder Telegram ab. Nicht der Platzhirsch Paypal baut die Schnittstellen der digitalen Zahlungswelt, sondern Stripe. Shopify ermächtigt mit seiner E-Commerce-Plattform plötzlich Wettbewerber gegen Amazon. Nicht Google, sondern Twilio revolutioniert den Zugang zu Informationen in Unternehmen und wächst mit seinem kaum bekannten B2B-Geschäft ähnlich rasant wie Google, Facebook und Co., als sie selbst noch jung waren.

Das vielleicht eindrücklichste Beispiel für einen solchen neuen Konkurrenten ist Zoom. Die Big-Tech-Unternehmen hatten intensiv an ihren Video-Konferenzsystemen gearbeitet – Teams (Microsoft), Meet (Google), Chime (Amazon) und Facetime (Apple). In der Pandemie jedoch wurde Zoom der beliebteste Anbieter. Bis dato greift keiner der Aufsteiger die Etablierten frontal an. Aber verhindern können jene den Aufstieg der Neuen nicht. Und damit auch nicht die Innovation, die rasch wachsende Davids in den Markt tragen.

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In kleinen Schritten voran

Auch wenn die Tech-Konzerne Wettbewerb nicht vollständig unterdrücken können, sucht die Politik weltweit nach Möglichkeiten, um deren Marktdominanz weiter zu begrenzen. So will man künftige Fusionen verhindern. Einige große Übernahmen wie jene von Instagram könnten rückabgewickelt werden. Missbrauch von Marktmacht könnte so mit Bußgeldern belegt werden, dass selbst Konzerne sie nicht aus der Portokasse bezahlen können. Eine andere Lösung wäre, Wettbewerbern den Zugang zur eigentlichen Quelle der Monopolmacht zu öffnen – zu den Datenschätzen, die Big-Tech-Unternehmen auf ihren Servern horten.

Dietmar Harhoff, Direktor des Max-Planck-Instituts für Innovation und Wettbewerb, beobachtet die politische Diskussion um die Regulierung jener Konzerne seit Langem. Als ehemaliger Vorsitzender der Expertenkommission Forschung und Innovation der Bundesregierung (EFI) hat er sie jahrelang mitgeführt. Ihm zufolge kommt es weniger auf eine einzelne Erfindung an, die einen ganzen Markt verändert, sondern mehr auf viele kleine Neuerungen: „Wir glauben, dass nur radikale Innovationen bedeutend sind, etwa für Verbesserungen der Produktivität. Aber radikale Innovationen sind selten, und schrittweise erfolgte Änderungen führen über längere Zeiträume zu ähnlich großen Verbesserungen.“

Große Erfindungen erzeugen zwar viel Aufmerksamkeit – es wird diskutiert, wie stark sie Leben, Arbeit und Wertschöpfung beeinflussen. Echte Veränderungswucht entfalten Innovationen jedoch erst durch die mühsame, stetige Verbesserung und durch die Fähigkeit von Firmen, die Produkte so billig anzubieten, dass viele sie sich leisten könnten. Wenige Großrechner waren eine grandiose Innovation. Doch erst der PC veränderte die Arbeitswelt grundlegend.

Ob eine starke Marktkonzentration Neues verhindert oder fördert, hängt auch vom Stadium der Entwicklung ab: Für große Innovationen hilft oft zunächst ein Umfeld mit hohem Wettbewerb. Harhoff nennt die frühe Automobilindustrie mit vielen Herstellern als Beispiel. Je reifer eine Branche jedoch wird, desto stärker konsolidiert sich der Markt. Wenige Automobilkonzerne können Pkw dank Skaleneffekten viel besser und billiger produzieren als viele kleine Firmen. „Die Marktkonzentration ist oft auch ein Indikator für den Reifegrad der Technologie in der Branche“, sagt Harhoff.

Die Digitalkonzerne werden zwar immer größer und scheinbar auch mächtiger. Tatsächlich verbessern sie ihre Produkte jedoch nur noch schrittweise, erhöhen die Produktionszahl, sparen Kosten, werden profitabler – und wachsen langsamer. Ihre Monopolgewinne erscheinen je nach Perspektive beeindruckend oder unanständig und viel zu schwach besteuert. Doch es gelingt den Big-Tech-Firmen nicht, andere klein zu halten.

Unabhängig davon, ob es Lina Khan gelingt, Big Tech zu zerschlagen, ist eines sicher: Dieses Jahrzehnt wird ungemütlich für die Digitalkonzerne. ---

In der Diskussion über Big Tech wiederholt sich in vielerlei Hinsicht die Geschichte des Telekommunikationsunternehmens AT&T. Alexander Graham Bell hatte im Unterschied zu anderen Erfindern auch unternehmerische Fähigkeiten. Er verbesserte nicht nur das Telefon, sondern eroberte mit seiner American Telephone and Telegraph Company, kurz AT&T, ab Mitte der 1880er-Jahre den amerikanischen Telefonmarkt. Um 1910 hatte AT&T nahezu Monopolstatus erreicht. Es begann eine Dauerfehde mit den Wettbewerbshütern in Washington, in deren Zentrum die Frage stand: Schadet ein Monopolist den Kunden und der Volkswirtschaft, oder nützt er ihnen sogar?

Das wichtigste Argument der AT&T-Anwälte lautete: Nur ein Monopolist könne ein einheitliches, gut gepflegtes Netz unterhalten. Und wenn das Unternehmen moderate Preise verlange und zugleich dank vieler Kunden die finanziellen Mittel habe, einen guten Dienst anzubieten, sei doch allen gedient. Ein zersplitterter Markt mit einem unzuverlässigen Netz hätte dagegen Nachteile. Die Freunde des Wettbewerbs argumentierten im Gegenzug: Ein Unternehmen ohne Konkurrenz fehle jeder Anreiz, seinen Dienst zu verbessern. Es werde träge, missbrauche seine Marktmacht und bremse den technischen Fortschritt aus. Europas Antwort auf diesen Streit war später das staatliche Telefonmonopol. In Deutschland entstand die Deutsche Bundespost. Bei der spielte, freundlich formuliert, die Innovation eher eine untergeordnete Rolle. In den USA hingegen war der Monopolist AT&T wider alle Wettbewerbstheorie hochinnovativ.

AT&T investierte von Beginn an einen großen Teil seiner satten Gewinne aus dem Telefongeschäft in Forschung und Entwicklung, von 1925 an gebündelt unter dem Dach der legendären Bell Laboratories. Diese Ideenfabrik produzierte über Jahrzehnte nicht nur Nobel- und Turing-Preisträger am Fließband. Sie erzeugte auch einen wesentlichen Teil der technischen Grundlagen der digitalen Revolution, von Transistoren über Mikroprozessoren und Laser bis zu Glasfaserkabeln und Solarzellen. In den Bell Labs wurde auch die Kooperation kreativer Köpfe – mit offener und freier Zusammenarbeit, Fehlerkultur und Toleranz gegenüber Kollegen mit komplexer Persönlichkeitsstruktur – neu erfunden. Die ver- mutlich folgenreichste Entscheidung im Zusammenhang mit der Monopolstellung des Konzerns AT&T war aber juristischer Natur. Im Jahr 1956 kam es zwischen dem Konzern und den amerikanischen Wettbewerbsbehörden zu einem hoch-innovativen Kompromiss.

AT&T durfte zwar sein Telefonmonopol (vorerst) behalten. Die Patente aus den Bell Labs musste der Konzern aber künftig allen amerikanischen Unternehmen kostenlos zur Verfügung stellen. Das Wissen wurde so zu einem nationalen öffentlichen Gut, das nach dem Zweiten Weltkrieg den Aufstieg der USA zur Supermacht mit ermöglichte.

In seiner kleinen Weltgeschichte der Innovation „How We Got to Now“ nennt der US-amerikanische Wissenschaftsjournalist Steven Johnson die Bell Labs einen der „seltsamsten Hybride in der Geschichte des Kapitalismus“. Eine Gelddruckmaschine, die zugleich eine Ideenmaschine ist. Das Geld bleibt privat, die Ideen werden sozialisiert – zugunsten des technischen Fortschritts, der wiederum den gesellschaftlichen Wohlstand erhöht.

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